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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 4. Der Ausgang des preußischen Verfassungskampfes.
senden, was der König nimmermehr gestatten wollte. Darum war Nie-
buhr für die Stelle ausersehen worden; der große Gelehrte konnte durch
die Macht seines Namens und seiner Persönlichkeit ersetzen was ihm an
Rang gebrach. Die Wahl erwies sich als sehr glücklich. Niebuhr errang
sich in Rom rasch ein hohes Ansehen, gewann das Vertrauen des Staats-
sekretärs Consalvi, des gelehrten Mathematikers Cardinal Capaccini und
anderer Kirchenfürsten. Papst Pius, der vor Jahren selbst Professor der
griechischen Sprache gewesen war, zeichnete ihn vor allen anderen Diplo-
maten aus und fühlte sich ganz in seinem Element, wenn er nach dem
Geschwätz der Salons den geistvollen und doch so harmlos gemüthlichen
Gesprächen des preußischen Gesandten lauschen konnte; es war ihm immer
eine Freude, den Historiker bei seinen Forschungen zu unterstützen oder ihm
bald Früchte und Blumen, bald eine köstliche Gemme ins Haus zu schicken.
Darum durfte Niebuhr auch wagen im Jahre 1819 einen regelmäßigen
evangelischen Gottesdienst in seinem Gesandtschaftspalaste einzurichten.
Mehr denn hundert Jahre zuvor hatten die Feldprediger der preußischen
Grenadiere auf dem Boden des Kirchenstaates zum ersten male das freie
Evangelium gelehrt; jetzt versammelte sich an jedem Sonntage eine prote-
stantische Gemeinde in dem alten Theater des Marcellus, und ihre Seel-
sorger -- erst Schmieder, dann Rothe -- brauchten den Vergleich mit den
ersten Kanzelrednern Roms nicht zu scheuen.

Niebuhr war in der rein protestantischen Luft des deutschen Nordens
aufgewachsen und ganz erfüllt von dem demokratischen Gedanken des
Priesterthums der Laien; aber sein tief religiöses Gemüth hegte auch ein
liebevolles Verständniß für die Kräfte des lebendigen Christenthums, welche
sich der Katholicismus in seiner Verweltlichung noch bewahrt hatte. Er war
den Brüdern Stolberg, obgleich er ihren Uebertritt entschieden mißbilligte,
doch in treuer Freundschaft verbunden geblieben und verehrte als abge-
sagter Feind der Revolution in der römischen Kirche eine conservative Macht,
welche die Zuchtlosigkeit des neuen Geschlechts zu bändigen helfen sollte.
Ueber Wessenberg's nationalkirchliche Träume urtheilte er hart, aber treffend.
Er wußte, daß der Papst, schon aus Mißtrauen gegen die politischen
Hintergedanken der Episcopalisten, jetzt weniger denn je geneigt war irgend
eine Erweiterung der bischöflichen Gewalt zuzugestehn; er kannte den un-
erschütterlichen Gehorsam der rheinisch-westphälischen Katholiken, die sich
niemals einem schismatischen Bischof anschließen konnten; und die gut-
müthige Hoffnung auf die duldsame Friedfertigkeit des deutschen Episco-
pats erschien ihm, bei seiner gründlichen Kenntniß der Kirchengeschichte,
zum mindesten zweifelhaft: war doch die schwärzeste That des modernen
Katholicismus, die Vertreibung der Hugenotten, nicht vom Papste aus-
gegangen, sondern von derselben gallikanischen Nationalkirche, deren Frei-
sinn die liberalen Anhänger Wessenberg's zu preisen pflegten. Er wieder-
holte gern den Ausspruch seines Amtsvorgängers Humboldt: Verhand-

III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes.
