Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. Wissenschaft, ja selbst der Redlichkeit unseres Volkes noch hochgefährlichwerden sollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überschritt die Philosophie bald die festen Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; sie ver- schmähte sich suchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu bethätigen, wie die Alten von ihr verlangten, sondern behauptete schlechthin eines zu sein mit ihrem Gegenstande, dem Urwissen selbst, eines auch mit der Sitt- lichkeit, eines sogar mit der Poesie, von der sie einst ausgegangen und zu der sie einst wieder zurückkehren werde. Wer sich zu der Idee des Universums erhoben hatte, bedurfte nicht mehr jener Beweise, welche der atomistische Gelehrte mühsam aus den Schachten der empirischen Welt emporgrub; er gewann aus der Anschauung jener Idee selbst unmittelbar die Kraft, die Natur zu schaffen, ihren Mechanismus mit Freiheit zu beleben. Während seines Aufenthalts in Jena hatte sich Schelling lange allein Aus der Anschauung der ewigen Entwicklung des historischen Lebens II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. Wiſſenſchaft, ja ſelbſt der Redlichkeit unſeres Volkes noch hochgefährlichwerden ſollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überſchritt die Philoſophie bald die feſten Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; ſie ver- ſchmähte ſich ſuchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu bethätigen, wie die Alten von ihr verlangten, ſondern behauptete ſchlechthin eines zu ſein mit ihrem Gegenſtande, dem Urwiſſen ſelbſt, eines auch mit der Sitt- lichkeit, eines ſogar mit der Poeſie, von der ſie einſt ausgegangen und zu der ſie einſt wieder zurückkehren werde. Wer ſich zu der Idee des Univerſums erhoben hatte, bedurfte nicht mehr jener Beweiſe, welche der atomiſtiſche Gelehrte mühſam aus den Schachten der empiriſchen Welt emporgrub; er gewann aus der Anſchauung jener Idee ſelbſt unmittelbar die Kraft, die Natur zu ſchaffen, ihren Mechanismus mit Freiheit zu beleben. Während ſeines Aufenthalts in Jena hatte ſich Schelling lange allein Aus der Anſchauung der ewigen Entwicklung des hiſtoriſchen Lebens <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0098" n="84"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.</fw><lb/> Wiſſenſchaft, ja ſelbſt der Redlichkeit unſeres Volkes noch hochgefährlich<lb/> werden ſollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überſchritt die Philoſophie<lb/> bald die feſten Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; ſie ver-<lb/> ſchmähte ſich ſuchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu bethätigen,<lb/> wie die Alten von ihr verlangten, ſondern behauptete ſchlechthin eines zu<lb/> ſein mit ihrem Gegenſtande, dem Urwiſſen ſelbſt, eines auch mit der Sitt-<lb/> lichkeit, eines ſogar mit der Poeſie, von der ſie einſt ausgegangen und<lb/> zu der ſie einſt wieder zurückkehren werde. 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Die Naturphiloſophie blieb fortan ſeinen Schü-<lb/> lern überlaſſen und verfiel bald gänzlich in myſtiſche und magiſche<lb/> Spielerei; der Wundermann Ennemoſer ſah ſchon die Zeit kommen, da<lb/> die Prieſter, im glücklichen Alleinbeſitze der magnetiſchen Heilkunde, wieder<lb/> Leib und Seele der Völker beherrſchen würden. Der Meiſter ſelbſt aber<lb/> gelangte, da er in die hiſtoriſche Welt einkehrte, zu den fruchtbarſten und<lb/> geſundeſten Gedanken ſeines Lebens; ſeinem Künſtlergeiſte kamen wirklich<lb/> Augenblicke der Erleuchtung, die ihm das Weſen der Dinge unmittelbar<lb/> vor die Augen führten.