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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
nung ebenso vollständig wie der letzte Hardenbergische Entwurf. Das
Wesen deutscher Selbstverwaltung ward gänzlich verkannt; der Kreistag
sollte nur berathend und begutachtend, also völlig machtlos neben dem
allein handelnden Landrath stehen. Die Zusammensetzung der Kreisstände
aber war streng im Sinne Haller's gedacht. Nach dieser privatrechtlichen
Staats-Anschauung waren die obrigkeitlichen Befugnisse nicht um des
Staates willen verliehen und darum wandelbar je nach den Wandlungen
des öffentlichen Lebens, sondern sie galten als habende Freiheiten, als
wohlerworbene Rechte, welche wider den Willen ihres Besitzers nicht aufge-
hoben werden durften. Marwitz gab dieser Doctrin, die den Staat in
lauter Privateigenthumsverhältnisse auflöste, einen drastischen Ausdruck,
indem er die Liberalen beschuldigte, nach ihres Nächsten Gut zu begehren
und also die zehn Gebote zu verletzen. Darum sollte jetzt auch die alte
Kreisstandschaft der Ritterschaft ohne alle Beschränkung wieder aufleben.
Jeder Rittergutsbesitzer erhielt eine Virilstimme auf dem Kreistage, jede
Stadt des Kreises ebenfalls nur eine Stimme, während die gesammte
Bauerschaft sich mit drei Stimmen begnügen mußte; nur in den beiden
westlichen Provinzen wurde jedem Amte und jeder Sammtgemeinde eine
Stimme zugestanden, und auf den rheinischen Kreistagen sollten, wenn
die Zahl der Rittergutsbesitzer nicht ausreichte, auch einige gewählte Ab-
geordnete der übrigen Großgrundbesitzer erscheinen.

Also ward im Namen des historischen Rechts schweres Unrecht gegen
die Städter und die Bauern begangen und der Ritterschaft eine Macht-
stellung geschenkt, welche ihr vordem niemals zugestanden hatte. Denn
vor dem Jahre 1806 hatte sich die Kreisverwaltung der Landräthe und
ihrer adlichen Kreisconvente nur über die Rittergüter erstreckt; seitdem erst
waren die Städte -- bis auf einige der größten, welche besondere Stadtkreise
bildeten -- und die freien Bauerndörfer in den Kreisverband eingetreten,
und ihnen muthete jetzt der Gesetzgeber zu, sich auf den Kreistagen durch
die Ueberzahl der ritterschaftlichen Virilstimmen erdrücken zu lassen. Um das
Unrecht zu mildern gestattete man ihnen, in Theile zu gehen falls sie sich
in ihren Standesinteressen bedroht sähen -- eine gefährliche Befugniß,
die nur selten benutzt werden konnte. An der Spitze des Kreistags stand
der Landrath; er blieb Staatsbeamter und zugleich Vertreter des Kreises
als einer selbständigen Corporation, da er der kreiseingesessenen Ritter-
schaft -- im Rheinland mindestens den größeren Grundbesitzern des Kreises
-- angehören mußte und durch den König aus drei vorgeschlagenen Can-
didaten ernannt wurde. Das Vorschlagsrecht ward, nach der mißver-
standenen historischen Rechtsdoctrin, überall dort wo es vormals dem Adel
allein zugestanden hatte, also im größten Theile der alten Provinzen,
wieder ausschließlich der Ritterschaft zugewiesen; in den übrigen Provinzen
wählten die Kreistage.

Als diese Entwürfe an die Landtage gelangten, erhob sich sofort eine

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
nung ebenſo vollſtändig wie der letzte Hardenbergiſche Entwurf. Das
Weſen deutſcher Selbſtverwaltung ward gänzlich verkannt; der Kreistag
ſollte nur berathend und begutachtend, alſo völlig machtlos neben dem
allein handelnden Landrath ſtehen. Die Zuſammenſetzung der Kreisſtände
aber war ſtreng im Sinne Haller’s gedacht. Nach dieſer privatrechtlichen
Staats-Anſchauung waren die obrigkeitlichen Befugniſſe nicht um des
Staates willen verliehen und darum wandelbar je nach den Wandlungen
des öffentlichen Lebens, ſondern ſie galten als habende Freiheiten, als
wohlerworbene Rechte, welche wider den Willen ihres Beſitzers nicht aufge-
hoben werden durften. Marwitz gab dieſer Doctrin, die den Staat in
lauter Privateigenthumsverhältniſſe auflöſte, einen draſtiſchen Ausdruck,
indem er die Liberalen beſchuldigte, nach ihres Nächſten Gut zu begehren
und alſo die zehn Gebote zu verletzen. Darum ſollte jetzt auch die alte
Kreisſtandſchaft der Ritterſchaft ohne alle Beſchränkung wieder aufleben.
Jeder Rittergutsbeſitzer erhielt eine Virilſtimme auf dem Kreistage, jede
Stadt des Kreiſes ebenfalls nur eine Stimme, während die geſammte
Bauerſchaft ſich mit drei Stimmen begnügen mußte; nur in den beiden
weſtlichen Provinzen wurde jedem Amte und jeder Sammtgemeinde eine
Stimme zugeſtanden, und auf den rheiniſchen Kreistagen ſollten, wenn
die Zahl der Rittergutsbeſitzer nicht ausreichte, auch einige gewählte Ab-
geordnete der übrigen Großgrundbeſitzer erſcheinen.