ſenden, was der König nimmermehr geſtatten wollte. Darum war Nie-
buhr für die Stelle auserſehen worden; der große Gelehrte konnte durch
die Macht ſeines Namens und ſeiner Perſönlichkeit erſetzen was ihm an
Rang gebrach. Die Wahl erwies ſich als ſehr glücklich. Niebuhr errang
ſich in Rom raſch ein hohes Anſehen, gewann das Vertrauen des Staats-
ſekretärs Conſalvi, des gelehrten Mathematikers Cardinal Capaccini und
anderer Kirchenfürſten. Papſt Pius, der vor Jahren ſelbſt Profeſſor der
griechiſchen Sprache geweſen war, zeichnete ihn vor allen anderen Diplo-
maten aus und fühlte ſich ganz in ſeinem Element, wenn er nach dem
Geſchwätz der Salons den geiſtvollen und doch ſo harmlos gemüthlichen
Geſprächen des preußiſchen Geſandten lauſchen konnte; es war ihm immer
eine Freude, den Hiſtoriker bei ſeinen Forſchungen zu unterſtützen oder ihm
bald Früchte und Blumen, bald eine köſtliche Gemme ins Haus zu ſchicken.
Darum durfte Niebuhr auch wagen im Jahre 1819 einen regelmäßigen
evangeliſchen Gottesdienſt in ſeinem Geſandtſchaftspalaſte einzurichten.
Mehr denn hundert Jahre zuvor hatten die Feldprediger der preußiſchen
Grenadiere auf dem Boden des Kirchenſtaates zum erſten male das freie
Evangelium gelehrt; jetzt verſammelte ſich an jedem Sonntage eine prote-
ſtantiſche Gemeinde in dem alten Theater des Marcellus, und ihre Seel-
ſorger — erſt Schmieder, dann Rothe — brauchten den Vergleich mit den
erſten Kanzelrednern Roms nicht zu ſcheuen.

Niebuhr war in der rein proteſtantiſchen Luft des deutſchen Nordens
aufgewachſen und ganz erfüllt von dem demokratiſchen Gedanken des
Prieſterthums der Laien; aber ſein tief religiöſes Gemüth hegte auch ein
liebevolles Verſtändniß für die Kräfte des lebendigen Chriſtenthums, welche
ſich der Katholicismus in ſeiner Verweltlichung noch bewahrt hatte. Er war
den Brüdern Stolberg, obgleich er ihren Uebertritt entſchieden mißbilligte,
doch in treuer Freundſchaft verbunden geblieben und verehrte als abge-
ſagter Feind der Revolution in der römiſchen Kirche eine conſervative Macht,
welche die Zuchtloſigkeit des neuen Geſchlechts zu bändigen helfen ſollte.
Ueber Weſſenberg’s nationalkirchliche Träume urtheilte er hart, aber treffend.
Er wußte, daß der Papſt, ſchon aus Mißtrauen gegen die politiſchen
Hintergedanken der Episcopaliſten, jetzt weniger denn je geneigt war irgend
eine Erweiterung der biſchöflichen Gewalt zuzugeſtehn; er kannte den un-
erſchütterlichen Gehorſam der rheiniſch-weſtphäliſchen Katholiken, die ſich
niemals einem ſchismatiſchen Biſchof anſchließen konnten; und die gut-
müthige Hoffnung auf die duldſame Friedfertigkeit des deutſchen Episco-
pats erſchien ihm, bei ſeiner gründlichen Kenntniß der Kirchengeſchichte,
zum mindeſten zweifelhaft: war doch die ſchwärzeſte That des modernen
Katholicismus, die Vertreibung der Hugenotten, nicht vom Papſte aus-
gegangen, ſondern von derſelben gallikaniſchen Nationalkirche, deren Frei-
ſinn die liberalen Anhänger Weſſenberg’s zu preiſen pflegten. Er wieder-
holte gern den Ausſpruch ſeines Amtsvorgängers Humboldt: Verhand-

