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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 3. Troppau und Laibach.
der Parteikampf mildere Formen annehmen würde. Damals erregten
die Betrachtungen der Frau von Stael über die französische Revolution
allgemeine Bewunderung -- das politische Testament der Tochter Necker's,
das noch einmal mit der ganzen Selbstgerechtigkeit des französischen Doktri-
narismus die alten, dem Herzen der Verstorbenen so theueren constitu-
tionellen Heilswahrheiten verkündigte: nur wenn Frankreich unbedingt
die englischen Institutionen annehme, könne die Nation wieder gesunden
und eine neue Blüthezeit der Künste und Wissenschaft erleben; dann
würden auch die Frauen wieder tugendhafter werden und der Ehrgeiz
der Männer nicht mehr nach dem Mammon, sondern nach den edleren
Kränzen des patriotischen Ruhmes trachten; wählet, so schloß sie, zwischen
der Ruhmsucht und der Geldgier! Diese Weissagungen der edlen Frau,
die sich von der wachsenden Macht der Börse und ihrem Einfluß auf
die Abgeordneten offenbar nichts träumen ließ, fanden noch begeisterte
Gläubige; die ganze mächtige Partei der Doktrinäre, der weitaus die
meisten literarischen Talente der Nation angehörten, gab sich der ehrlichen
Hoffnung hin, daß die parlamentarischen Formen den Franzosen einen
neuen Idealismus erwecken würden.

Und doch fehlte diesem Volke die erste Vorbedingung constitutioneller
Freiheit, die Achtung vor dem Rechte. Es war Frankreichs Schicksal, alle
die großen Kämpfe, welche Europa erschütterten, mit höchster Leidenschaft
durchzufechten. Tödlich verfeindet wie einst Ligisten und Hugenotten stan-
den Legitimisten und Radikale einander gegenüber, Beide zu schwach zur
Herrschaft, Beide stark genug um den verfassungstreuen Mittelparteien
die Massen des Volks zu entfremden. Während das Comite directeur
der revolutionären Vereine an seinen Verschwörungsplänen weiter spann,
führten die Ultras des Pavillons Marsan ebenso unbelehrbar den ge-
heimen Krieg gegen die Charte fort. Noch immer waren die Emigranten
für ihre Verluste nicht entschädigt, und so lange der Raub der Revolu-
tion ganz ungesühnt blieb, konnte die Partei, die sich so gern für die
Stütze des Thrones ausgab, die neue Ordnung der Dinge nicht ehrlich
anerkennen. Von Altersher war sie an verrätherische Zettelungen mit
dem Auslande gewöhnt; auch jetzt wieder bestürmten Chateaubriand und
andere Ultras die großen Mächte mit Bitten und Rathschlägen. Im
Oktober 1819 kam in tiefem Geheimniß ein Anhänger des Grafen von
Artois nach Berlin und überreichte hier wie in Wien eine Denkschrift,
welche die Höfe der großen Allianz beschwor, mit Hilfe des Thronfolgers
dem verblendeten Könige die Augen zu öffnen und ihn zu einem Staats-
streiche zu bewegen; im Nothfalle würde der verständige Theil der Nation
sogar eine Intervention des Auslands zu Gunsten der königlichen Voll-
gewalt willkommen heißen.*)

*) Memoire sur la situation de la France et sur les moyens de sauver cette
monarchie,
Okt. 1819. Observations dazu, aus Oesterreich gesendet, Okt. 1819. Rc-

III. 3. Troppau und Laibach.
der Parteikampf mildere Formen annehmen würde. Damals erregten
die Betrachtungen der Frau von Staël über die franzöſiſche Revolution
allgemeine Bewunderung — das politiſche Teſtament der Tochter Necker’s,
das noch einmal mit der ganzen Selbſtgerechtigkeit des franzöſiſchen Doktri-
narismus die alten, dem Herzen der Verſtorbenen ſo theueren conſtitu-
tionellen Heilswahrheiten verkündigte: nur wenn Frankreich unbedingt
die engliſchen Inſtitutionen annehme, könne die Nation wieder geſunden
und eine neue Blüthezeit der Künſte und Wiſſenſchaft erleben; dann
würden auch die Frauen wieder tugendhafter werden und der Ehrgeiz
der Männer nicht mehr nach dem Mammon, ſondern nach den edleren
Kränzen des patriotiſchen Ruhmes trachten; wählet, ſo ſchloß ſie, zwiſchen
der Ruhmſucht und der Geldgier! Dieſe Weiſſagungen der edlen Frau,
die ſich von der wachſenden Macht der Börſe und ihrem Einfluß auf
die Abgeordneten offenbar nichts träumen ließ, fanden noch begeiſterte
Gläubige; die ganze mächtige Partei der Doktrinäre, der weitaus die
meiſten literariſchen Talente der Nation angehörten, gab ſich der ehrlichen
Hoffnung hin, daß die parlamentariſchen Formen den Franzoſen einen
neuen Idealismus erwecken würden.

