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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 1. Die Wiener Conferenzen.
der Vorschrift jenes Art. 7 der Bundesakte, der für alle Grundgesetze und
organischen Einrichtungen Einstimmigkeit verlangte, und der einzige Segen
der langen Berathung war eine unklare Erläuterung des unklaren Aus-
drucks "organische Einrichtungen"; er sollte bedeuten: "bleibende Anstalten
als Mittel zur Erfüllung der ausgesprochenen Bundeszwecke."

Ebenso kümmerlich war das Ergebniß der mühsamen Verhandlungen
über die sogenannte "permanente Instanz". Wie seltsam hatten doch die
Rollen gewechselt. Dies Preußen, das auf dem Wiener Congresse am
eifrigsten für ein stehendes Bundesgericht gestritten hatte, berief sich nun-
mehr ebenso nachdrücklich wie der alte Gegner des Bundesgerichts, Baiern,
auf den Wortlaut der Bundesakte und stellte den Antrag: da das Bun-
desrecht nur ein Austrägalverfahren kenne, so möge jede Stimme des
engeren Rathes einen namhaften Juristen zum Austrägalrichter er-
nennen; aus diesen siebzehn sollten darauf die streitenden Parteien in
jedem einzelnen Falle fünf Richter erwählen; dann sei doch einige Gewähr
für die Unparteilichkeit des Schiedsspruchs gegeben. Metternich hingegen,
der vor fünf Jahren das Bundesgericht bereitwillig dem Widerspruche
Baierns geopfert hatte, unterstützte jetzt insgeheim die norddeutschen
Kleinstaaten, die allesammt mit verdächtigem Eifer nach einem stehenden
Bundestribunale verlangten.

Alle Mitglieder der Conferenzen wußten, wo der Schlüssel zu diesem
Räthsel lag. Der ganze Streit galt in Wahrheit nicht dem Bundesge-
richte, sondern dem preußischen Zollgesetze, das wie eine drohende Wolke
über den kleinen Nachbarn hing. Weil die regelmäßige Rechtspflege nicht
zu den Befugnissen des Bundes gehörte, so sollte die geplante perma-
nente Instanz auch nicht, wie Humboldt noch vor fünf Jahren gehofft, an
die Stelle des alten Reichskammergerichts treten, sondern lediglich die
Streitigkeiten zwischen den Bundesstaaten entscheiden. Welch ein Glück
nun für Kurhessen, Nassau, Mecklenburg, Anhalt und die thüringischen
Staaten, wenn sie ihre zahllosen Beschwerden wider das preußische Zoll-
wesen vor ein stehendes Bundesgericht bringen konnten, das aus sechzehn
Nichtpreußen und einem Preußen bestehen sollte! So mochte vielleicht das
gefürchtete preußische Enclavensystem auf dem Wege des Civilprocesses
unblutig beseitigt werden. Nicht ohne Ironie erwiderte Küster: ein stän-
diges Bundestribunal mit so beschränktem Wirkungskreise "würde die
meiste Zeit vergebens sitzen und harren, vielleicht gar durch sein Dasein
eine Proceßsucht erwecken und nähren." Da Preußen und Baiern un-
erschütterlich blieben, so beruhigte man sich endlich "einstweilen" bei der
bestehenden Austrägalordnung von 1817, welche die Entscheidung der
Streitigkeiten dem obersten Gerichtshofe eines von beiden Parteien ge-
wählten Bundesstaates anheimgab. Bernstorff war mit seinem Erfolge
nur halb zufrieden; er wußte wohl, wie wenig sich ein gewöhnliches Ober-
landesgericht zur Beurtheilung schwieriger staatsrechtlicher Fragen eigne;

III. 1. Die Wiener Conferenzen.
der Vorſchrift jenes Art. 7 der Bundesakte, der für alle Grundgeſetze und
organiſchen Einrichtungen Einſtimmigkeit verlangte, und der einzige Segen
der langen Berathung war eine unklare Erläuterung des unklaren Aus-
drucks „organiſche Einrichtungen“; er ſollte bedeuten: „bleibende Anſtalten
als Mittel zur Erfüllung der ausgeſprochenen Bundeszwecke.“

Ebenſo kümmerlich war das Ergebniß der mühſamen Verhandlungen
über die ſogenannte „permanente Inſtanz“. Wie ſeltſam hatten doch die
Rollen gewechſelt. Dies Preußen, das auf dem Wiener Congreſſe am
eifrigſten für ein ſtehendes Bundesgericht geſtritten hatte, berief ſich nun-
mehr ebenſo nachdrücklich wie der alte Gegner des Bundesgerichts, Baiern,
auf den Wortlaut der Bundesakte und ſtellte den Antrag: da das Bun-
desrecht nur ein Austrägalverfahren kenne, ſo möge jede Stimme des
engeren Rathes einen namhaften Juriſten zum Austrägalrichter er-
nennen; aus dieſen ſiebzehn ſollten darauf die ſtreitenden Parteien in
jedem einzelnen Falle fünf Richter erwählen; dann ſei doch einige Gewähr
für die Unparteilichkeit des Schiedsſpruchs gegeben. Metternich hingegen,
der vor fünf Jahren das Bundesgericht bereitwillig dem Widerſpruche
Baierns geopfert hatte, unterſtützte jetzt insgeheim die norddeutſchen
Kleinſtaaten, die alleſammt mit verdächtigem Eifer nach einem ſtehenden
Bundestribunale verlangten.

