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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Entzückt lauschte die liberale Welt, wenn der schöne Mann mit den be-
geisterten, leuchtenden Augen und der breiten kahlen Stirn eine seiner
schwungvollen, gedankenreichen Reden hielt und die scharfsinnige Erörte-
rung des englischen Handelsvortheils immer zur rechten Zeit durch einen
wohlberechneten Ausfall auf die verhaßte heilige Allianz oder durch einen
feierlichen Anruf der Selbständigkeit der Nationen oder durch ein Freiheit
athmendes classisches Citat unterbrach. Da zudem die Verehrung für das
freie England noch von den napoleonischen Zeiten her nachwirkte, so ge-
schah das Seltsame, daß dieser aristokratische eingefleischte Insulaner bald
für einen Helden des weltbürgerlichen Liberalismus galt und dies Insel-
volk, das unter allen Nationen der Welt die stärkste nationale Selbst-
sucht besitzt, als der hochherzige Vertheidiger der allgemeinen Völkerfreiheit
gepriesen wurde. Für Metternich ward Canning ein furchtbarer Feind.
Mit den Ideologen der Revolution wußte die Hofburg schon fertig zu
werden; dieser Mann aber, der Feuer und Kälte, Schwung und Nüch-
ternheit so wunderbar vereinigte, der, gestützt auf die wirthschaftliche Kraft
der größten Geldmacht der Erde, die kühlen Berechnungen seiner Handels-
politik mit dem gewaltigen Pathos volksthümlicher Beredsamkeit vertheidigte
und die öffentliche Meinung Europas in den Dienst der englischen See-
herrschaft zog, er blieb den Wiener Staatslenkern ein Räthsel. Nur
wenige Wochen stand er am Ruder, da ward er schon von den Diplomaten
Oesterreichs mit einer Fluth von Verleumdungen überschüttet, welche die
geheime Besorgniß deutlich verriethen. --

So standen die Dinge, als Kaiser Alexander und die Staatsmänner
der großen Mächte im September sich in Wien zu vertraulichen Vor-
besprechungen einfanden. Zur Beruhigung Aller zeigte der Czar eine
"europäische Gesinnung", welche an die Laibacher Tage gemahnte. Er
nahm keinen Anstand, den Preußen reumüthig zu gestehen, daß er einst
von den Plänen der Neuerer das Wohl der Menschheit erhofft und auch in
der griechischen Sache mehrfach geirrt habe. Jetzt aber seien die Neuerer
entlarvt, jetzt gelte es nur noch die Revolution zu bewältigen und Europa
endlich zu beruhigen. Mit seiner ganzen Nation habe er kämpfen müssen,
doch der Untergang der großen Allianz bleibe das größte aller Uebel,
und daneben dürften Privatinteressen nicht in Betracht kommen. So ganz
verwandelt erschien jetzt der Fürst, der einst der Welt die Lehren des
christlichen Liberalismus verkündigt; selbst die Schlagworte Metternich's,
der jede gesunde nationale Staatskunst als persönlichen Eigennutz zu
brandmarken pflegte, hatte er sich bereits angeeignet. Nur die fromme
Salbung früherer Tage war ihm noch geblieben. "Die Politik, sagte
er zu Hatzfeldt, ist nicht mehr was sie einst war. Sie ruht nicht mehr
auf der Selbstsucht, die Grundsätze unseres wahrhaft heiligen Bundes
sind rein wie er selbst; nur wenige Menschen verstehen diese Staatskunst
schon ganz." So war man denn allerseits einig, die griechische Frage

III. 5. Die Großmächte und die Trias.
Entzückt lauſchte die liberale Welt, wenn der ſchöne Mann mit den be-
geiſterten, leuchtenden Augen und der breiten kahlen Stirn eine ſeiner
ſchwungvollen, gedankenreichen Reden hielt und die ſcharfſinnige Erörte-
rung des engliſchen Handelsvortheils immer zur rechten Zeit durch einen
wohlberechneten Ausfall auf die verhaßte heilige Allianz oder durch einen
feierlichen Anruf der Selbſtändigkeit der Nationen oder durch ein Freiheit
athmendes claſſiſches Citat unterbrach. Da zudem die Verehrung für das
freie England noch von den napoleoniſchen Zeiten her nachwirkte, ſo ge-
ſchah das Seltſame, daß dieſer ariſtokratiſche eingefleiſchte Inſulaner bald
für einen Helden des weltbürgerlichen Liberalismus galt und dies Inſel-
volk, das unter allen Nationen der Welt die ſtärkſte nationale Selbſt-
ſucht beſitzt, als der hochherzige Vertheidiger der allgemeinen Völkerfreiheit
geprieſen wurde. Für Metternich ward Canning ein furchtbarer Feind.
Mit den Ideologen der Revolution wußte die Hofburg ſchon fertig zu
werden; dieſer Mann aber, der Feuer und Kälte, Schwung und Nüch-
ternheit ſo wunderbar vereinigte, der, geſtützt auf die wirthſchaftliche Kraft
der größten Geldmacht der Erde, die kühlen Berechnungen ſeiner Handels-
politik mit dem gewaltigen Pathos volksthümlicher Beredſamkeit vertheidigte
und die öffentliche Meinung Europas in den Dienſt der engliſchen See-
herrſchaft zog, er blieb den Wiener Staatslenkern ein Räthſel. Nur
wenige Wochen ſtand er am Ruder, da ward er ſchon von den Diplomaten
Oeſterreichs mit einer Fluth von Verleumdungen überſchüttet, welche die
geheime Beſorgniß deutlich verriethen. —

