sie zeigte handgreiflich, daß die staatsrechtliche Trennung von Stadt und Land ihren Sinn verloren hatte in dem modernen Verkehrsleben. Noch schwerer war der Bauernstand benachtheiligt; galt es doch noch als ein Wagniß, dem neuen Stande irgend eine Vertretung zu geben. Und dieser zurückgesetzte Stand trug im Osten ungleich schwerere Steuerlasten als die Ritterschaft!
Aus den Reihen der Notabeln erhob sich kein irgend lebhafter Wider- spruch. Zwar die schlesischen Ritter murrten, sie fanden das Opfer, das man dem Adel zumuthe, fast zu groß; aber nur ein Bürgermeister aus dieser Provinz wagte, für die unteren Stände eine stärkere Stimmenzahl zu verlangen, und die Bauerschaft war ja gar nicht vertreten unter den Notabeln. Schönberg dagegen forderte nachdrücklich für jeden Stand ein Drittel der Stimmen, er trug diese Ansicht während der Ferien nochmals brieflich dem Kronprinzen vor*) und beruhigte sich erst, als man ihm vorstellte, daß der Bauernstand, vornehmlich in den Marken, erst in der Entwicklung begriffen sei, seine Interessen mit denen des Adels meist zu- sammenfielen, und ihm im Nothfall noch die itio in partes offen stehe. Zudem sollte die Stimmenzahl der Bauern "nach Zeit und Umständen" erhöht werden. Doch diese Zeiten und Umstände konnten niemals er- scheinen. Der Gesetzgeber selber gewöhnte den Adel, seinen Einfluß nicht auf die schweren Pflichten der Selbstverwaltung, sondern auf die bequeme Ausbeutung des ständischen Stimmrechts zu stützen; wie durfte man er- warten, daß der herrschende Stand der Provinziallandtage freiwillig auf die Macht der Mehrheit verzichten würde?
Der politische Fehler, der in dem vorläufigen Aufgeben der Reichs- verfassung lag, rächte sich am schwersten bei der Berathung über die Be- fugnisse der Provinzialstände. Der Kronprinz hoffte mit der ehrlichen Begeisterung der Jugend, ein reiches vielgestaltiges Leben im Schooße seiner historischen Stände erblühen zu sehen. Auch Voß, Ancillon, Vincke und Schönberg wollten keineswegs die Stände zur Ohnmacht verdammen. Nicht böser Wille, sondern die unerbittliche Consequenz des verfehlten Grund- gedankens zwang den Ausschuß, der Macht der Stände enge und doch unbestimmte Schranken zu setzen. War die Krone fest entschlossen, die Reichsstände den Provinzialständen auf dem Fuße folgen zu lassen, so mußten letztere ausschließlich auf die Provinzialangelegenheiten angewiesen werden, und man konnte ihnen unbedenklich auf diesem ihrem natürlichen Gebiete sehr wirksame Rechte einräumen. Jetzt, da jene entscheidende Frage in der Schwebe blieb, erschien auch das Selbstverständliche zweifel- haft. Die Verordnung vom 22. Mai und das Staatsschuldenedict ver- hießen den Reichsständen bestimmte Rechte, den Provinzialständen gar nichts. Schönberg verfiel nun in guter Absicht auf den Vorschlag, daß
*) Schönberg an den Kronprinzen, 5. August 1822.
Befugniſſe der Provinzialſtände.
ſie zeigte handgreiflich, daß die ſtaatsrechtliche Trennung von Stadt und Land ihren Sinn verloren hatte in dem modernen Verkehrsleben. Noch ſchwerer war der Bauernſtand benachtheiligt; galt es doch noch als ein Wagniß, dem neuen Stande irgend eine Vertretung zu geben. Und dieſer zurückgeſetzte Stand trug im Oſten ungleich ſchwerere Steuerlaſten als die Ritterſchaft!
Aus den Reihen der Notabeln erhob ſich kein irgend lebhafter Wider- ſpruch. Zwar die ſchleſiſchen Ritter murrten, ſie fanden das Opfer, das man dem Adel zumuthe, faſt zu groß; aber nur ein Bürgermeiſter aus dieſer Provinz wagte, für die unteren Stände eine ſtärkere Stimmenzahl zu verlangen, und die Bauerſchaft war ja gar nicht vertreten unter den Notabeln. Schönberg dagegen forderte nachdrücklich für jeden Stand ein Drittel der Stimmen, er trug dieſe Anſicht während der Ferien nochmals brieflich dem Kronprinzen vor*) und beruhigte ſich erſt, als man ihm vorſtellte, daß der Bauernſtand, vornehmlich in den Marken, erſt in der Entwicklung begriffen ſei, ſeine Intereſſen mit denen des Adels meiſt zu- ſammenfielen, und ihm im Nothfall noch die itio in partes offen ſtehe. Zudem ſollte die Stimmenzahl der Bauern „nach Zeit und Umſtänden“ erhöht werden. Doch dieſe Zeiten und Umſtände konnten niemals er- ſcheinen. Der Geſetzgeber ſelber gewöhnte den Adel, ſeinen Einfluß nicht auf die ſchweren Pflichten der Selbſtverwaltung, ſondern auf die bequeme Ausbeutung des ſtändiſchen Stimmrechts zu ſtützen; wie durfte man er- warten, daß der herrſchende Stand der Provinziallandtage freiwillig auf die Macht der Mehrheit verzichten würde?
