Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

III. 5. Die Großmächte und die Trias.
leider nicht ist, sich durch einen Erlaß von sechs Zeilen von dieser fatalen
Verfassung hätte befreien können."*)

Mittlerweile kam dem Könige von Württemberg Einiges über die
Absichten der Großmächte zu Ohren; nach seiner Gewohnheit suchte er
Hilfe bei dem russischen Schwager und bat ihn um eine vertrauliche Zu-
sammenkunft. Schon mehrmals hatte er in den letzten Jahren das gleiche
Gesuch an den Czaren gerichtet, immer vergeblich. Diesmal ward es ge-
währt. In den Weihnachtstagen trafen sich die beiden Schwäger zu Mit-
tenwald im bairischen Gebirge, und König Wilhelm säumte nicht, durch
seinen Gesandten in München erzählen zu lassen, wie freundlich der Czar
ihn seines Schutzes versichert habe.**) In Wahrheit zeigte sich Alexander,
sobald das Gespräch auf die politische Lage kam, sehr streng und hielt
dem Könige vor, wie hochgefährlich es sei der großen Allianz den Rücken
zu kehren.***) Nachher sagte er zu Metternich: "ich habe diesen lieben
Schwager nicht geschont, aber dieser Mann ist gänzlich verdorben und von
den schlechtesten Grundsätzen durchdrungen."+) Verstimmt und mißtrauisch
trennten sich die beiden Verwandten.

Nicht ohne Grund wünschten die beiden Großmächte eine klare
Verständigung über die Bundespolitik; denn in den jüngsten drei Jahren
war am Bundestage eine Anarchie, die unmöglich dauern konnte, einge-
rissen. Jener Bund im Bunde, welchen das Manuscript aus Süddeutsch-
land gepredigt, schien sich zu verwirklichen, eine rührige Partei unter den
Bundesgesandten sammelte sich um das Banner der deutschen Trias.
Das sichere, instinctive Verständniß für die wirklichen Mächte des politi-
schen Lebens war unter den Deutschen von jeher seltener als unter den
Engländern oder den Italienern, und wie krankhaft hatte sich während
der letzten Jahrhunderte, unter der Herrschaft völlig verlogener Ver-
fassungen, dieser nationale Fehler der politischen Phantasterei ausgebildet.
Im heiligen Reiche wie im Deutschen Bunde war die Verfassung nicht die
rechtliche Form der bestehenden Machtverhältnisse, sondern zwischen dem
Rechte und der Macht klaffte ein so weiter Abgrund, daß nur sehr nüch-
terne Köpfe Schein und Wesen in der Staatskunst unterscheiden konnten
und selbst bedeutende Köpfe auf politische Schrullen verfielen, die in
jedem anderen Volke für kindisch gegolten hätten. Wie einst der geistreiche
Joh. Christian v. Boyneburg alles Ernstes glaubte, daß sein Kurfürst

*) Berichte von Zastrow, 31. Dec. 1822, 5. Jan. 1823, von Hatzfeldt 8. Januar,
von Blittersdorff, 15. Jan. 1823.
**) Zastrow an den König, 19. Jan., an Bernstorff, 9. Febr. 1823.
***) An dies Gespräch ließ Kaiser Alexander den König späterhin durch den Ge-
sandten v. Benckendorff, einen Ohrenzeugen der Mittenwalder Zusammenkunft, nachdrücklich
erinnern. (Nesselrode, Weisung an Benckendorff, Petersburg [Formel 1] Febr. 1823.)
+) Hatzfeldt's Bericht, 8. Jan. 1823.

III. 5. Die Großmächte und die Trias.
leider nicht iſt, ſich durch einen Erlaß von ſechs Zeilen von dieſer fatalen
Verfaſſung hätte befreien können.“*)

