Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
könne.*) Historischer Sinn und bureaukratische Schablone geriethen hart an
einander. Die Mehrheit aber half sich über alle Bedenken hinweg mit dem
doktrinären, selbst theoretisch anfechtbaren Satze: die Gemeinde sei der
Mikrokosmus des Staates und könne darum wie dieser nur eine gleich-
mäßige Verfassung erhalten. Ebenso doktrinär war die weitere Behaup-
tung, daß der Unterschied der Bildung zwischen den einzelnen Provinzen
gar nicht so groß sei -- als ob die Gemeindeverfassung durch die Bil-
dung und nicht vielmehr durch die wirthschaftlichen Machtverhältnisse be-
dingt würde. Darum beschloß die Mehrheit, eine einzige Landgemeinde-
ordnung für den ganzen Staat auszuarbeiten, obgleich sie selber einge-
stehen mußte, daß dies allgemeine Gesetz unvollständig sei und der Er-
gänzung durch Provinzialgesetze bedürfe. Durch diesen schweren Mißgriff
ward die Grundlage des Hardenbergischen Verfassungsplanes unrettbar
verdorben, außer dem Kastengeiste der Privilegirten auch der berechtigte
Partikularismus der Provinzen zu erbittertem Kampfe herausgefordert. --

Im Einzelnen enthielten die Entwürfe, wie von so tüchtigen Beamten
zu erwarten war, manchen trefflichen Gedanken. Die Commission erkannte
den im deutschen Leben so tief begründeten Gegensatz von Stadt und Land
als eine gegebene Thatsache an, sie wollte dem Bauern Alles was ihn
angehe in einem Gesetze handlich beisammen bieten und verwarf daher
den Vorschlag, Dorf und Stadt nach französischer Weise in einen Rahmen
zu zwängen, obgleich mehrere Regierungen der westlichen Provinzen sich
lebhaft dafür verwendet hatten. Der Entwurf der Landgemeindeordnung
nahm den Fortbestand der vorhandenen Einzelgemeinden als Regel an,
gestattete jedoch benachbarten kleinen Ortschaften sich durch freie Ueberein-
kunft zu einer größeren Gemeinde zusammenzuthun und sprach die naive
Erwartung aus, diese Erlaubniß werde häufig benutzt werden, sobald nur
erst "die allgemeine Repräsentation des Staates" den Gemeingeist geweckt
habe. Vor dem Frühlingshauche des constitutionellen Staatslebens sollte
also das dicke Eis des bäuerlichen Partikularismus von selbst zerschmelzen!
Die rheinischen Bürgermeistereien fielen damit hinweg; indeß ward den
Regierungen gestattet für die besonderen Zwecke des Wegebaus, des Schul-
wesens, der Armenpflege u. s. w. Sammtgemeinden zu bilden und hierzu
auch die Bürgermeistereien zu benutzen. In jeder Gemeinde ein freige-
wählter, vom Landrathe bestätigter Schulze mit Schöppen und eine Ge-
meindeversammlung, die aus allen Gemeindebürgern, in größeren Ort-
schaften aus Repräsentanten bestehen soll; das Gemeindebürgerrecht sehr
weit ausgedehnt, so daß es der Regel nach keinem selbständigen Hausvater,
wenn er nicht Knecht oder Tagelöhner ist, versagt werden darf.

Behutsamer lauteten die Vorschläge über die Grundherrschaft. Die
Commission wagte nicht, die Aufhebung der gutsherrlichen Polizei grades-

*) Vincke, Separatvotum zur Landgemeindeordnung (Beilage zu den Entwürfen).