Alſo ward im Namen des hiſtoriſchen Rechts ſchweres Unrecht gegen
die Städter und die Bauern begangen und der Ritterſchaft eine Macht-
ſtellung geſchenkt, welche ihr vordem niemals zugeſtanden hatte. Denn
vor dem Jahre 1806 hatte ſich die Kreisverwaltung der Landräthe und
ihrer adlichen Kreisconvente nur über die Rittergüter erſtreckt; ſeitdem erſt
waren die Städte — bis auf einige der größten, welche beſondere Stadtkreiſe
bildeten — und die freien Bauerndörfer in den Kreisverband eingetreten,
und ihnen muthete jetzt der Geſetzgeber zu, ſich auf den Kreistagen durch
die Ueberzahl der ritterſchaftlichen Virilſtimmen erdrücken zu laſſen. Um das
Unrecht zu mildern geſtattete man ihnen, in Theile zu gehen falls ſie ſich
in ihren Standesintereſſen bedroht ſähen — eine gefährliche Befugniß,
die nur ſelten benutzt werden konnte. An der Spitze des Kreistags ſtand
der Landrath; er blieb Staatsbeamter und zugleich Vertreter des Kreiſes
als einer ſelbſtändigen Corporation, da er der kreiseingeſeſſenen Ritter-
ſchaft — im Rheinland mindeſtens den größeren Grundbeſitzern des Kreiſes
— angehören mußte und durch den König aus drei vorgeſchlagenen Can-
didaten ernannt wurde. Das Vorſchlagsrecht ward, nach der mißver-
ſtandenen hiſtoriſchen Rechtsdoctrin, überall dort wo es vormals dem Adel
allein zugeſtanden hatte, alſo im größten Theile der alten Provinzen,
wieder ausſchließlich der Ritterſchaft zugewieſen; in den übrigen Provinzen
wählten die Kreistage.

Als dieſe Entwürfe an die Landtage gelangten, erhob ſich ſofort eine

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[372/0388] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. nung ebenſo vollſtändig wie der letzte Hardenbergiſche Entwurf. Das Weſen deutſcher Selbſtverwaltung ward gänzlich verkannt; der Kreistag ſollte nur berathend und begutachtend, alſo völlig machtlos neben dem allein handelnden Landrath ſtehen. Die Zuſammenſetzung der Kreisſtände aber war ſtreng im Sinne Haller’s gedacht. Nach dieſer privatrechtlichen Staats-Anſchauung waren die obrigkeitlichen Befugniſſe nicht um des Staates willen verliehen und darum wandelbar je nach den Wandlungen des öffentlichen Lebens, ſondern ſie galten als habende Freiheiten, als wohlerworbene Rechte, welche wider den Willen ihres Beſitzers nicht aufge- hoben werden durften. Marwitz gab dieſer Doctrin, die den Staat in lauter Privateigenthumsverhältniſſe auflöſte, einen draſtiſchen Ausdruck, indem er die Liberalen beſchuldigte, nach ihres Nächſten Gut zu begehren und alſo die zehn Gebote zu verletzen. Darum ſollte jetzt auch die alte Kreisſtandſchaft der Ritterſchaft ohne alle Beſchränkung wieder aufleben. Jeder Rittergutsbeſitzer erhielt eine Virilſtimme auf dem Kreistage, jede Stadt des Kreiſes ebenfalls nur eine Stimme, während die geſammte Bauerſchaft ſich mit drei Stimmen begnügen mußte; nur in den beiden weſtlichen Provinzen wurde jedem Amte und jeder Sammtgemeinde eine Stimme zugeſtanden, und auf den rheiniſchen Kreistagen ſollten, wenn die Zahl der Rittergutsbeſitzer nicht ausreichte, auch einige gewählte Ab- geordnete der übrigen Großgrundbeſitzer erſcheinen. Alſo ward im Namen des hiſtoriſchen Rechts ſchweres Unrecht gegen die Städter und die Bauern begangen und der Ritterſchaft eine Macht- ſtellung geſchenkt, welche ihr vordem niemals zugeſtanden hatte. Denn vor dem Jahre 1806 hatte ſich die Kreisverwaltung der Landräthe und ihrer adlichen Kreisconvente nur über die Rittergüter erſtreckt; ſeitdem erſt waren die Städte — bis auf einige der größten, welche beſondere Stadtkreiſe bildeten — und die freien Bauerndörfer in den Kreisverband eingetreten, und ihnen muthete jetzt der Geſetzgeber zu, ſich auf den Kreistagen durch die Ueberzahl der ritterſchaftlichen Virilſtimmen erdrücken zu laſſen. Um das Unrecht zu mildern geſtattete man ihnen, in Theile zu gehen falls ſie ſich in ihren Standesintereſſen bedroht ſähen — eine gefährliche Befugniß, die nur ſelten benutzt werden konnte. An der Spitze des Kreistags ſtand der Landrath; er blieb Staatsbeamter und zugleich Vertreter des Kreiſes als einer ſelbſtändigen Corporation, da er der kreiseingeſeſſenen Ritter- ſchaft — im Rheinland mindeſtens den größeren Grundbeſitzern des Kreiſes — angehören mußte und durch den König aus drei vorgeſchlagenen Can- didaten ernannt wurde. Das Vorſchlagsrecht ward, nach der mißver- ſtandenen hiſtoriſchen Rechtsdoctrin, überall dort wo es vormals dem Adel allein zugeſtanden hatte, alſo im größten Theile der alten Provinzen, wieder ausſchließlich der Ritterſchaft zugewieſen; in den übrigen Provinzen wählten die Kreistage. Als dieſe Entwürfe an die Landtage gelangten, erhob ſich ſofort eine

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/388>, abgerufen am 24.11.2024.