Der politiſche Fehler, der in dem vorläufigen Aufgeben der Reichs- verfaſſung lag, rächte ſich am ſchwerſten bei der Berathung über die Be- fugniſſe der Provinzialſtände. Der Kronprinz hoffte mit der ehrlichen Begeiſterung der Jugend, ein reiches vielgeſtaltiges Leben im Schooße ſeiner hiſtoriſchen Stände erblühen zu ſehen. Auch Voß, Ancillon, Vincke und Schönberg wollten keineswegs die Stände zur Ohnmacht verdammen. Nicht böſer Wille, ſondern die unerbittliche Conſequenz des verfehlten Grund- gedankens zwang den Ausſchuß, der Macht der Stände enge und doch unbeſtimmte Schranken zu ſetzen. War die Krone feſt entſchloſſen, die Reichsſtände den Provinzialſtänden auf dem Fuße folgen zu laſſen, ſo mußten letztere ausſchließlich auf die Provinzialangelegenheiten angewieſen werden, und man konnte ihnen unbedenklich auf dieſem ihrem natürlichen Gebiete ſehr wirkſame Rechte einräumen. Jetzt, da jene entſcheidende Frage in der Schwebe blieb, erſchien auch das Selbſtverſtändliche zweifel- haft. Die Verordnung vom 22. Mai und das Staatsſchuldenedict ver- hießen den Reichsſtänden beſtimmte Rechte, den Provinzialſtänden gar nichts. Schönberg verfiel nun in guter Abſicht auf den Vorſchlag, daß
*) Schönberg an den Kronprinzen, 5. Auguſt 1822.
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Befugniſſe der Provinzialſtände.
ſie zeigte handgreiflich, daß die ſtaatsrechtliche Trennung von Stadt und
Land ihren Sinn verloren hatte in dem modernen Verkehrsleben. Noch
ſchwerer war der Bauernſtand benachtheiligt; galt es doch noch als ein
Wagniß, dem neuen Stande irgend eine Vertretung zu geben. Und dieſer
zurückgeſetzte Stand trug im Oſten ungleich ſchwerere Steuerlaſten als
die Ritterſchaft!
Aus den Reihen der Notabeln erhob ſich kein irgend lebhafter Wider-
ſpruch. Zwar die ſchleſiſchen Ritter murrten, ſie fanden das Opfer, das
man dem Adel zumuthe, faſt zu groß; aber nur ein Bürgermeiſter aus
dieſer Provinz wagte, für die unteren Stände eine ſtärkere Stimmenzahl
zu verlangen, und die Bauerſchaft war ja gar nicht vertreten unter den
Notabeln. Schönberg dagegen forderte nachdrücklich für jeden Stand ein
Drittel der Stimmen, er trug dieſe Anſicht während der Ferien nochmals
brieflich dem Kronprinzen vor *) und beruhigte ſich erſt, als man ihm
vorſtellte, daß der Bauernſtand, vornehmlich in den Marken, erſt in der
Entwicklung begriffen ſei, ſeine Intereſſen mit denen des Adels meiſt zu-
ſammenfielen, und ihm im Nothfall noch die itio in partes offen ſtehe.
Zudem ſollte die Stimmenzahl der Bauern „nach Zeit und Umſtänden“
erhöht werden. Doch dieſe Zeiten und Umſtände konnten niemals er-
ſcheinen. Der Geſetzgeber ſelber gewöhnte den Adel, ſeinen Einfluß nicht
auf die ſchweren Pflichten der Selbſtverwaltung, ſondern auf die bequeme
Ausbeutung des ſtändiſchen Stimmrechts zu ſtützen; wie durfte man er-
warten, daß der herrſchende Stand der Provinziallandtage freiwillig auf
die Macht der Mehrheit verzichten würde?
Der politiſche Fehler, der in dem vorläufigen Aufgeben der Reichs-
verfaſſung lag, rächte ſich am ſchwerſten bei der Berathung über die Be-
fugniſſe der Provinzialſtände. Der Kronprinz hoffte mit der ehrlichen
Begeiſterung der Jugend, ein reiches vielgeſtaltiges Leben im Schooße ſeiner
hiſtoriſchen Stände erblühen zu ſehen. Auch Voß, Ancillon, Vincke und
Schönberg wollten keineswegs die Stände zur Ohnmacht verdammen. Nicht
böſer Wille, ſondern die unerbittliche Conſequenz des verfehlten Grund-
gedankens zwang den Ausſchuß, der Macht der Stände enge und doch
unbeſtimmte Schranken zu ſetzen. War die Krone feſt entſchloſſen, die
Reichsſtände den Provinzialſtänden auf dem Fuße folgen zu laſſen, ſo
mußten letztere ausſchließlich auf die Provinzialangelegenheiten angewieſen
werden, und man konnte ihnen unbedenklich auf dieſem ihrem natürlichen
Gebiete ſehr wirkſame Rechte einräumen. Jetzt, da jene entſcheidende
Frage in der Schwebe blieb, erſchien auch das Selbſtverſtändliche zweifel-
haft. Die Verordnung vom 22. Mai und das Staatsſchuldenedict ver-
hießen den Reichsſtänden beſtimmte Rechte, den Provinzialſtänden gar
nichts. Schönberg verfiel nun in guter Abſicht auf den Vorſchlag, daß
*) Schönberg an den Kronprinzen, 5. Auguſt 1822.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/261>, abgerufen am 22.11.2024.
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