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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Ständische Gliederung.
seinem besonderen Interesse gefährdet glaube. Auf Schönberg's Antrag
wurde diese gefährliche Befugniß abgeschwächt zu einem einfachen Be-
schwerderecht für den bedrohten Landestheil. Die "Communalverfassungen"
der einzelnen Territorien hingegen sollten bis auf Weiteres unverändert fort-
dauern. Doch nur in der Alt- Kur- und Neumark, in den beiden Pommern
und den beiden Lausitzen sind die alten Landtage als Communallandtage
wieder aufgelebt. In allen anderen Provinzen verschwanden die Trümmer
altständischen Sonderlebens spurlos vor den neuen Provinzialständen, die
Todten begruben ihre Todten. Der Markaner trat mit dem Paderborner,
der Magdeburger mit dem Thüringer willig zur politischen Arbeit zu-
sammen. Wer hellen Blicks verfolgte, wie rasch der Gegensatz der Land-
schaften innerhalb der Provinzen sich ausglich, der mußte erkennen, daß
dies Volk fähig war, den vollen Segen des Einheitsstaates zu ertragen.

Ebenso unmöglich wie die Wiederherstellung der historischen Terri-
torien war die einfache Erneuerung der alten ständischen Gliederung. Die
Provinzialstände wurden, so sagte das Gesetz, "im Geiste der älteren deut-
schen Verfassungen" errichtet, sie waren "das gesetzmäßige Organ der ver-
schiedenen Stände Unserer getreuen Unterthanen." Oftmals hat in spä-
teren Tagen König Friedrich Wilhelm IV. ihnen eingeschärft, sie seien
"deutsche Stände im altherkömmlichen Wortsinne, d. h. vor Allem und
wesentlich Wahrer der eigenen Rechte, der Rechte der Stände, sie sollten
ihren Beruf nicht dahin deuten, als seien sie Volksrepräsentanten." Das
Gesetz hielt streng darauf, daß jeder Gewählte wirklich seinem Stande und
seinem Wahlbezirke angehörte, gab den Ständen sogar das heillose Recht
der itio in partes. Gleichwohl waren die Provinzialstände nichts anderes
als eine einseitig verbildete moderne Interessenvertretung. Da die alten
ständischen Corporationen überall vernichtet waren, so konnte man auch
die Erwählten nicht an die Aufträge ihres "Standes" binden; die Abge-
ordneten stimmten, wie Volksvertreter, nach persönlicher Ueberzeugung.
Die geringe Kopfzahl der Landtage verhinderte auch die von Stein ge-
forderte Errichtung ständischer Curien; jeder Provinziallandtag berath-
schlagte in Einer Versammlung und faßte giltige Beschlüsse mit einfacher
oder Zweidrittelmehrheit aller Stimmen. Und wie war doch in den meisten
Provinzen, zur Verzweiflung der antiquarischen Idealisten, selbst die Er-
innerung an die alten ständischen Unterschiede gänzlich verschwunden! Wer
hätte auch nur daran denken mögen, den Clerus, der doch die Landtage
der rheinischen Krummstabslande allein beherrscht hatte, wieder zum ersten
Stande zu erheben? Da andererseits die ländliche Selbstverwaltung noch
nicht durchgeführt war, mithin die Grundlage für ein billig abgestuftes
Wahlsystem noch fehlte, so wurde die Commission von selbst zu den drei
Ständen der Hardenberg'schen Entwürfe zurückgeführt -- zu einer stän-
dischen Gliederung, die nach der Lage der Dinge unvermeidlich, doch ganz
gewiß nicht historisch war.

16*

Ständiſche Gliederung.
ſeinem beſonderen Intereſſe gefährdet glaube. Auf Schönberg’s Antrag
wurde dieſe gefährliche Befugniß abgeſchwächt zu einem einfachen Be-
ſchwerderecht für den bedrohten Landestheil. Die „Communalverfaſſungen“
der einzelnen Territorien hingegen ſollten bis auf Weiteres unverändert fort-
dauern. Doch nur in der Alt- Kur- und Neumark, in den beiden Pommern
und den beiden Lauſitzen ſind die alten Landtage als Communallandtage
wieder aufgelebt. In allen anderen Provinzen verſchwanden die Trümmer
altſtändiſchen Sonderlebens ſpurlos vor den neuen Provinzialſtänden, die
Todten begruben ihre Todten. Der Markaner trat mit dem Paderborner,
der Magdeburger mit dem Thüringer willig zur politiſchen Arbeit zu-
ſammen. Wer hellen Blicks verfolgte, wie raſch der Gegenſatz der Land-
ſchaften innerhalb der Provinzen ſich ausglich, der mußte erkennen, daß
dies Volk fähig war, den vollen Segen des Einheitsſtaates zu ertragen.

