Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.Erstarken der ultramontanen Partei. verschärft hatte; wie nahe lag die Versuchung, dies Unheil nicht jenemKaiserhause zuzuschreiben, das die deutsche evangelische Bewegung mit Hilfe des romanischen Europas auf halben Wege gewaltsam aufhielt, sondern dem Reformator selber, der das ganze Vaterland von der römischen Herr- schaft zu befreien dachte. Die alte, zumal in den Reichsstädten noch sehr lebendige Verehrung für das fromme Erzhaus und die überlieferte Feind- schaft gegen den Störenfried im Reiche, den preußischen Staat, wirkten mit; und so entstand nach und nach eine völlig verschrobene Ansicht von der vaterländischen Geschichte, die späterhin in der Gemüthspolitik der groß- deutschen Partei ihre Früchte trug und zuletzt immer nur den Clericalen Vortheil brachte. Der liebenswürdige, hochsinnige junge Frankfurter Johann Friedrich Böhmer, ein unpolitischer Kopf aber ein glänzendes wissenschaftliches Talent, verfiel jetzt schon gänzlich dem Banne dieser histo- rischen Traumwelt, obwohl er sich niemals entschließen konnte, die evan- gelische Kirche förmlich zu verlassen; er pries die Siege der Päpste über die Staufer, verdammte die Reformation, weil sie Deutschland getheilt habe, und bewunderte die undeutsche Politik der letzten habsburgischen Kaiser. Zu Alledem noch die rastlose publicistische Thätigkeit des großen Wiener In Preußens westlichen Provinzen bekundete sich die zunehmende Erſtarken der ultramontanen Partei. verſchärft hatte; wie nahe lag die Verſuchung, dies Unheil nicht jenemKaiſerhauſe zuzuſchreiben, das die deutſche evangeliſche Bewegung mit Hilfe des romaniſchen Europas auf halben Wege gewaltſam aufhielt, ſondern dem Reformator ſelber, der das ganze Vaterland von der römiſchen Herr- ſchaft zu befreien dachte. Die alte, zumal in den Reichsſtädten noch ſehr lebendige Verehrung für das fromme Erzhaus und die überlieferte Feind- ſchaft gegen den Störenfried im Reiche, den preußiſchen Staat, wirkten mit; und ſo entſtand nach und nach eine völlig verſchrobene Anſicht von der vaterländiſchen Geſchichte, die ſpäterhin in der Gemüthspolitik der groß- deutſchen Partei ihre Früchte trug und zuletzt immer nur den Clericalen Vortheil brachte. Der liebenswürdige, hochſinnige junge Frankfurter Johann Friedrich Böhmer, ein unpolitiſcher Kopf aber ein glänzendes wiſſenſchaftliches Talent, verfiel jetzt ſchon gänzlich dem Banne dieſer hiſto- riſchen Traumwelt, obwohl er ſich niemals entſchließen konnte, die evan- geliſche Kirche förmlich zu verlaſſen; er pries die Siege der Päpſte über die Staufer, verdammte die Reformation, weil ſie Deutſchland getheilt habe, und bewunderte die undeutſche Politik der letzten habsburgiſchen Kaiſer. Zu Alledem noch die raſtloſe publiciſtiſche Thätigkeit des großen Wiener In Preußens weſtlichen Provinzen bekundete ſich die zunehmende <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0231" n="215"/><fw place="top" type="header">Erſtarken der ultramontanen Partei.</fw><lb/> verſchärft hatte; wie nahe lag die Verſuchung, dies Unheil nicht jenem<lb/> Kaiſerhauſe zuzuſchreiben, das die deutſche evangeliſche Bewegung mit Hilfe<lb/> des romaniſchen Europas auf halben Wege gewaltſam aufhielt, ſondern<lb/> dem Reformator ſelber, der das ganze Vaterland von der römiſchen Herr-<lb/> ſchaft zu befreien dachte. 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Erſtarken der ultramontanen Partei.