Und doch fehlte dieſem Volke die erſte Vorbedingung conſtitutioneller
Freiheit, die Achtung vor dem Rechte. Es war Frankreichs Schickſal, alle
die großen Kämpfe, welche Europa erſchütterten, mit höchſter Leidenſchaft
durchzufechten. Tödlich verfeindet wie einſt Ligiſten und Hugenotten ſtan-
den Legitimiſten und Radikale einander gegenüber, Beide zu ſchwach zur
Herrſchaft, Beide ſtark genug um den verfaſſungstreuen Mittelparteien
die Maſſen des Volks zu entfremden. Während das Comité directeur
der revolutionären Vereine an ſeinen Verſchwörungsplänen weiter ſpann,
führten die Ultras des Pavillons Marſan ebenſo unbelehrbar den ge-
heimen Krieg gegen die Charte fort. Noch immer waren die Emigranten
für ihre Verluſte nicht entſchädigt, und ſo lange der Raub der Revolu-
tion ganz ungeſühnt blieb, konnte die Partei, die ſich ſo gern für die
Stütze des Thrones ausgab, die neue Ordnung der Dinge nicht ehrlich
anerkennen. Von Altersher war ſie an verrätheriſche Zettelungen mit
dem Auslande gewöhnt; auch jetzt wieder beſtürmten Chateaubriand und
andere Ultras die großen Mächte mit Bitten und Rathſchlägen. Im
Oktober 1819 kam in tiefem Geheimniß ein Anhänger des Grafen von
Artois nach Berlin und überreichte hier wie in Wien eine Denkſchrift,
welche die Höfe der großen Allianz beſchwor, mit Hilfe des Thronfolgers
dem verblendeten Könige die Augen zu öffnen und ihn zu einem Staats-
ſtreiche zu bewegen; im Nothfalle würde der verſtändige Theil der Nation
ſogar eine Intervention des Auslands zu Gunſten der königlichen Voll-
gewalt willkommen heißen.*)

*) Mémoire sur la situation de la France et sur les moyens de sauver cette
monarchie,
Okt. 1819. Observations dazu, aus Oeſterreich geſendet, Okt. 1819. Rc-
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[142/0158] III. 3. Troppau und Laibach. der Parteikampf mildere Formen annehmen würde. Damals erregten die Betrachtungen der Frau von Staël über die franzöſiſche Revolution allgemeine Bewunderung — das politiſche Teſtament der Tochter Necker’s, das noch einmal mit der ganzen Selbſtgerechtigkeit des franzöſiſchen Doktri- narismus die alten, dem Herzen der Verſtorbenen ſo theueren conſtitu- tionellen Heilswahrheiten verkündigte: nur wenn Frankreich unbedingt die engliſchen Inſtitutionen annehme, könne die Nation wieder geſunden und eine neue Blüthezeit der Künſte und Wiſſenſchaft erleben; dann würden auch die Frauen wieder tugendhafter werden und der Ehrgeiz der Männer nicht mehr nach dem Mammon, ſondern nach den edleren Kränzen des patriotiſchen Ruhmes trachten; wählet, ſo ſchloß ſie, zwiſchen der Ruhmſucht und der Geldgier! Dieſe Weiſſagungen der edlen Frau, die ſich von der wachſenden Macht der Börſe und ihrem Einfluß auf die Abgeordneten offenbar nichts träumen ließ, fanden noch begeiſterte Gläubige; die ganze mächtige Partei der Doktrinäre, der weitaus die meiſten literariſchen Talente der Nation angehörten, gab ſich der ehrlichen Hoffnung hin, daß die parlamentariſchen Formen den Franzoſen einen neuen Idealismus erwecken würden. Und doch fehlte dieſem Volke die erſte Vorbedingung conſtitutioneller Freiheit, die Achtung vor dem Rechte. Es war Frankreichs Schickſal, alle die großen Kämpfe, welche Europa erſchütterten, mit höchſter Leidenſchaft durchzufechten. Tödlich verfeindet wie einſt Ligiſten und Hugenotten ſtan- den Legitimiſten und Radikale einander gegenüber, Beide zu ſchwach zur Herrſchaft, Beide ſtark genug um den verfaſſungstreuen Mittelparteien die Maſſen des Volks zu entfremden. Während das Comité directeur der revolutionären Vereine an ſeinen Verſchwörungsplänen weiter ſpann, führten die Ultras des Pavillons Marſan ebenſo unbelehrbar den ge- heimen Krieg gegen die Charte fort. Noch immer waren die Emigranten für ihre Verluſte nicht entſchädigt, und ſo lange der Raub der Revolu- tion ganz ungeſühnt blieb, konnte die Partei, die ſich ſo gern für die Stütze des Thrones ausgab, die neue Ordnung der Dinge nicht ehrlich anerkennen. Von Altersher war ſie an verrätheriſche Zettelungen mit dem Auslande gewöhnt; auch jetzt wieder beſtürmten Chateaubriand und andere Ultras die großen Mächte mit Bitten und Rathſchlägen. Im Oktober 1819 kam in tiefem Geheimniß ein Anhänger des Grafen von Artois nach Berlin und überreichte hier wie in Wien eine Denkſchrift, welche die Höfe der großen Allianz beſchwor, mit Hilfe des Thronfolgers dem verblendeten Könige die Augen zu öffnen und ihn zu einem Staats- ſtreiche zu bewegen; im Nothfalle würde der verſtändige Theil der Nation ſogar eine Intervention des Auslands zu Gunſten der königlichen Voll- gewalt willkommen heißen. *) *) Mémoire sur la situation de la France et sur les moyens de sauver cette monarchie, Okt. 1819. Observations dazu, aus Oeſterreich geſendet, Okt. 1819. Rc-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/158>, abgerufen am 27.11.2024.