Diese Ueberlegenheit des klaren Willens mußte auch Kaiser Alexan- der bald genug empfinden. Der Czar wollte den Zweck ohne die Mittel, er schwankte wieder zwischen den Rathschlägen Nesselrode's und Kapodi- strias', und die Erfahrungen, die er soeben auf seinem zweiten polnischen Reichstage gesammelt, konnten ihm wahrlich nicht die Kraft des Entschlusses stählen. Welch ein widerwärtiges Bild politischer Thorheit war ihm dort entgegengetreten! Eine ganze Reihe verständiger Gesetze unter tollen Reden sammt und sonders verworfen; auf den Gallerien lärmende und drohende Studenten; dazu im Lande überall das unfaßbare und doch Jedermann fühlbare Treiben der nationalen Freimaurer, und in dem neuen natio- nalen Heere nur eine große Verschwörung. Unaufhaltsam trieb das ver- blendete Volk einer neuen Revolution entgegen. Trotz alledem wollte Alexander die Hoffnung nicht aufgeben, daß die Freiheit unter den Fitti- chen des weißen Adlers eine Heimstätte finden werde. Er schloß den un- fruchtbaren Reichstag mit einigen schmerzlichen, aber liebevollen Vorwürfen. "Ihr habt, so rief er den Landboten zu, das Gute für das Böse erhalten, Polen ist in die Reihe der Staaten wieder eingetreten. Ich werde bei meinen Absichten beharren. Fraget Euer Gewissen und Ihr werdet wissen, ob Ihr dem Lande alle die Dienste geleistet habt, die es von Eurer Weis- heit erwartet." Diese Thronrede verschickte er sodann an die Gesandt- schaften, nebst einem eigenhändigen Rundschreiben, worin er nochmals die constitutionellen Institutionen pries, welche der fast einstimmige Wunsch der Völker fordere. Immerhin ließen die widerwärtigen Vorgänge einen Stachel in der Seele des Czaren zurück. Obgleich Alexander dem Wiener Hofe noch keineswegs völlig traute, so empfing er doch den Gesandten Lebzeltern, der mit vertraulichen Aufträgen des Kaisers Franz nach War- schau kam, sehr herzlich, und ließ durch Kapodistrias der Hofburg aus- sprechen, wie viel Segen er sich von der Eintracht der großen Mächte ver- spreche: "zweimal haben die Völker und die Fürsten den Bund der mäch- tigsten Monarchen gesegnet; sie werden es auch diesmal thun." Zugleich bat er die englische Regierung, mit vollem Vertrauen an der Reunion theilzunehmen.*) An eine Intervention in Spanien wagte er für jetzt nicht mehr zu denken; er sah ein, daß die Thätigkeit des Congresses sich zunächst auf Italien beschränken mußte. --
So war die Lage am 20. Oktober, als die Vertreter der Mächte nach und nach in der stillen Hauptstadt des österreichischen Schlesiens eintrafen. Hier im abgelegenen Wiesenthale der Oppa konnte man ganz den Ge- schäften leben, hier war man sicher vor allen den Neugierigen und Bitt-
*) Kapodistrias an Metternich, Warschau
[Formel 1]
; an Fürst Lieven in London.
[Formel 2]
1820.
III. 3. Troppau und Laibach.
Dieſe Ueberlegenheit des klaren Willens mußte auch Kaiſer Alexan- der bald genug empfinden. Der Czar wollte den Zweck ohne die Mittel, er ſchwankte wieder zwiſchen den Rathſchlägen Neſſelrode’s und Kapodi- ſtrias’, und die Erfahrungen, die er ſoeben auf ſeinem zweiten polniſchen Reichstage geſammelt, konnten ihm wahrlich nicht die Kraft des Entſchluſſes ſtählen. Welch ein widerwärtiges Bild politiſcher Thorheit war ihm dort entgegengetreten! Eine ganze Reihe verſtändiger Geſetze unter tollen Reden ſammt und ſonders verworfen; auf den Gallerien lärmende und drohende Studenten; dazu im Lande überall das unfaßbare und doch Jedermann fühlbare Treiben der nationalen Freimaurer, und in dem neuen natio- nalen Heere nur eine große Verſchwörung. Unaufhaltſam trieb das ver- blendete Volk einer neuen Revolution entgegen. Trotz alledem wollte Alexander die Hoffnung nicht aufgeben, daß die Freiheit unter den Fitti- chen des weißen Adlers eine Heimſtätte finden werde. Er ſchloß den un- fruchtbaren Reichstag mit einigen ſchmerzlichen, aber liebevollen Vorwürfen. „Ihr habt, ſo rief er den Landboten zu, das Gute für das Böſe erhalten, Polen iſt in die Reihe der Staaten wieder eingetreten. Ich werde bei meinen Abſichten beharren. Fraget Euer Gewiſſen und Ihr werdet wiſſen, ob Ihr dem Lande alle die Dienſte geleiſtet habt, die es von Eurer Weis- heit erwartet.“ Dieſe Thronrede verſchickte er ſodann an die Geſandt- ſchaften, nebſt einem eigenhändigen Rundſchreiben, worin er nochmals die conſtitutionellen Inſtitutionen pries, welche der faſt einſtimmige Wunſch der Völker fordere. Immerhin ließen die widerwärtigen Vorgänge einen Stachel in der Seele des Czaren zurück. Obgleich Alexander dem Wiener Hofe noch keineswegs völlig traute, ſo empfing er doch den Geſandten Lebzeltern, der mit vertraulichen Aufträgen des Kaiſers Franz nach War- ſchau kam, ſehr herzlich, und ließ durch Kapodiſtrias der Hofburg aus- ſprechen, wie viel Segen er ſich von der Eintracht der großen Mächte ver- ſpreche: „zweimal haben die Völker und die Fürſten den Bund der mäch- tigſten Monarchen geſegnet; ſie werden es auch diesmal thun.“ Zugleich bat er die engliſche Regierung, mit vollem Vertrauen an der Reunion theilzunehmen.*) An eine Intervention in Spanien wagte er für jetzt nicht mehr zu denken; er ſah ein, daß die Thätigkeit des Congreſſes ſich zunächſt auf Italien beſchränken mußte. —
So war die Lage am 20. Oktober, als die Vertreter der Mächte nach und nach in der ſtillen Hauptſtadt des öſterreichiſchen Schleſiens eintrafen. Hier im abgelegenen Wieſenthale der Oppa konnte man ganz den Ge- ſchäften leben, hier war man ſicher vor allen den Neugierigen und Bitt-
*) Kapodiſtrias an Metternich, Warſchau
[Formel 1]
; an Fürſt Lieven in London.