Mittlerweile kam dem Könige von Württemberg Einiges über die
Abſichten der Großmächte zu Ohren; nach ſeiner Gewohnheit ſuchte er
Hilfe bei dem ruſſiſchen Schwager und bat ihn um eine vertrauliche Zu-
ſammenkunft. Schon mehrmals hatte er in den letzten Jahren das gleiche
Geſuch an den Czaren gerichtet, immer vergeblich. Diesmal ward es ge-
währt. In den Weihnachtstagen trafen ſich die beiden Schwäger zu Mit-
tenwald im bairiſchen Gebirge, und König Wilhelm ſäumte nicht, durch
ſeinen Geſandten in München erzählen zu laſſen, wie freundlich der Czar
ihn ſeines Schutzes verſichert habe.**) In Wahrheit zeigte ſich Alexander,
ſobald das Geſpräch auf die politiſche Lage kam, ſehr ſtreng und hielt
dem Könige vor, wie hochgefährlich es ſei der großen Allianz den Rücken
zu kehren.***) Nachher ſagte er zu Metternich: „ich habe dieſen lieben
Schwager nicht geſchont, aber dieſer Mann iſt gänzlich verdorben und von
den ſchlechteſten Grundſätzen durchdrungen.“†) Verſtimmt und mißtrauiſch
trennten ſich die beiden Verwandten.

Nicht ohne Grund wünſchten die beiden Großmächte eine klare
Verſtändigung über die Bundespolitik; denn in den jüngſten drei Jahren
war am Bundestage eine Anarchie, die unmöglich dauern konnte, einge-
riſſen. Jener Bund im Bunde, welchen das Manuſcript aus Süddeutſch-
land gepredigt, ſchien ſich zu verwirklichen, eine rührige Partei unter den
Bundesgeſandten ſammelte ſich um das Banner der deutſchen Trias.
Das ſichere, inſtinctive Verſtändniß für die wirklichen Mächte des politi-
ſchen Lebens war unter den Deutſchen von jeher ſeltener als unter den
Engländern oder den Italienern, und wie krankhaft hatte ſich während
der letzten Jahrhunderte, unter der Herrſchaft völlig verlogener Ver-
faſſungen, dieſer nationale Fehler der politiſchen Phantaſterei ausgebildet.
Im heiligen Reiche wie im Deutſchen Bunde war die Verfaſſung nicht die
rechtliche Form der beſtehenden Machtverhältniſſe, ſondern zwiſchen dem
Rechte und der Macht klaffte ein ſo weiter Abgrund, daß nur ſehr nüch-
terne Köpfe Schein und Weſen in der Staatskunſt unterſcheiden konnten
und ſelbſt bedeutende Köpfe auf politiſche Schrullen verfielen, die in
jedem anderen Volke für kindiſch gegolten hätten. Wie einſt der geiſtreiche
Joh. Chriſtian v. Boyneburg alles Ernſtes glaubte, daß ſein Kurfürſt