</p><lb/> <p>Aus der Anſchauung der ewigen Entwicklung des hiſtoriſchen Lebens<lb/> ergab ſich ihm mit Beſtimmtheit was Herder doch nur geahnt hatte: die<lb/> Erkenntniß, daß Recht und Religion als Offenbarungen der weltbauenden<lb/> Vernunft und darum als nothwendig werdend zu verſtehen ſeien. Die voll-<lb/> endete Welt der Geſchichte fand er in dem Staate, dem großen Kunſtwerke,<lb/> das, hoch erhaben über dem Willen der einzelnen Menſchen, ſich ſelber<lb/> Zweck ſei und die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in dem<lb/> äußeren Leben der Menſchheit verwirkliche. Manche köſtliche Ausſprüche<lb/> ließen erkennen, wie tief er in das innerſte Leben der Geſchichte einge-<lb/> drungen war; ſeinem bildungsſtolzen Jahrhundert rief er die Warnung zu:<lb/> „ein aufgeklärtes Volk, das Alles in Gedanken auflöſt, verliert mit dem<lb/> Dunkel auch die Stärke und jenes barbariſche Princip, das die Grundlage<lb/> aller Größe und Schönheit iſt.“ Jedoch zum Abſchluß gelangte ſeine Ge-<lb/> ſchichtsphiloſophie niemals. Der früh erworbene Ruhm hatte den Jüng-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [84/0098]
II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Wiſſenſchaft, ja ſelbſt der Redlichkeit unſeres Volkes noch hochgefährlich
werden ſollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überſchritt die Philoſophie
bald die feſten Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; ſie ver-
ſchmähte ſich ſuchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu bethätigen,
wie die Alten von ihr verlangten, ſondern behauptete ſchlechthin eines zu
ſein mit ihrem Gegenſtande, dem Urwiſſen ſelbſt, eines auch mit der Sitt-
lichkeit, eines ſogar mit der Poeſie, von der ſie einſt ausgegangen und
zu der ſie einſt wieder zurückkehren werde. Wer ſich zu der Idee des
Univerſums erhoben hatte, bedurfte nicht mehr jener Beweiſe, welche der
atomiſtiſche Gelehrte mühſam aus den Schachten der empiriſchen Welt
emporgrub; er gewann aus der Anſchauung jener Idee ſelbſt unmittelbar
die Kraft, die Natur zu ſchaffen, ihren Mechanismus mit Freiheit zu beleben.
Während ſeines Aufenthalts in Jena hatte ſich Schelling lange allein
dem Ausbau ſeines naturphiloſophiſchen Syſtems gewidmet. Erſt in den
geiſtvollen Vorleſungen über das akademiſche Studium (1803) wandte er
ſich jener zweiten Offenbarung Gottes, der Welt der Geſchichte zu. Ein
glücklicher Inſtinkt hielt ihn im Einklang mit der allgemeinen Bewegung der
Zeit. Er erkannte jetzt, „daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Le-
ben im Staate der Punkt ſei, um welchen ſich Alles bewegt“, und arbeitete
dann in Würzburg, Erlangen, München an der Begründung ſeiner „ge-
ſchichtlichen Philoſophie“. Die Naturphiloſophie blieb fortan ſeinen Schü-
lern überlaſſen und verfiel bald gänzlich in myſtiſche und magiſche
Spielerei; der Wundermann Ennemoſer ſah ſchon die Zeit kommen, da
die Prieſter, im glücklichen Alleinbeſitze der magnetiſchen Heilkunde, wieder
Leib und Seele der Völker beherrſchen würden. Der Meiſter ſelbſt aber
gelangte, da er in die hiſtoriſche Welt einkehrte, zu den fruchtbarſten und
geſundeſten Gedanken ſeines Lebens; ſeinem Künſtlergeiſte kamen wirklich
Augenblicke der Erleuchtung, die ihm das Weſen der Dinge unmittelbar
vor die Augen führten.
Aus der Anſchauung der ewigen Entwicklung des hiſtoriſchen Lebens
ergab ſich ihm mit Beſtimmtheit was Herder doch nur geahnt hatte: die
Erkenntniß, daß Recht und Religion als Offenbarungen der weltbauenden
Vernunft und darum als nothwendig werdend zu verſtehen ſeien. Die voll-
endete Welt der Geſchichte fand er in dem Staate, dem großen Kunſtwerke,
das, hoch erhaben über dem Willen der einzelnen Menſchen, ſich ſelber
Zweck ſei und die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in dem
äußeren Leben der Menſchheit verwirkliche. Manche köſtliche Ausſprüche
ließen erkennen, wie tief er in das innerſte Leben der Geſchichte einge-
drungen war; ſeinem bildungsſtolzen Jahrhundert rief er die Warnung zu:
„ein aufgeklärtes Volk, das Alles in Gedanken auflöſt, verliert mit dem
Dunkel auch die Stärke und jenes barbariſche Princip, das die Grundlage
aller Größe und Schönheit iſt.“ Jedoch zum Abſchluß gelangte ſeine Ge-
ſchichtsphiloſophie niemals. Der früh erworbene Ruhm hatte den Jüng-
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