Ebenſo unmöglich wie die Wiederherſtellung der hiſtoriſchen Terri-
torien war die einfache Erneuerung der alten ſtändiſchen Gliederung. Die
Provinzialſtände wurden, ſo ſagte das Geſetz, „im Geiſte der älteren deut-
ſchen Verfaſſungen“ errichtet, ſie waren „das geſetzmäßige Organ der ver-
ſchiedenen Stände Unſerer getreuen Unterthanen.“ Oftmals hat in ſpä-
teren Tagen König Friedrich Wilhelm IV. ihnen eingeſchärft, ſie ſeien
„deutſche Stände im altherkömmlichen Wortſinne, d. h. vor Allem und
weſentlich Wahrer der eigenen Rechte, der Rechte der Stände, ſie ſollten
ihren Beruf nicht dahin deuten, als ſeien ſie Volksrepräſentanten.“ Das
Geſetz hielt ſtreng darauf, daß jeder Gewählte wirklich ſeinem Stande und
ſeinem Wahlbezirke angehörte, gab den Ständen ſogar das heilloſe Recht
der itio in partes. Gleichwohl waren die Provinzialſtände nichts anderes
als eine einſeitig verbildete moderne Intereſſenvertretung. Da die alten
ſtändiſchen Corporationen überall vernichtet waren, ſo konnte man auch
die Erwählten nicht an die Aufträge ihres „Standes“ binden; die Abge-
ordneten ſtimmten, wie Volksvertreter, nach perſönlicher Ueberzeugung.
Die geringe Kopfzahl der Landtage verhinderte auch die von Stein ge-
forderte Errichtung ſtändiſcher Curien; jeder Provinziallandtag berath-
ſchlagte in Einer Verſammlung und faßte giltige Beſchlüſſe mit einfacher
oder Zweidrittelmehrheit aller Stimmen. Und wie war doch in den meiſten
Provinzen, zur Verzweiflung der antiquariſchen Idealiſten, ſelbſt die Er-
innerung an die alten ſtändiſchen Unterſchiede gänzlich verſchwunden! Wer
hätte auch nur daran denken mögen, den Clerus, der doch die Landtage
der rheiniſchen Krummſtabslande allein beherrſcht hatte, wieder zum erſten
Stande zu erheben? Da andererſeits die ländliche Selbſtverwaltung noch
nicht durchgeführt war, mithin die Grundlage für ein billig abgeſtuftes
Wahlſyſtem noch fehlte, ſo wurde die Commiſſion von ſelbſt zu den drei
Ständen der Hardenberg’ſchen Entwürfe zurückgeführt — zu einer ſtän-
diſchen Gliederung, die nach der Lage der Dinge unvermeidlich, doch ganz
gewiß nicht hiſtoriſch war.

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[243/0259] Ständiſche Gliederung. ſeinem beſonderen Intereſſe gefährdet glaube. Auf Schönberg’s Antrag wurde dieſe gefährliche Befugniß abgeſchwächt zu einem einfachen Be- ſchwerderecht für den bedrohten Landestheil. Die „Communalverfaſſungen“ der einzelnen Territorien hingegen ſollten bis auf Weiteres unverändert fort- dauern. Doch nur in der Alt- Kur- und Neumark, in den beiden Pommern und den beiden Lauſitzen ſind die alten Landtage als Communallandtage wieder aufgelebt. In allen anderen Provinzen verſchwanden die Trümmer altſtändiſchen Sonderlebens ſpurlos vor den neuen Provinzialſtänden, die Todten begruben ihre Todten. Der Markaner trat mit dem Paderborner, der Magdeburger mit dem Thüringer willig zur politiſchen Arbeit zu- ſammen. Wer hellen Blicks verfolgte, wie raſch der Gegenſatz der Land- ſchaften innerhalb der Provinzen ſich ausglich, der mußte erkennen, daß dies Volk fähig war, den vollen Segen des Einheitsſtaates zu ertragen. Ebenſo unmöglich wie die Wiederherſtellung der hiſtoriſchen Terri- torien war die einfache Erneuerung der alten ſtändiſchen Gliederung. Die Provinzialſtände wurden, ſo ſagte das Geſetz, „im Geiſte der älteren deut- ſchen Verfaſſungen“ errichtet, ſie waren „das geſetzmäßige Organ der ver- ſchiedenen Stände Unſerer getreuen Unterthanen.“ Oftmals hat in ſpä- teren Tagen König Friedrich Wilhelm IV. ihnen eingeſchärft, ſie ſeien „deutſche Stände im altherkömmlichen Wortſinne, d. h. vor Allem und weſentlich Wahrer der eigenen Rechte, der Rechte der Stände, ſie ſollten ihren Beruf nicht dahin deuten, als ſeien ſie Volksrepräſentanten.“ Das Geſetz hielt ſtreng darauf, daß jeder Gewählte wirklich ſeinem Stande und ſeinem Wahlbezirke angehörte, gab den Ständen ſogar das heilloſe Recht der itio in partes. Gleichwohl waren die Provinzialſtände nichts anderes als eine einſeitig verbildete moderne Intereſſenvertretung. Da die alten ſtändiſchen Corporationen überall vernichtet waren, ſo konnte man auch die Erwählten nicht an die Aufträge ihres „Standes“ binden; die Abge- ordneten ſtimmten, wie Volksvertreter, nach perſönlicher Ueberzeugung. Die geringe Kopfzahl der Landtage verhinderte auch die von Stein ge- forderte Errichtung ſtändiſcher Curien; jeder Provinziallandtag berath- ſchlagte in Einer Verſammlung und faßte giltige Beſchlüſſe mit einfacher oder Zweidrittelmehrheit aller Stimmen. Und wie war doch in den meiſten Provinzen, zur Verzweiflung der antiquariſchen Idealiſten, ſelbſt die Er- innerung an die alten ſtändiſchen Unterſchiede gänzlich verſchwunden! Wer hätte auch nur daran denken mögen, den Clerus, der doch die Landtage der rheiniſchen Krummſtabslande allein beherrſcht hatte, wieder zum erſten Stande zu erheben? Da andererſeits die ländliche Selbſtverwaltung noch nicht durchgeführt war, mithin die Grundlage für ein billig abgeſtuftes Wahlſyſtem noch fehlte, ſo wurde die Commiſſion von ſelbſt zu den drei Ständen der Hardenberg’ſchen Entwürfe zurückgeführt — zu einer ſtän- diſchen Gliederung, die nach der Lage der Dinge unvermeidlich, doch ganz gewiß nicht hiſtoriſch war. 16*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/259>, abgerufen am 22.11.2024.