*) Berichte von Zaſtrow, 31. Dec. 1822, 5. Jan. 1823, von Hatzfeldt 8. Januar,
von Blittersdorff, 15. Jan. 1823.
**) Zaſtrow an den König, 19. Jan., an Bernſtorff, 9. Febr. 1823.
***) An dies Geſpräch ließ Kaiſer Alexander den König ſpäterhin durch den Ge-
ſandten v. Benckendorff, einen Ohrenzeugen der Mittenwalder Zuſammenkunft, nachdrücklich
erinnern. (Neſſelrode, Weiſung an Benckendorff, Petersburg [Formel 1] Febr. 1823.)
†) Hatzfeldt’s Bericht, 8. Jan. 1823.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0300" n="284"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> 5. Die Großmächte und die Trias.</fw><lb/>
leider nicht i&#x017F;t, &#x017F;ich durch einen Erlaß von &#x017F;echs Zeilen von die&#x017F;er fatalen<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ung hätte befreien können.&#x201C;<note place="foot" n="*)">Berichte von Za&#x017F;trow, 31. Dec. 1822, 5. Jan. 1823, von Hatzfeldt 8. Januar,<lb/>
von Blittersdorff, 15. Jan. 1823.</note></p><lb/>
          <p>Mittlerweile kam dem Könige von Württemberg Einiges über die<lb/>
Ab&#x017F;ichten der Großmächte zu Ohren; nach &#x017F;einer Gewohnheit &#x017F;uchte er<lb/>
Hilfe bei dem ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Schwager und bat ihn um eine vertrauliche Zu-<lb/>
&#x017F;ammenkunft. Schon mehrmals hatte er in den letzten Jahren das gleiche<lb/>
Ge&#x017F;uch an den Czaren gerichtet, immer vergeblich. Diesmal ward es ge-<lb/>
währt. In den Weihnachtstagen trafen &#x017F;ich die beiden Schwäger zu Mit-<lb/>
tenwald im bairi&#x017F;chen Gebirge, und König Wilhelm &#x017F;äumte nicht, durch<lb/>
&#x017F;einen Ge&#x017F;andten in München erzählen zu la&#x017F;&#x017F;en, wie freundlich der Czar<lb/>
ihn &#x017F;eines Schutzes ver&#x017F;ichert habe.<note place="foot" n="**)">Za&#x017F;trow an den König, 19. Jan., an Bern&#x017F;torff, 9. Febr. 1823.</note> In Wahrheit zeigte &#x017F;ich Alexander,<lb/>
&#x017F;obald das Ge&#x017F;präch auf die politi&#x017F;che Lage kam, &#x017F;ehr &#x017F;treng und hielt<lb/>
dem Könige vor, wie hochgefährlich es &#x017F;ei der großen Allianz den Rücken<lb/>
zu kehren.<note place="foot" n="***)">An dies Ge&#x017F;präch ließ Kai&#x017F;er Alexander den König &#x017F;päterhin durch den Ge-<lb/>
&#x017F;andten v. Benckendorff, einen Ohrenzeugen der Mittenwalder Zu&#x017F;ammenkunft, nachdrücklich<lb/>
erinnern. (Ne&#x017F;&#x017F;elrode, Wei&#x017F;ung an Benckendorff, Petersburg <formula/> Febr. 1823.)</note> Nachher &#x017F;agte er zu Metternich: &#x201E;ich habe die&#x017F;en lieben<lb/>
Schwager nicht ge&#x017F;chont, aber die&#x017F;er Mann i&#x017F;t gänzlich verdorben und von<lb/>
den &#x017F;chlechte&#x017F;ten Grund&#x017F;ätzen durchdrungen.&#x201C;<note place="foot" n="&#x2020;)">Hatzfeldt&#x2019;s Bericht, 8. Jan. 1823.</note> Ver&#x017F;timmt und mißtraui&#x017F;ch<lb/>
trennten &#x017F;ich die beiden Verwandten.</p><lb/>
          <p>Nicht ohne Grund wün&#x017F;chten die beiden Großmächte eine klare<lb/>
Ver&#x017F;tändigung über die Bundespolitik; denn in den jüng&#x017F;ten drei Jahren<lb/>
war am Bundestage eine Anarchie, die unmöglich dauern konnte, einge-<lb/>
ri&#x017F;&#x017F;en. Jener Bund im Bunde, welchen das Manu&#x017F;cript aus Süddeut&#x017F;ch-<lb/>
land gepredigt, &#x017F;chien &#x017F;ich zu verwirklichen, eine rührige Partei unter den<lb/>
Bundesge&#x017F;andten &#x017F;ammelte &#x017F;ich um das Banner der deut&#x017F;chen Trias.<lb/>
Das &#x017F;ichere, in&#x017F;tinctive Ver&#x017F;tändniß für die wirklichen Mächte des politi-<lb/>
&#x017F;chen Lebens war unter den Deut&#x017F;chen von jeher &#x017F;eltener als unter den<lb/>
Engländern oder den Italienern, und wie krankhaft hatte &#x017F;ich während<lb/>
der letzten Jahrhunderte, unter der Herr&#x017F;chaft völlig verlogener Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ungen, die&#x017F;er nationale Fehler der politi&#x017F;chen Phanta&#x017F;terei ausgebildet.<lb/>