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[202/0218] III. 4. Der Ausgang des preußiſchen Verfaſſungskampfes. ſenden, was der König nimmermehr geſtatten wollte. Darum war Nie- buhr für die Stelle auserſehen worden; der große Gelehrte konnte durch die Macht ſeines Namens und ſeiner Perſönlichkeit erſetzen was ihm an Rang gebrach. Die Wahl erwies ſich als ſehr glücklich. Niebuhr errang ſich in Rom raſch ein hohes Anſehen, gewann das Vertrauen des Staats- ſekretärs Conſalvi, des gelehrten Mathematikers Cardinal Capaccini und anderer Kirchenfürſten. Papſt Pius, der vor Jahren ſelbſt Profeſſor der griechiſchen Sprache geweſen war, zeichnete ihn vor allen anderen Diplo- maten aus und fühlte ſich ganz in ſeinem Element, wenn er nach dem Geſchwätz der Salons den geiſtvollen und doch ſo harmlos gemüthlichen Geſprächen des preußiſchen Geſandten lauſchen konnte; es war ihm immer eine Freude, den Hiſtoriker bei ſeinen Forſchungen zu unterſtützen oder ihm bald Früchte und Blumen, bald eine köſtliche Gemme ins Haus zu ſchicken. Darum durfte Niebuhr auch wagen im Jahre 1819 einen regelmäßigen evangeliſchen Gottesdienſt in ſeinem Geſandtſchaftspalaſte einzurichten. Mehr denn hundert Jahre zuvor hatten die Feldprediger der preußiſchen Grenadiere auf dem Boden des Kirchenſtaates zum erſten male das freie Evangelium gelehrt; jetzt verſammelte ſich an jedem Sonntage eine prote- ſtantiſche Gemeinde in dem alten Theater des Marcellus, und ihre Seel- ſorger — erſt Schmieder, dann Rothe — brauchten den Vergleich mit den erſten Kanzelrednern Roms nicht zu ſcheuen. Niebuhr war in der rein proteſtantiſchen Luft des deutſchen Nordens aufgewachſen und ganz erfüllt von dem demokratiſchen Gedanken des Prieſterthums der Laien; aber ſein tief religiöſes Gemüth hegte auch ein liebevolles Verſtändniß für die Kräfte des lebendigen Chriſtenthums, welche ſich der Katholicismus in ſeiner Verweltlichung noch bewahrt hatte. Er war den Brüdern Stolberg, obgleich er ihren Uebertritt entſchieden mißbilligte, doch in treuer Freundſchaft verbunden geblieben und verehrte als abge- ſagter Feind der Revolution in der römiſchen Kirche eine conſervative Macht, welche die Zuchtloſigkeit des neuen Geſchlechts zu bändigen helfen ſollte. Ueber Weſſenberg’s nationalkirchliche Träume urtheilte er hart, aber treffend. Er wußte, daß der Papſt, ſchon aus Mißtrauen gegen die politiſchen Hintergedanken der Episcopaliſten, jetzt weniger denn je geneigt war irgend eine Erweiterung der biſchöflichen Gewalt zuzugeſtehn; er kannte den un- erſchütterlichen Gehorſam der rheiniſch-weſtphäliſchen Katholiken, die ſich niemals einem ſchismatiſchen Biſchof anſchließen konnten; und die gut- müthige Hoffnung auf die duldſame Friedfertigkeit des deutſchen Episco- pats erſchien ihm, bei ſeiner gründlichen Kenntniß der Kirchengeſchichte, zum mindeſten zweifelhaft: war doch die ſchwärzeſte That des modernen Katholicismus, die Vertreibung der Hugenotten, nicht vom Papſte aus- gegangen, ſondern von derſelben gallikaniſchen Nationalkirche, deren Frei- ſinn die liberalen Anhänger Weſſenberg’s zu preiſen pflegten. Er wieder- holte gern den Ausſpruch ſeines Amtsvorgängers Humboldt: Verhand-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/218>, abgerufen am 24.11.2024.