III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.
könne.*) Hiſtoriſcher Sinn und bureaukratiſche Schablone geriethen hart an
einander. Die Mehrheit aber half ſich über alle Bedenken hinweg mit dem
doktrinären, ſelbſt theoretiſch anfechtbaren Satze: die Gemeinde ſei der
Mikrokosmus des Staates und könne darum wie dieſer nur eine gleich-
mäßige Verfaſſung erhalten. Ebenſo doktrinär war die weitere Behaup-
tung, daß der Unterſchied der Bildung zwiſchen den einzelnen Provinzen
gar nicht ſo groß ſei — als ob die Gemeindeverfaſſung durch die Bil-
dung und nicht vielmehr durch die wirthſchaftlichen Machtverhältniſſe be-
dingt würde. Darum beſchloß die Mehrheit, eine einzige Landgemeinde-
ordnung für den ganzen Staat auszuarbeiten, obgleich ſie ſelber einge-
ſtehen mußte, daß dies allgemeine Geſetz unvollſtändig ſei und der Er-
gänzung durch Provinzialgeſetze bedürfe. Durch dieſen ſchweren Mißgriff
ward die Grundlage des Hardenbergiſchen Verfaſſungsplanes unrettbar
verdorben, außer dem Kaſtengeiſte der Privilegirten auch der berechtigte
Partikularismus der Provinzen zu erbittertem Kampfe herausgefordert. —

Im Einzelnen enthielten die Entwürfe, wie von ſo tüchtigen Beamten
zu erwarten war, manchen trefflichen Gedanken. Die Commiſſion erkannte
den im deutſchen Leben ſo tief begründeten Gegenſatz von Stadt und Land
als eine gegebene Thatſache an, ſie wollte dem Bauern Alles was ihn
angehe in einem Geſetze handlich beiſammen bieten und verwarf daher
den Vorſchlag, Dorf und Stadt nach franzöſiſcher Weiſe in einen Rahmen
zu zwängen, obgleich mehrere Regierungen der weſtlichen Provinzen ſich
lebhaft dafür verwendet hatten. Der Entwurf der Landgemeindeordnung
nahm den Fortbeſtand der vorhandenen Einzelgemeinden als Regel an,
geſtattete jedoch benachbarten kleinen Ortſchaften ſich durch freie Ueberein-
kunft zu einer größeren Gemeinde zuſammenzuthun und ſprach die naive
Erwartung aus, dieſe Erlaubniß werde häufig benutzt werden, ſobald nur
erſt „die allgemeine Repräſentation des Staates“ den Gemeingeiſt geweckt
habe. Vor dem Frühlingshauche des conſtitutionellen Staatslebens ſollte
alſo das dicke Eis des bäuerlichen Partikularismus von ſelbſt zerſchmelzen!
Die rheiniſchen Bürgermeiſtereien fielen damit hinweg; indeß ward den
Regierungen geſtattet für die beſonderen Zwecke des Wegebaus, des Schul-
weſens, der Armenpflege u. ſ. w. Sammtgemeinden zu bilden und hierzu
auch die Bürgermeiſtereien zu benutzen. In jeder Gemeinde ein freige-
wählter, vom Landrathe beſtätigter Schulze mit Schöppen und eine Ge-
meindeverſammlung, die aus allen Gemeindebürgern, in größeren Ort-
ſchaften aus Repräſentanten beſtehen ſoll; das Gemeindebürgerrecht ſehr
weit ausgedehnt, ſo daß es der Regel nach keinem ſelbſtändigen Hausvater,
wenn er nicht Knecht oder Tagelöhner iſt, verſagt werden darf.

Behutſamer lauteten die Vorſchläge über die Grundherrſchaft. Die
Commiſſion wagte nicht, die Aufhebung der gutsherrlichen Polizei grades-