verſchärft hatte; wie nahe lag die Verſuchung, dies Unheil nicht jenem
Kaiſerhauſe zuzuſchreiben, das die deutſche evangeliſche Bewegung mit Hilfe
des romaniſchen Europas auf halben Wege gewaltſam aufhielt, ſondern
dem Reformator ſelber, der das ganze Vaterland von der römiſchen Herr-
ſchaft zu befreien dachte. Die alte, zumal in den Reichsſtädten noch ſehr
lebendige Verehrung für das fromme Erzhaus und die überlieferte Feind-
ſchaft gegen den Störenfried im Reiche, den preußiſchen Staat, wirkten
mit; und ſo entſtand nach und nach eine völlig verſchrobene Anſicht von
der vaterländiſchen Geſchichte, die ſpäterhin in der Gemüthspolitik der groß-
deutſchen Partei ihre Früchte trug und zuletzt immer nur den Clericalen
Vortheil brachte. Der liebenswürdige, hochſinnige junge Frankfurter
Johann Friedrich Böhmer, ein unpolitiſcher Kopf aber ein glänzendes
wiſſenſchaftliches Talent, verfiel jetzt ſchon gänzlich dem Banne dieſer hiſto-
riſchen Traumwelt, obwohl er ſich niemals entſchließen konnte, die evan-
geliſche Kirche förmlich zu verlaſſen; er pries die Siege der Päpſte über
die Staufer, verdammte die Reformation, weil ſie Deutſchland getheilt
habe, und bewunderte die undeutſche Politik der letzten habsburgiſchen Kaiſer.
Zu Alledem noch die raſtloſe publiciſtiſche Thätigkeit des großen Wiener
Convertitenkreiſes und der unverſöhnte Groll des katholiſchen Reichs-
adels, der den Raub von 1803 nicht verzeihen konnte; die geheime Be-
kehrungsarbeit in der vornehmen Welt und die zweideutige Haltung der
öſterreichiſchen Regierung, die in ihrem eigenen Lande den Clerus miß-
trauiſch in Schranken hielt, in Deutſchland dagegen alle ultramontanen
Umtriebe insgeheim unterſtützte — und dies in einer Zeit, da der Pro-
teſtantismus zwar an wiſſenſchaftlichen Kräften der alten Kirche unermeßlich
überlegen, aber durch Parteien zerriſſen, in ſeinen Cultusformen vertrocknet,
in ſeiner Verfaſſung unfertig und mithin keiner Ausbreitung fähig war.
Alſo floſſen aus vielen ſchmalen Rinnſalen und Bächen unmerklich die
Waſſer zuſammen, welche dereinſt zur ultramontanen Hochfluth anſchwellen
ſollten. —
In Preußens weſtlichen Provinzen bekundete ſich die zunehmende
Schroffheit der confeſſionellen Geſinnung ſchon durch manche bedenkliche
Reibungen. Das Jubelfeſt der Reformation und die perſönliche Mitwir-
kung des Königs erregten am Rhein viel böſes Blut, die Blätter der fran-
zöſiſchen Congregation wurden fleißig geleſen, und aus den nahen Nieder-
landen kamen beſtändig aufregende Nachrichten von den Kämpfen des
belgiſchen Clerus wider das Haus Oranien. In dem gläubigen Aachener
Volke lebte noch von den Geuſenkämpfen her ein tiefer Haß gegen die
Proteſtanten, „die Güß“; ſelbſt die Beamtenkinder in den Schulen hatten
darunter zu leiden. Da viele der jungen evangeliſchen Offiziere und Be-
amten an den liebenswürdigen Rheinländerinnen Wohlgefallen fanden, ſo
entſtanden in mehreren Städten Vereine von alten und jungen Mädchen,
die einander gelobten niemals einen Proteſtanten zu heirathen. Die Theil-
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