[Formel 2]
1820.
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III. 3. Troppau und Laibach.
Dieſe Ueberlegenheit des klaren Willens mußte auch Kaiſer Alexan-
der bald genug empfinden. Der Czar wollte den Zweck ohne die Mittel,
er ſchwankte wieder zwiſchen den Rathſchlägen Neſſelrode’s und Kapodi-
ſtrias’, und die Erfahrungen, die er ſoeben auf ſeinem zweiten polniſchen
Reichstage geſammelt, konnten ihm wahrlich nicht die Kraft des Entſchluſſes
ſtählen. Welch ein widerwärtiges Bild politiſcher Thorheit war ihm dort
entgegengetreten! Eine ganze Reihe verſtändiger Geſetze unter tollen Reden
ſammt und ſonders verworfen; auf den Gallerien lärmende und drohende
Studenten; dazu im Lande überall das unfaßbare und doch Jedermann
fühlbare Treiben der nationalen Freimaurer, und in dem neuen natio-
nalen Heere nur eine große Verſchwörung. Unaufhaltſam trieb das ver-
blendete Volk einer neuen Revolution entgegen. Trotz alledem wollte
Alexander die Hoffnung nicht aufgeben, daß die Freiheit unter den Fitti-
chen des weißen Adlers eine Heimſtätte finden werde. Er ſchloß den un-
fruchtbaren Reichstag mit einigen ſchmerzlichen, aber liebevollen Vorwürfen.
„Ihr habt, ſo rief er den Landboten zu, das Gute für das Böſe erhalten,
Polen iſt in die Reihe der Staaten wieder eingetreten. Ich werde bei
meinen Abſichten beharren. Fraget Euer Gewiſſen und Ihr werdet wiſſen,
ob Ihr dem Lande alle die Dienſte geleiſtet habt, die es von Eurer Weis-
heit erwartet.“ Dieſe Thronrede verſchickte er ſodann an die Geſandt-
ſchaften, nebſt einem eigenhändigen Rundſchreiben, worin er nochmals
die conſtitutionellen Inſtitutionen pries, welche der faſt einſtimmige Wunſch
der Völker fordere. Immerhin ließen die widerwärtigen Vorgänge einen
Stachel in der Seele des Czaren zurück. Obgleich Alexander dem Wiener
Hofe noch keineswegs völlig traute, ſo empfing er doch den Geſandten
Lebzeltern, der mit vertraulichen Aufträgen des Kaiſers Franz nach War-
ſchau kam, ſehr herzlich, und ließ durch Kapodiſtrias der Hofburg aus-
ſprechen, wie viel Segen er ſich von der Eintracht der großen Mächte ver-
ſpreche: „zweimal haben die Völker und die Fürſten den Bund der mäch-
tigſten Monarchen geſegnet; ſie werden es auch diesmal thun.“ Zugleich
bat er die engliſche Regierung, mit vollem Vertrauen an der Reunion
theilzunehmen. *) An eine Intervention in Spanien wagte er für jetzt
nicht mehr zu denken; er ſah ein, daß die Thätigkeit des Congreſſes ſich
zunächſt auf Italien beſchränken mußte. —
So war die Lage am 20. Oktober, als die Vertreter der Mächte nach
und nach in der ſtillen Hauptſtadt des öſterreichiſchen Schleſiens eintrafen.
Hier im abgelegenen Wieſenthale der Oppa konnte man ganz den Ge-
ſchäften leben, hier war man ſicher vor allen den Neugierigen und Bitt-
*) Kapodiſtrias an Metternich, Warſchau [FORMEL]; an Fürſt Lieven in London.
[FORMEL] 1820.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/176>, abgerufen am 25.11.2024.
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