Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. Savigny und Boeckh, und drang in die Traumwelt der Naturphilosophietiefer ein als irgend einer der Fachgelehrten. Wie Schelling trotzte er auf die angeborene Wundergabe der unmittelbaren Anschauung, die man weder lehren noch ersitzen könne; durch sie dachte er jene Natursprache zu enträthseln, welche sich bei allen Völkern in geheimnißvollen religiösen Sym- bolen äußere, und also ein Band der Einheit zwischen den Mythen aller Zeiten zu finden. Seine Symbolik bot eine Fülle geistreicher Winke für künf- tige Forschungen; selbst die Theologen mußten ihm danken, weil er sie auf die Bedeutung der vergessenen Neuplatoniker hinwies. Er errieth zuerst, welch eine Welt des Elends und des Grauens hinter den schönen Mythen des Alterthums verborgen liegt, und versenkte sich mit solchem Eifer in diese unheimlichen Mysterien, daß ihm von der hellen Weltfreudigkeit, dem vorherrschenden Charakterzuge des griechischen Volksglaubens, wenig mehr übrig blieb. Auch bemerkte er zuerst die Spuren altorientalischer Priester- weisheit in den Anfängen der hellenischen Cultur; doch die luftige Brücke zwischen dem Morgenlande und dem Abendlande ward aufgerichtet bevor noch der Boden auf beiden Ufern untersucht und befestigt war. Trotz seiner reichen Gelehrsamkeit gelangte der geistvolle Enthusiast nirgends zu gesicherten Ergebnissen, weil er mit vorgefaßter Meinung an die histo- rischen Thatsachen herantrat; am Liebsten verweilte er bei den Pelasgern und anderen unbekannten Urvölkern, hier fand die genialische Willkür der unmittelbaren Anschauung offenes Feld. Durch den Mysticismus seiner Lehre erregte er den Unwillen der II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. Savigny und Boeckh, und drang in die Traumwelt der Naturphiloſophietiefer ein als irgend einer der Fachgelehrten. Wie Schelling trotzte er auf die angeborene Wundergabe der unmittelbaren Anſchauung, die man weder lehren noch erſitzen könne; durch ſie dachte er jene Naturſprache zu enträthſeln, welche ſich bei allen Völkern in geheimnißvollen religiöſen Sym- bolen äußere, und alſo ein Band der Einheit zwiſchen den Mythen aller Zeiten zu finden. Seine Symbolik bot eine Fülle geiſtreicher Winke für künf- tige Forſchungen; ſelbſt die Theologen mußten ihm danken, weil er ſie auf die Bedeutung der vergeſſenen Neuplatoniker hinwies. Er errieth zuerſt, welch eine Welt des Elends und des Grauens hinter den ſchönen Mythen des Alterthums verborgen liegt, und verſenkte ſich mit ſolchem Eifer in dieſe unheimlichen Myſterien, daß ihm von der hellen Weltfreudigkeit, dem vorherrſchenden Charakterzuge des griechiſchen Volksglaubens, wenig mehr übrig blieb. Auch bemerkte er zuerſt die Spuren altorientaliſcher Prieſter- weisheit in den Anfängen der helleniſchen Cultur; doch die luftige Brücke zwiſchen dem Morgenlande und dem Abendlande ward aufgerichtet bevor noch der Boden auf beiden Ufern unterſucht und befeſtigt war. Trotz ſeiner reichen Gelehrſamkeit gelangte der geiſtvolle Enthuſiaſt nirgends zu geſicherten Ergebniſſen, weil er mit vorgefaßter Meinung an die hiſto- riſchen Thatſachen herantrat; am Liebſten verweilte er bei den Pelasgern und anderen unbekannten Urvölkern, hier fand die genialiſche Willkür der unmittelbaren Anſchauung offenes Feld. Durch den Myſticismus ſeiner Lehre erregte er den Unwillen der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0088" n="74"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.</fw><lb/> Savigny und Boeckh, und drang in die Traumwelt der Naturphiloſophie<lb/> tiefer ein als irgend einer der Fachgelehrten. 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Auch bemerkte er zuerſt die Spuren altorientaliſcher Prieſter-<lb/> weisheit in den Anfängen der helleniſchen Cultur; doch die luftige Brücke<lb/> zwiſchen dem Morgenlande und dem Abendlande ward aufgerichtet bevor<lb/> noch der Boden auf beiden Ufern unterſucht und befeſtigt war. Trotz<lb/> ſeiner reichen Gelehrſamkeit gelangte der geiſtvolle Enthuſiaſt nirgends zu<lb/> geſicherten Ergebniſſen, weil er mit vorgefaßter Meinung an die hiſto-<lb/> riſchen Thatſachen herantrat; am Liebſten verweilte er bei den Pelasgern<lb/> und anderen unbekannten Urvölkern, hier fand die genialiſche Willkür<lb/> der unmittelbaren Anſchauung offenes Feld.