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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 5. Die Großmächte und die Trias.
schlagen der Russen warteten, um eine Veränderung der bairischen Ver-
fassung durchzusetzen*); und dazu immer wieder die brünstige Versicherung,
er treibe keine österreichische Politik mehr, sondern lebe nur noch der ge-
meinsamen heiligen Sache der europäischen Legitimität. Im Frühjahr
1822 erschien endlich der vormalige Madrider Gesandte Tatistschew zwei-
mal in Wien, um hinter dem Rücken des Gesandten Golowkin, der Oester-
reichs Absichten durchschaute, mit Metternich zu verhandeln und die Hof-
burg durch gütliches Zureden mindestens zur Abberufung ihrer Gesandt-
schaft aus Konstantinopel zu bewegen. Tatistschew stand im Rufe großer
diplomatischer Gewandtheit, Metternich aber meinte höhnisch: "glücklicher-
weise bin ich ein alter Fischer." Und wirklich gelang es seinen sophisti-
schen Künsten, nicht nur alle Zumuthungen der Russen zurückzuweisen, er
beredete den Czaren sogar zu einer Nachgiebigkeit, die einem Sündenbe-
kenntniß sehr ähnlich sah. Alexander erklärte sich bereit den diplomatischen
Verkehr mit der Pforte wieder anzuknüpfen, obwohl der Sultan den ver-
mittelnden Mächten immer nur die trotzige Antwort gab: mischt Euch nicht
in unsere Angelegenheiten! Der Oesterreicher erleichterte dem Czaren den
Rückzug, bot seine guten Dienste an für die Räumung der Donaufürsten-
thümer und die Herstellung des Schifffahrtsverkehrs von Odessa -- eine
Hilfe, die natürlich nicht allzu ernst gemeint war, da Metternich von dem
Grundsatze ausging, schon die Möglichkeit eines Krieges der Kaisermächte
wider die Pforte könne den Welttheil in Flammen setzen. Von einer
Sühne für die Ermordung des Patriarchen war keine Rede mehr, und
über eine Amnestie zu Gunsten der griechischen Rebellen wollten die großen
Mächte erst noch mit dem Divan verhandeln, was nach orientalischem
Brauche noch jahrelang währen konnte.

Kurz, Alexander hatte seine Hand von den Christen der Balkan-
halbinsel gänzlich abgezogen, und mit gutem Grunde grollte Rußland über
diesen Czaren, der sich die Gelegenheit zu einem gerechten, nationalen
Kriege so kleinmüthig entschlüpfen ließ. Mit schmetternden Fanfaren ver-
kündete Metternich seinem Kaiser die Niederlage Rußlands, "den voll-
ständigsten Sieg, den vielleicht je ein Cabinet über das andere davon ge-
tragen." Kurz vorher hatte er einmal in einen Brief den Weisheitsspruch
eingeflochten, die Prahlerei sei die lächerlichste aller Eigenschaften. Gewohnt
nur auf den nächsten Tag zu rechnen, wähnte er das Werk Peters des
Großen und aller seiner Nachfolger bereits vernichtet zu haben und ahnte
nicht, daß die dauernde Macht der Weltverhältnisse und der nationalen
Leidenschaften den russischen Staat früher oder später in die Bahnen
Katharinas zurückführen mußte. Das unerhörte Glück dieser Jahre hatte
seinen Dünkel bereits so hoch gesteigert, daß er jeden Andersgesinnten fast
wie einen Geisteskranken ansah; da er selber in den süßlichen Neigungen

*) Bernstorff an Krusemark, 29. Sept. 1821; Krusemark's Bericht, 3. März 1822.

III. 5. Die Großmächte und die Trias.
ſchlagen der Ruſſen warteten, um eine Veränderung der bairiſchen Ver-
faſſung durchzuſetzen*); und dazu immer wieder die brünſtige Verſicherung,
er treibe keine öſterreichiſche Politik mehr, ſondern lebe nur noch der ge-
meinſamen heiligen Sache der europäiſchen Legitimität. Im Frühjahr
1822 erſchien endlich der vormalige Madrider Geſandte Tatiſtſchew zwei-
mal in Wien, um hinter dem Rücken des Geſandten Golowkin, der Oeſter-
reichs Abſichten durchſchaute, mit Metternich zu verhandeln und die Hof-
burg durch gütliches Zureden mindeſtens zur Abberufung ihrer Geſandt-
ſchaft aus Konſtantinopel zu bewegen. Tatiſtſchew ſtand im Rufe großer
diplomatiſcher Gewandtheit, Metternich aber meinte höhniſch: „glücklicher-
weiſe bin ich ein alter Fiſcher.“ Und wirklich gelang es ſeinen ſophiſti-
ſchen Künſten, nicht nur alle Zumuthungen der Ruſſen zurückzuweiſen, er
beredete den Czaren ſogar zu einer Nachgiebigkeit, die einem Sündenbe-
kenntniß ſehr ähnlich ſah. Alexander erklärte ſich bereit den diplomatiſchen
Verkehr mit der Pforte wieder anzuknüpfen, obwohl der Sultan den ver-
mittelnden Mächten immer nur die trotzige Antwort gab: miſcht Euch nicht
in unſere Angelegenheiten! Der Oeſterreicher erleichterte dem Czaren den
Rückzug, bot ſeine guten Dienſte an für die Räumung der Donaufürſten-
thümer und die Herſtellung des Schifffahrtsverkehrs von Odeſſa — eine
Hilfe, die natürlich nicht allzu ernſt gemeint war, da Metternich von dem
Grundſatze ausging, ſchon die Möglichkeit eines Krieges der Kaiſermächte
wider die Pforte könne den Welttheil in Flammen ſetzen. Von einer
Sühne für die Ermordung des Patriarchen war keine Rede mehr, und
über eine Amneſtie zu Gunſten der griechiſchen Rebellen wollten die großen
Mächte erſt noch mit dem Divan verhandeln, was nach orientaliſchem
Brauche noch jahrelang währen konnte.