Im heiligen Reiche wie im Deut&#x017F;chen Bunde war die Verfa&#x017F;&#x017F;ung nicht die<lb/>
rechtliche Form der be&#x017F;tehenden Machtverhältni&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;ondern zwi&#x017F;chen dem<lb/>
Rechte und der Macht klaffte ein &#x017F;o weiter Abgrund, daß nur &#x017F;ehr nüch-<lb/>
terne Köpfe Schein und We&#x017F;en in der Staatskun&#x017F;t unter&#x017F;cheiden konnten<lb/>
und &#x017F;elb&#x017F;t bedeutende Köpfe auf politi&#x017F;che Schrullen verfielen, die in<lb/>
jedem anderen Volke für kindi&#x017F;ch gegolten hätten. Wie ein&#x017F;t der gei&#x017F;treiche<lb/>
Joh. Chri&#x017F;tian v. Boyneburg alles Ern&#x017F;tes glaubte, daß &#x017F;ein Kurfür&#x017F;t<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[284/0300] III. 5. Die Großmächte und die Trias. leider nicht iſt, ſich durch einen Erlaß von ſechs Zeilen von dieſer fatalen Verfaſſung hätte befreien können.“ *) Mittlerweile kam dem Könige von Württemberg Einiges über die Abſichten der Großmächte zu Ohren; nach ſeiner Gewohnheit ſuchte er Hilfe bei dem ruſſiſchen Schwager und bat ihn um eine vertrauliche Zu- ſammenkunft. Schon mehrmals hatte er in den letzten Jahren das gleiche Geſuch an den Czaren gerichtet, immer vergeblich. Diesmal ward es ge- währt. In den Weihnachtstagen trafen ſich die beiden Schwäger zu Mit- tenwald im bairiſchen Gebirge, und König Wilhelm ſäumte nicht, durch ſeinen Geſandten in München erzählen zu laſſen, wie freundlich der Czar ihn ſeines Schutzes verſichert habe. **) In Wahrheit zeigte ſich Alexander, ſobald das Geſpräch auf die politiſche Lage kam, ſehr ſtreng und hielt dem Könige vor, wie hochgefährlich es ſei der großen Allianz den Rücken zu kehren. ***) Nachher ſagte er zu Metternich: „ich habe dieſen lieben Schwager nicht geſchont, aber dieſer Mann iſt gänzlich verdorben und von den ſchlechteſten Grundſätzen durchdrungen.“ †) Verſtimmt und mißtrauiſch trennten ſich die beiden Verwandten. Nicht ohne Grund wünſchten die beiden Großmächte eine klare Verſtändigung über die Bundespolitik; denn in den jüngſten drei Jahren war am Bundestage eine Anarchie, die unmöglich dauern konnte, einge- riſſen. Jener Bund im Bunde, welchen das Manuſcript aus Süddeutſch- land gepredigt, ſchien ſich zu verwirklichen, eine rührige Partei unter den Bundesgeſandten ſammelte ſich um das Banner der deutſchen Trias. Das ſichere, inſtinctive Verſtändniß für die wirklichen Mächte des politi- ſchen Lebens war unter den Deutſchen von jeher ſeltener als unter den Engländern oder den Italienern, und wie krankhaft hatte ſich während der letzten Jahrhunderte, unter der Herrſchaft völlig verlogener Ver- faſſungen, dieſer nationale Fehler der politiſchen Phantaſterei ausgebildet. Im heiligen Reiche wie im Deutſchen Bunde war die Verfaſſung nicht die rechtliche Form der beſtehenden Machtverhältniſſe, ſondern zwiſchen dem Rechte und der Macht klaffte ein ſo weiter Abgrund, daß nur ſehr nüch- terne Köpfe Schein und Weſen in der Staatskunſt unterſcheiden konnten und ſelbſt bedeutende Köpfe auf politiſche Schrullen verfielen, die in jedem anderen Volke für kindiſch gegolten hätten. Wie einſt der geiſtreiche Joh. Chriſtian v. Boyneburg alles Ernſtes glaubte, daß ſein Kurfürſt *) Berichte von Zaſtrow, 31. Dec. 1822, 5. Jan. 1823, von Hatzfeldt 8. Januar, von Blittersdorff, 15. Jan. 1823. **) Zaſtrow an den König, 19. Jan., an Bernſtorff, 9. Febr. 1823. ***) An dies Geſpräch ließ Kaiſer Alexander den König ſpäterhin durch den Ge- ſandten v. Benckendorff, einen Ohrenzeugen der Mittenwalder Zuſammenkunft, nachdrücklich erinnern. (Neſſelrode, Weiſung an Benckendorff, Petersburg [FORMEL] Febr. 1823.) †) Hatzfeldt’s Bericht, 8. Jan. 1823.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/300
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/300>, abgerufen am 25.11.2024.