*) Vincke, Separatvotum zur Landgemeindeordnung (Beilage zu den Entwürfen).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0124" n="108"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> 2. Die letzten Reformen Hardenbergs.</fw><lb/>
könne.<note place="foot" n="*)">Vincke, Separatvotum zur Landgemeindeordnung (Beilage zu den Entwürfen).</note> Hi&#x017F;tori&#x017F;cher Sinn und bureaukrati&#x017F;che Schablone geriethen hart an<lb/>
einander. Die Mehrheit aber half &#x017F;ich über alle Bedenken hinweg mit dem<lb/>
doktrinären, &#x017F;elb&#x017F;t theoreti&#x017F;ch anfechtbaren Satze: die Gemeinde &#x017F;ei der<lb/>
Mikrokosmus des Staates und könne darum wie die&#x017F;er nur eine gleich-<lb/>
mäßige Verfa&#x017F;&#x017F;ung erhalten. Eben&#x017F;o doktrinär war die weitere Behaup-<lb/>
tung, daß der Unter&#x017F;chied der Bildung zwi&#x017F;chen den einzelnen Provinzen<lb/>
gar nicht &#x017F;o groß &#x017F;ei &#x2014; als ob die Gemeindeverfa&#x017F;&#x017F;ung durch die Bil-<lb/>
dung und nicht vielmehr durch die wirth&#x017F;chaftlichen Machtverhältni&#x017F;&#x017F;e be-<lb/>
dingt würde. Darum be&#x017F;chloß die Mehrheit, eine einzige Landgemeinde-<lb/>
ordnung für den ganzen Staat auszuarbeiten, obgleich &#x017F;ie &#x017F;elber einge-<lb/>
&#x017F;tehen mußte, daß dies allgemeine Ge&#x017F;etz unvoll&#x017F;tändig &#x017F;ei und der Er-<lb/>
gänzung durch Provinzialge&#x017F;etze bedürfe. Durch die&#x017F;en &#x017F;chweren Mißgriff<lb/>
ward die Grundlage des Hardenbergi&#x017F;chen Verfa&#x017F;&#x017F;ungsplanes unrettbar<lb/>
verdorben, außer dem Ka&#x017F;tengei&#x017F;te der Privilegirten auch der berechtigte<lb/>
Partikularismus der Provinzen zu erbittertem Kampfe herausgefordert. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Im Einzelnen enthielten die Entwürfe, wie von &#x017F;o tüchtigen Beamten<lb/>
zu erwarten war, manchen trefflichen Gedanken. Die Commi&#x017F;&#x017F;ion erkannte<lb/>
den im deut&#x017F;chen Leben &#x017F;o tief begründeten Gegen&#x017F;atz von Stadt und Land<lb/>
als eine gegebene That&#x017F;ache an, &#x017F;ie wollte dem Bauern Alles was ihn<lb/>
angehe in einem Ge&#x017F;etze handlich bei&#x017F;ammen bieten und verwarf daher<lb/>
den Vor&#x017F;chlag, Dorf und Stadt nach franzö&#x017F;i&#x017F;cher Wei&#x017F;e in einen Rahmen<lb/>
zu zwängen, obgleich mehrere Regierungen der we&#x017F;tlichen Provinzen &#x017F;ich<lb/>
lebhaft dafür verwendet hatten. Der Entwurf der Landgemeindeordnung<lb/>
nahm den Fortbe&#x017F;tand der vorhandenen Einzelgemeinden als Regel an,<lb/>
ge&#x017F;tattete jedoch benachbarten kleinen Ort&#x017F;chaften &#x017F;ich durch freie Ueberein-<lb/>
kunft zu einer größeren Gemeinde zu&#x017F;ammenzuthun und &#x017F;prach die naive<lb/>
Erwartung aus, die&#x017F;e Erlaubniß werde häufig benutzt werden, &#x017F;obald nur<lb/>
er&#x017F;t &#x201E;die allgemeine Reprä&#x017F;entation des Staates&#x201C; den Gemeingei&#x017F;t geweckt<lb/>
habe. Vor dem Frühlingshauche des con&#x017F;titutionellen Staatslebens &#x017F;ollte<lb/>
al&#x017F;o das dicke Eis des bäuerlichen Partikularismus von &#x017F;elb&#x017F;t zer&#x017F;chmelzen!<lb/>
Die rheini&#x017F;chen Bürgermei&#x017F;tereien fielen damit hinweg; indeß ward den<lb/>
Regierungen ge&#x017F;tattet für die be&#x017F;onderen Zwecke des Wegebaus, des Schul-<lb/>
we&#x017F;ens, der Armenpflege u. &#x017F;. w. Sammtgemeinden zu bilden und hierzu<lb/>
auch die Bürgermei&#x017F;tereien zu benutzen. In jeder Gemeinde ein freige-<lb/>
wählter, vom Landrathe be&#x017F;tätigter Schulze mit Schöppen und eine Ge-<lb/>
meindever&#x017F;ammlung, die aus allen Gemeindebürgern, in größeren Ort-<lb/>