So ſtanden die Dinge, als Kaiſer Alexander und die Staatsmänner
der großen Mächte im September ſich in Wien zu vertraulichen Vor-
beſprechungen einfanden. Zur Beruhigung Aller zeigte der Czar eine
„europäiſche Geſinnung“, welche an die Laibacher Tage gemahnte. Er
nahm keinen Anſtand, den Preußen reumüthig zu geſtehen, daß er einſt
von den Plänen der Neuerer das Wohl der Menſchheit erhofft und auch in
der griechiſchen Sache mehrfach geirrt habe. Jetzt aber ſeien die Neuerer
entlarvt, jetzt gelte es nur noch die Revolution zu bewältigen und Europa
endlich zu beruhigen. Mit ſeiner ganzen Nation habe er kämpfen müſſen,
doch der Untergang der großen Allianz bleibe das größte aller Uebel,
und daneben dürften Privatintereſſen nicht in Betracht kommen. So ganz
verwandelt erſchien jetzt der Fürſt, der einſt der Welt die Lehren des
chriſtlichen Liberalismus verkündigt; ſelbſt die Schlagworte Metternich’s,
der jede geſunde nationale Staatskunſt als perſönlichen Eigennutz zu
brandmarken pflegte, hatte er ſich bereits angeeignet. Nur die fromme
Salbung früherer Tage war ihm noch geblieben. „Die Politik, ſagte
er zu Hatzfeldt, iſt nicht mehr was ſie einſt war. Sie ruht nicht mehr
auf der Selbſtſucht, die Grundſätze unſeres wahrhaft heiligen Bundes
ſind rein wie er ſelbſt; nur wenige Menſchen verſtehen dieſe Staatskunſt
ſchon ganz.“ So war man denn allerſeits einig, die griechiſche Frage

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[266/0282] III. 5. Die Großmächte und die Trias. Entzückt lauſchte die liberale Welt, wenn der ſchöne Mann mit den be- geiſterten, leuchtenden Augen und der breiten kahlen Stirn eine ſeiner ſchwungvollen, gedankenreichen Reden hielt und die ſcharfſinnige Erörte- rung des engliſchen Handelsvortheils immer zur rechten Zeit durch einen wohlberechneten Ausfall auf die verhaßte heilige Allianz oder durch einen feierlichen Anruf der Selbſtändigkeit der Nationen oder durch ein Freiheit athmendes claſſiſches Citat unterbrach. Da zudem die Verehrung für das freie England noch von den napoleoniſchen Zeiten her nachwirkte, ſo ge- ſchah das Seltſame, daß dieſer ariſtokratiſche eingefleiſchte Inſulaner bald für einen Helden des weltbürgerlichen Liberalismus galt und dies Inſel- volk, das unter allen Nationen der Welt die ſtärkſte nationale Selbſt- ſucht beſitzt, als der hochherzige Vertheidiger der allgemeinen Völkerfreiheit geprieſen wurde. Für Metternich ward Canning ein furchtbarer Feind. Mit den Ideologen der Revolution wußte die Hofburg ſchon fertig zu werden; dieſer Mann aber, der Feuer und Kälte, Schwung und Nüch- ternheit ſo wunderbar vereinigte, der, geſtützt auf die wirthſchaftliche Kraft der größten Geldmacht der Erde, die kühlen Berechnungen ſeiner Handels- politik mit dem gewaltigen Pathos volksthümlicher Beredſamkeit vertheidigte und die öffentliche Meinung Europas in den Dienſt der engliſchen See- herrſchaft zog, er blieb den Wiener Staatslenkern ein Räthſel. Nur wenige Wochen ſtand er am Ruder, da ward er ſchon von den Diplomaten Oeſterreichs mit einer Fluth von Verleumdungen überſchüttet, welche die geheime Beſorgniß deutlich verriethen. — So ſtanden die Dinge, als Kaiſer Alexander und die Staatsmänner der großen Mächte im September ſich in Wien zu vertraulichen Vor- beſprechungen einfanden. Zur Beruhigung Aller zeigte der Czar eine „europäiſche Geſinnung“, welche an die Laibacher Tage gemahnte. Er nahm keinen Anſtand, den Preußen reumüthig zu geſtehen, daß er einſt von den Plänen der Neuerer das Wohl der Menſchheit erhofft und auch in der griechiſchen Sache mehrfach geirrt habe. Jetzt aber ſeien die Neuerer entlarvt, jetzt gelte es nur noch die Revolution zu bewältigen und Europa endlich zu beruhigen. Mit ſeiner ganzen Nation habe er kämpfen müſſen, doch der Untergang der großen Allianz bleibe das größte aller Uebel, und daneben dürften Privatintereſſen nicht in Betracht kommen. So ganz verwandelt erſchien jetzt der Fürſt, der einſt der Welt die Lehren des chriſtlichen Liberalismus verkündigt; ſelbſt die Schlagworte Metternich’s, der jede geſunde nationale Staatskunſt als perſönlichen Eigennutz zu brandmarken pflegte, hatte er ſich bereits angeeignet. Nur die fromme Salbung früherer Tage war ihm noch geblieben. „Die Politik, ſagte er zu Hatzfeldt, iſt nicht mehr was ſie einſt war. Sie ruht nicht mehr auf der Selbſtſucht, die Grundſätze unſeres wahrhaft heiligen Bundes ſind rein wie er ſelbſt; nur wenige Menſchen verſtehen dieſe Staatskunſt ſchon ganz.“ So war man denn allerſeits einig, die griechiſche Frage

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/282>, abgerufen am 25.11.2024.