</p><lb/> <p>Durch den Myſticismus ſeiner Lehre erregte er den Unwillen der<lb/> aufgeklärten Welt. Zunächſt bekämpfte Gottfried Hermann die Symbolik<lb/> mit ſeiner gewohnten würdigen Ruhe; nachher erhob ſich der greiſe Jo-<lb/> hann Heinrich Voß, und ſein grimmiger Schlachtruf klang wie eine<lb/> Stimme aus dem Grabe. Wie wunderbar ſchnell hatte dieſes Geſchlecht<lb/> gelebt, wie fern lag ſchon die Zeit, da einſt die Voſſiſche Homer-Ueber-<lb/> ſetzung mit vollem Recht als eine bahnbrechende That gefeiert ward! Alle<lb/> die neuen Ideen, welche ſeitdem dem deutſchen Genius entſtiegen, waren<lb/> an dem eingefleiſchten alten Rationaliſten ſpurlos vorübergerauſcht. Seine<lb/> Bildung wurzelte noch in der Wolffiſchen Philoſophie, die mit dem Satze<lb/> vom zureichenden Grunde das All zu begreifen dachte. Schon gegen<lb/> Herder und Wolf hatte er ſich ereifert; ja ſelbſt bei Kant ward ihm nicht<lb/> ganz geheuer, da der Königsberger Weiſe doch dem ahnenden Glauben<lb/> ſein gutes Recht ließ und gelaſſen zugab, daß die wiſſenſchaftliche Welt-<lb/> erklärung am letzten Ende nichts erklärt. Nun gar in Heidelberg, in-<lb/> mitten der romantiſchen Schwärmer fühlte ſich dieſer hausbackene Ver-<lb/> ſtand wie verrathen und verkauft. All das Gerede von den unbewußt<lb/> ſchaffenden Kräften des Volksgeiſtes war ihm eitel Phantaſterei; und wer<lb/> durfte ihm von Dogmen und Symbolen ſprechen, da doch erwieſenermaßen<lb/> die Moral allein den Kern aller Religion enthielt? Er ließ ſich’s nicht<lb/> nehmen, daß Deutſchland durch eine große Verſchwörung von Pfaffen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [74/0088]
II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Savigny und Boeckh, und drang in die Traumwelt der Naturphiloſophie
tiefer ein als irgend einer der Fachgelehrten. Wie Schelling trotzte er
auf die angeborene Wundergabe der unmittelbaren Anſchauung, die man
weder lehren noch erſitzen könne; durch ſie dachte er jene Naturſprache zu
enträthſeln, welche ſich bei allen Völkern in geheimnißvollen religiöſen Sym-
bolen äußere, und alſo ein Band der Einheit zwiſchen den Mythen aller
Zeiten zu finden. Seine Symbolik bot eine Fülle geiſtreicher Winke für künf-
tige Forſchungen; ſelbſt die Theologen mußten ihm danken, weil er ſie auf
die Bedeutung der vergeſſenen Neuplatoniker hinwies. Er errieth zuerſt,
welch eine Welt des Elends und des Grauens hinter den ſchönen Mythen
des Alterthums verborgen liegt, und verſenkte ſich mit ſolchem Eifer in
dieſe unheimlichen Myſterien, daß ihm von der hellen Weltfreudigkeit, dem
vorherrſchenden Charakterzuge des griechiſchen Volksglaubens, wenig mehr
übrig blieb. Auch bemerkte er zuerſt die Spuren altorientaliſcher Prieſter-
weisheit in den Anfängen der helleniſchen Cultur; doch die luftige Brücke
zwiſchen dem Morgenlande und dem Abendlande ward aufgerichtet bevor
noch der Boden auf beiden Ufern unterſucht und befeſtigt war. Trotz
ſeiner reichen Gelehrſamkeit gelangte der geiſtvolle Enthuſiaſt nirgends zu
geſicherten Ergebniſſen, weil er mit vorgefaßter Meinung an die hiſto-
riſchen Thatſachen herantrat; am Liebſten verweilte er bei den Pelasgern
und anderen unbekannten Urvölkern, hier fand die genialiſche Willkür
der unmittelbaren Anſchauung offenes Feld.
Durch den Myſticismus ſeiner Lehre erregte er den Unwillen der
aufgeklärten Welt. Zunächſt bekämpfte Gottfried Hermann die Symbolik
mit ſeiner gewohnten würdigen Ruhe; nachher erhob ſich der greiſe Jo-
hann Heinrich Voß, und ſein grimmiger Schlachtruf klang wie eine
Stimme aus dem Grabe. Wie wunderbar ſchnell hatte dieſes Geſchlecht
gelebt, wie fern lag ſchon die Zeit, da einſt die Voſſiſche Homer-Ueber-
ſetzung mit vollem Recht als eine bahnbrechende That gefeiert ward! Alle
die neuen Ideen, welche ſeitdem dem deutſchen Genius entſtiegen, waren
an dem eingefleiſchten alten Rationaliſten ſpurlos vorübergerauſcht. Seine
Bildung wurzelte noch in der Wolffiſchen Philoſophie, die mit dem Satze
vom zureichenden Grunde das All zu begreifen dachte. Schon gegen
Herder und Wolf hatte er ſich ereifert; ja ſelbſt bei Kant ward ihm nicht
ganz geheuer, da der Königsberger Weiſe doch dem ahnenden Glauben
ſein gutes Recht ließ und gelaſſen zugab, daß die wiſſenſchaftliche Welt-
erklärung am letzten Ende nichts erklärt. Nun gar in Heidelberg, in-
mitten der romantiſchen Schwärmer fühlte ſich dieſer hausbackene Ver-
ſtand wie verrathen und verkauft. All das Gerede von den unbewußt
ſchaffenden Kräften des Volksgeiſtes war ihm eitel Phantaſterei; und wer
durfte ihm von Dogmen und Symbolen ſprechen, da doch erwieſenermaßen
die Moral allein den Kern aller Religion enthielt? Er ließ ſich’s nicht
nehmen, daß Deutſchland durch eine große Verſchwörung von Pfaffen
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