&#x017F;chaften aus Reprä&#x017F;entanten be&#x017F;tehen &#x017F;oll; das Gemeindebürgerrecht &#x017F;ehr<lb/>
weit ausgedehnt, &#x017F;o daß es der Regel nach keinem &#x017F;elb&#x017F;tändigen Hausvater,<lb/>
wenn er nicht Knecht oder Tagelöhner i&#x017F;t, ver&#x017F;agt werden darf.</p><lb/>
          <p>Behut&#x017F;amer lauteten die Vor&#x017F;chläge über die Grundherr&#x017F;chaft. Die<lb/>
Commi&#x017F;&#x017F;ion wagte nicht, die Aufhebung der gutsherrlichen Polizei grades-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[108/0124] III. 2. Die letzten Reformen Hardenbergs. könne. *) Hiſtoriſcher Sinn und bureaukratiſche Schablone geriethen hart an einander. Die Mehrheit aber half ſich über alle Bedenken hinweg mit dem doktrinären, ſelbſt theoretiſch anfechtbaren Satze: die Gemeinde ſei der Mikrokosmus des Staates und könne darum wie dieſer nur eine gleich- mäßige Verfaſſung erhalten. Ebenſo doktrinär war die weitere Behaup- tung, daß der Unterſchied der Bildung zwiſchen den einzelnen Provinzen gar nicht ſo groß ſei — als ob die Gemeindeverfaſſung durch die Bil- dung und nicht vielmehr durch die wirthſchaftlichen Machtverhältniſſe be- dingt würde. Darum beſchloß die Mehrheit, eine einzige Landgemeinde- ordnung für den ganzen Staat auszuarbeiten, obgleich ſie ſelber einge- ſtehen mußte, daß dies allgemeine Geſetz unvollſtändig ſei und der Er- gänzung durch Provinzialgeſetze bedürfe. Durch dieſen ſchweren Mißgriff ward die Grundlage des Hardenbergiſchen Verfaſſungsplanes unrettbar verdorben, außer dem Kaſtengeiſte der Privilegirten auch der berechtigte Partikularismus der Provinzen zu erbittertem Kampfe herausgefordert. — Im Einzelnen enthielten die Entwürfe, wie von ſo tüchtigen Beamten zu erwarten war, manchen trefflichen Gedanken. Die Commiſſion erkannte den im deutſchen Leben ſo tief begründeten Gegenſatz von Stadt und Land als eine gegebene Thatſache an, ſie wollte dem Bauern Alles was ihn angehe in einem Geſetze handlich beiſammen bieten und verwarf daher den Vorſchlag, Dorf und Stadt nach franzöſiſcher Weiſe in einen Rahmen zu zwängen, obgleich mehrere Regierungen der weſtlichen Provinzen ſich lebhaft dafür verwendet hatten. Der Entwurf der Landgemeindeordnung nahm den Fortbeſtand der vorhandenen Einzelgemeinden als Regel an, geſtattete jedoch benachbarten kleinen Ortſchaften ſich durch freie Ueberein- kunft zu einer größeren Gemeinde zuſammenzuthun und ſprach die naive Erwartung aus, dieſe Erlaubniß werde häufig benutzt werden, ſobald nur erſt „die allgemeine Repräſentation des Staates“ den Gemeingeiſt geweckt habe. Vor dem Frühlingshauche des conſtitutionellen Staatslebens ſollte alſo das dicke Eis des bäuerlichen Partikularismus von ſelbſt zerſchmelzen! Die rheiniſchen Bürgermeiſtereien fielen damit hinweg; indeß ward den Regierungen geſtattet für die beſonderen Zwecke des Wegebaus, des Schul- weſens, der Armenpflege u. ſ. w. Sammtgemeinden zu bilden und hierzu auch die Bürgermeiſtereien zu benutzen. In jeder Gemeinde ein freige- wählter, vom Landrathe beſtätigter Schulze mit Schöppen und eine Ge- meindeverſammlung, die aus allen Gemeindebürgern, in größeren Ort- ſchaften aus Repräſentanten beſtehen ſoll; das Gemeindebürgerrecht ſehr weit ausgedehnt, ſo daß es der Regel nach keinem ſelbſtändigen Hausvater, wenn er nicht Knecht oder Tagelöhner iſt, verſagt werden darf. Behutſamer lauteten die Vorſchläge über die Grundherrſchaft. Die Commiſſion wagte nicht, die Aufhebung der gutsherrlichen Polizei grades- *) Vincke, Separatvotum zur Landgemeindeordnung (Beilage zu den Entwürfen).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/124
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/124>, abgerufen am 30.11.2024.