Alle Mitglieder der Conferenzen wußten, wo der Schlüſſel zu dieſem
Räthſel lag. Der ganze Streit galt in Wahrheit nicht dem Bundesge-
richte, ſondern dem preußiſchen Zollgeſetze, das wie eine drohende Wolke
über den kleinen Nachbarn hing. Weil die regelmäßige Rechtspflege nicht
zu den Befugniſſen des Bundes gehörte, ſo ſollte die geplante perma-
nente Inſtanz auch nicht, wie Humboldt noch vor fünf Jahren gehofft, an
die Stelle des alten Reichskammergerichts treten, ſondern lediglich die
Streitigkeiten zwiſchen den Bundesſtaaten entſcheiden. Welch ein Glück
nun für Kurheſſen, Naſſau, Mecklenburg, Anhalt und die thüringiſchen
Staaten, wenn ſie ihre zahlloſen Beſchwerden wider das preußiſche Zoll-
weſen vor ein ſtehendes Bundesgericht bringen konnten, das aus ſechzehn
Nichtpreußen und einem Preußen beſtehen ſollte! So mochte vielleicht das
gefürchtete preußiſche Enclavenſyſtem auf dem Wege des Civilproceſſes
unblutig beſeitigt werden. Nicht ohne Ironie erwiderte Küſter: ein ſtän-
diges Bundestribunal mit ſo beſchränktem Wirkungskreiſe „würde die
meiſte Zeit vergebens ſitzen und harren, vielleicht gar durch ſein Daſein
eine Proceßſucht erwecken und nähren.“ Da Preußen und Baiern un-
erſchütterlich blieben, ſo beruhigte man ſich endlich „einſtweilen“ bei der
beſtehenden Austrägalordnung von 1817, welche die Entſcheidung der
Streitigkeiten dem oberſten Gerichtshofe eines von beiden Parteien ge-
wählten Bundesſtaates anheimgab. Bernſtorff war mit ſeinem Erfolge
nur halb zufrieden; er wußte wohl, wie wenig ſich ein gewöhnliches Ober-
landesgericht zur Beurtheilung ſchwieriger ſtaatsrechtlicher Fragen eigne;

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[16/0032] III. 1. Die Wiener Conferenzen. der Vorſchrift jenes Art. 7 der Bundesakte, der für alle Grundgeſetze und organiſchen Einrichtungen Einſtimmigkeit verlangte, und der einzige Segen der langen Berathung war eine unklare Erläuterung des unklaren Aus- drucks „organiſche Einrichtungen“; er ſollte bedeuten: „bleibende Anſtalten als Mittel zur Erfüllung der ausgeſprochenen Bundeszwecke.“ Ebenſo kümmerlich war das Ergebniß der mühſamen Verhandlungen über die ſogenannte „permanente Inſtanz“. Wie ſeltſam hatten doch die Rollen gewechſelt. Dies Preußen, das auf dem Wiener Congreſſe am eifrigſten für ein ſtehendes Bundesgericht geſtritten hatte, berief ſich nun- mehr ebenſo nachdrücklich wie der alte Gegner des Bundesgerichts, Baiern, auf den Wortlaut der Bundesakte und ſtellte den Antrag: da das Bun- desrecht nur ein Austrägalverfahren kenne, ſo möge jede Stimme des engeren Rathes einen namhaften Juriſten zum Austrägalrichter er- nennen; aus dieſen ſiebzehn ſollten darauf die ſtreitenden Parteien in jedem einzelnen Falle fünf Richter erwählen; dann ſei doch einige Gewähr für die Unparteilichkeit des Schiedsſpruchs gegeben. Metternich hingegen, der vor fünf Jahren das Bundesgericht bereitwillig dem Widerſpruche Baierns geopfert hatte, unterſtützte jetzt insgeheim die norddeutſchen Kleinſtaaten, die alleſammt mit verdächtigem Eifer nach einem ſtehenden Bundestribunale verlangten. Alle Mitglieder der Conferenzen wußten, wo der Schlüſſel zu dieſem Räthſel lag. Der ganze Streit galt in Wahrheit nicht dem Bundesge- richte, ſondern dem preußiſchen Zollgeſetze, das wie eine drohende Wolke über den kleinen Nachbarn hing. Weil die regelmäßige Rechtspflege nicht zu den Befugniſſen des Bundes gehörte, ſo ſollte die geplante perma- nente Inſtanz auch nicht, wie Humboldt noch vor fünf Jahren gehofft, an die Stelle des alten Reichskammergerichts treten, ſondern lediglich die Streitigkeiten zwiſchen den Bundesſtaaten entſcheiden. Welch ein Glück nun für Kurheſſen, Naſſau, Mecklenburg, Anhalt und die thüringiſchen Staaten, wenn ſie ihre zahlloſen Beſchwerden wider das preußiſche Zoll- weſen vor ein ſtehendes Bundesgericht bringen konnten, das aus ſechzehn Nichtpreußen und einem Preußen beſtehen ſollte! So mochte vielleicht das gefürchtete preußiſche Enclavenſyſtem auf dem Wege des Civilproceſſes unblutig beſeitigt werden. Nicht ohne Ironie erwiderte Küſter: ein ſtän- diges Bundestribunal mit ſo beſchränktem Wirkungskreiſe „würde die meiſte Zeit vergebens ſitzen und harren, vielleicht gar durch ſein Daſein eine Proceßſucht erwecken und nähren.“ Da Preußen und Baiern un- erſchütterlich blieben, ſo beruhigte man ſich endlich „einſtweilen“ bei der beſtehenden Austrägalordnung von 1817, welche die Entſcheidung der Streitigkeiten dem oberſten Gerichtshofe eines von beiden Parteien ge- wählten Bundesſtaates anheimgab. Bernſtorff war mit ſeinem Erfolge nur halb zufrieden; er wußte wohl, wie wenig ſich ein gewöhnliches Ober- landesgericht zur Beurtheilung ſchwieriger ſtaatsrechtlicher Fragen eigne;

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/32>, abgerufen am 21.11.2024.