Kurz, Alexander hatte ſeine Hand von den Chriſten der Balkan-
halbinſel gänzlich abgezogen, und mit gutem Grunde grollte Rußland über
dieſen Czaren, der ſich die Gelegenheit zu einem gerechten, nationalen
Kriege ſo kleinmüthig entſchlüpfen ließ. Mit ſchmetternden Fanfaren ver-
kündete Metternich ſeinem Kaiſer die Niederlage Rußlands, „den voll-
ſtändigſten Sieg, den vielleicht je ein Cabinet über das andere davon ge-
tragen.“ Kurz vorher hatte er einmal in einen Brief den Weisheitsſpruch
eingeflochten, die Prahlerei ſei die lächerlichſte aller Eigenſchaften. Gewohnt
nur auf den nächſten Tag zu rechnen, wähnte er das Werk Peters des
Großen und aller ſeiner Nachfolger bereits vernichtet zu haben und ahnte
nicht, daß die dauernde Macht der Weltverhältniſſe und der nationalen
Leidenſchaften den ruſſiſchen Staat früher oder ſpäter in die Bahnen
Katharinas zurückführen mußte. Das unerhörte Glück dieſer Jahre hatte
ſeinen Dünkel bereits ſo hoch geſteigert, daß er jeden Andersgeſinnten faſt
wie einen Geiſteskranken anſah; da er ſelber in den ſüßlichen Neigungen

*) Bernſtorff an Kruſemark, 29. Sept. 1821; Kruſemark’s Bericht, 3. März 1822.
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[258/0274] III. 5. Die Großmächte und die Trias. ſchlagen der Ruſſen warteten, um eine Veränderung der bairiſchen Ver- faſſung durchzuſetzen *); und dazu immer wieder die brünſtige Verſicherung, er treibe keine öſterreichiſche Politik mehr, ſondern lebe nur noch der ge- meinſamen heiligen Sache der europäiſchen Legitimität. Im Frühjahr 1822 erſchien endlich der vormalige Madrider Geſandte Tatiſtſchew zwei- mal in Wien, um hinter dem Rücken des Geſandten Golowkin, der Oeſter- reichs Abſichten durchſchaute, mit Metternich zu verhandeln und die Hof- burg durch gütliches Zureden mindeſtens zur Abberufung ihrer Geſandt- ſchaft aus Konſtantinopel zu bewegen. Tatiſtſchew ſtand im Rufe großer diplomatiſcher Gewandtheit, Metternich aber meinte höhniſch: „glücklicher- weiſe bin ich ein alter Fiſcher.“ Und wirklich gelang es ſeinen ſophiſti- ſchen Künſten, nicht nur alle Zumuthungen der Ruſſen zurückzuweiſen, er beredete den Czaren ſogar zu einer Nachgiebigkeit, die einem Sündenbe- kenntniß ſehr ähnlich ſah. Alexander erklärte ſich bereit den diplomatiſchen Verkehr mit der Pforte wieder anzuknüpfen, obwohl der Sultan den ver- mittelnden Mächten immer nur die trotzige Antwort gab: miſcht Euch nicht in unſere Angelegenheiten! Der Oeſterreicher erleichterte dem Czaren den Rückzug, bot ſeine guten Dienſte an für die Räumung der Donaufürſten- thümer und die Herſtellung des Schifffahrtsverkehrs von Odeſſa — eine Hilfe, die natürlich nicht allzu ernſt gemeint war, da Metternich von dem Grundſatze ausging, ſchon die Möglichkeit eines Krieges der Kaiſermächte wider die Pforte könne den Welttheil in Flammen ſetzen. Von einer Sühne für die Ermordung des Patriarchen war keine Rede mehr, und über eine Amneſtie zu Gunſten der griechiſchen Rebellen wollten die großen Mächte erſt noch mit dem Divan verhandeln, was nach orientaliſchem Brauche noch jahrelang währen konnte. Kurz, Alexander hatte ſeine Hand von den Chriſten der Balkan- halbinſel gänzlich abgezogen, und mit gutem Grunde grollte Rußland über dieſen Czaren, der ſich die Gelegenheit zu einem gerechten, nationalen Kriege ſo kleinmüthig entſchlüpfen ließ. Mit ſchmetternden Fanfaren ver- kündete Metternich ſeinem Kaiſer die Niederlage Rußlands, „den voll- ſtändigſten Sieg, den vielleicht je ein Cabinet über das andere davon ge- tragen.“ Kurz vorher hatte er einmal in einen Brief den Weisheitsſpruch eingeflochten, die Prahlerei ſei die lächerlichſte aller Eigenſchaften. Gewohnt nur auf den nächſten Tag zu rechnen, wähnte er das Werk Peters des Großen und aller ſeiner Nachfolger bereits vernichtet zu haben und ahnte nicht, daß die dauernde Macht der Weltverhältniſſe und der nationalen Leidenſchaften den ruſſiſchen Staat früher oder ſpäter in die Bahnen Katharinas zurückführen mußte. Das unerhörte Glück dieſer Jahre hatte ſeinen Dünkel bereits ſo hoch geſteigert, daß er jeden Andersgeſinnten faſt wie einen Geiſteskranken anſah; da er ſelber in den ſüßlichen Neigungen *) Bernſtorff an Kruſemark, 29. Sept. 1821; Kruſemark’s Bericht, 3. März 1822.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/274>, abgerufen am 25.11.2024.