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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Schlegels geistreicher Dilettantenarbeit über "die Weisheit der Inder"
wurde auch die Verwandtschaft des Sanskrit mit dem Persischen, den
classischen und den germanischen Sprachen fast allgemein als sicher an-
genommen, wenngleich der Beweis noch fehlte. Schon im Jahre 1816
erschien Bopps kleine Schrift über das Conjugationssystem des Sanskrit;
sie betrachtete den grammatischen Bau dieser ältesten Sprache im Ein-
zelnen, sie zeigte, wie das Futurum durch die Zusammensetzung eines
Hilfszeitworts mit einer Wurzelsilbe gebildet werde u. s. f., und erwies
sodann unanfechtbar die wesentliche Gleichheit der Formen und Wurzeln
des Zeitworts Sein im Sanskrit und in den alten germanischen Sprachen.
Der glückliche Entdecker erkannte die gothische Sprache als das Mittel-
glied zwischen dem Altindischen und dem Deutschen: "wenn ich den ehr-
würdigen Ulfilas las, so glaubte ich Sanskrit vor mir zu haben." Da-
mit kam die Kugel in's Rollen, denn bei Fragen solcher Art entscheidet
der erste Schlag. Nunmehr war ein fester Anhalt gewonnen um die
Grenzen der indogermanischen Sprachengruppe abzustecken, jeder einzelnen
dieser Sprachen ihren Platz näher oder ferner neben der ältesten Schwester
anzuweisen und dergestalt den historischen Stammbaum der Völker selbst
festzustellen. So durfte sich die vergleichende Sprachforschung in dem
Kreise der historischen Wissenschaften allmählich eine ähnliche Stellung
erobern wie die vergleichende Anatomie unter den Naturwissenschaften;
fuhr sie dann fort noch andere Sprachenfamilien zur Vergleichung herbei-
zuziehen und die Wörter überall in ihre einfachsten Elemente zu zerlegen,
so mochte sie dereinst auf einem unabsehbaren Wege, mit Hilfe der Natur-
forschung, noch höher aufsteigen bis zu dem großen Probleme der Ent-
stehung der menschlichen Sprache überhaupt, bis dicht an jene Schranken,
welche die Weisheit der Natur allem menschlichen Forschen gesetzt hat.

In der classischen Philologie war schon seit dem Jahre 1795 ein
freieres Leben erwacht. Damals erwies Friedrich August Wolf durch die
Prolegomena zum Homer, daß die homerischen Gedichte aus Rhapsodien
entstanden seien, aus Werken der Volksdichtung, die der Volksmund durch
die Jahrhunderte fortgetragen und fortgebildet habe; und Goethe jubelte:
das homerische Licht geht uns neu wieder auf. Wolfs bleibende Bedeu-
tung lag aber nicht sowohl in dieser Hypothese selbst -- denn sie ließ noch
Vieles im Dunkeln und veranlaßte späterhin manche geschmacklose Ver-
irrungen des überfeinen gelehrten Scharfsinns -- sondern in seinen völlig
neuen Ansichten über Wesen und Ziele der Philologie. Er entriß die
classische Literatur den Händen der Aesthetiker und überwies sie der histo-
rischen Kritik; er forderte von der Philologie, daß sie sich zur Alterthums-
wissenschaft erweitere, daß sie das gesammte antike Leben nach allen Seiten
hin zu vergegenwärtigen suche, Sprache und Literatur nur als einzelne
Erscheinungen dieses Gesammtlebens auffasse, und zeigte durch seine mei-
sterhaften Vorträge in Halle, wie die Aufgabe zu lösen sei.

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Schlegels geiſtreicher Dilettantenarbeit über „die Weisheit der Inder“
wurde auch die Verwandtſchaft des Sanskrit mit dem Perſiſchen, den
claſſiſchen und den germaniſchen Sprachen faſt allgemein als ſicher an-
genommen, wenngleich der Beweis noch fehlte. Schon im Jahre 1816
erſchien Bopps kleine Schrift über das Conjugationsſyſtem des Sanskrit;
ſie betrachtete den grammatiſchen Bau dieſer älteſten Sprache im Ein-
zelnen, ſie zeigte, wie das Futurum durch die Zuſammenſetzung eines
Hilfszeitworts mit einer Wurzelſilbe gebildet werde u. ſ. f., und erwies
ſodann unanfechtbar die weſentliche Gleichheit der Formen und Wurzeln
des Zeitworts Sein im Sanskrit und in den alten germaniſchen Sprachen.
Der glückliche Entdecker erkannte die gothiſche Sprache als das Mittel-
glied zwiſchen dem Altindiſchen und dem Deutſchen: „wenn ich den ehr-
würdigen Ulfilas las, ſo glaubte ich Sanskrit vor mir zu haben.“ Da-
mit kam die Kugel in’s Rollen, denn bei Fragen ſolcher Art entſcheidet
der erſte Schlag. Nunmehr war ein feſter Anhalt gewonnen um die
Grenzen der indogermaniſchen Sprachengruppe abzuſtecken, jeder einzelnen
dieſer Sprachen ihren Platz näher oder ferner neben der älteſten Schweſter
anzuweiſen und dergeſtalt den hiſtoriſchen Stammbaum der Völker ſelbſt
feſtzuſtellen. So durfte ſich die vergleichende Sprachforſchung in dem
Kreiſe der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften allmählich eine ähnliche Stellung
erobern wie die vergleichende Anatomie unter den Naturwiſſenſchaften;
fuhr ſie dann fort noch andere Sprachenfamilien zur Vergleichung herbei-
zuziehen und die Wörter überall in ihre einfachſten Elemente zu zerlegen,
ſo mochte ſie dereinſt auf einem unabſehbaren Wege, mit Hilfe der Natur-
forſchung, noch höher aufſteigen bis zu dem großen Probleme der Ent-
ſtehung der menſchlichen Sprache überhaupt, bis dicht an jene Schranken,
welche die Weisheit der Natur allem menſchlichen Forſchen geſetzt hat.

In der claſſiſchen Philologie war ſchon ſeit dem Jahre 1795 ein
freieres Leben erwacht. Damals erwies Friedrich Auguſt Wolf durch die
Prolegomena zum Homer, daß die homeriſchen Gedichte aus Rhapſodien
entſtanden ſeien, aus Werken der Volksdichtung, die der Volksmund durch
die Jahrhunderte fortgetragen und fortgebildet habe; und Goethe jubelte:
das homeriſche Licht geht uns neu wieder auf. Wolfs bleibende Bedeu-
tung lag aber nicht ſowohl in dieſer Hypotheſe ſelbſt — denn ſie ließ noch
Vieles im Dunkeln und veranlaßte ſpäterhin manche geſchmackloſe Ver-
irrungen des überfeinen gelehrten Scharfſinns — ſondern in ſeinen völlig
neuen Anſichten über Weſen und Ziele der Philologie. Er entriß die
claſſiſche Literatur den Händen der Aeſthetiker und überwies ſie der hiſto-
riſchen Kritik; er forderte von der Philologie, daß ſie ſich zur Alterthums-
wiſſenſchaft erweitere, daß ſie das geſammte antike Leben nach allen Seiten
hin zu vergegenwärtigen ſuche, Sprache und Literatur nur als einzelne
Erſcheinungen dieſes Geſammtlebens auffaſſe, und zeigte durch ſeine mei-
ſterhaften Vorträge in Halle, wie die Aufgabe zu löſen ſei.

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[72/0086] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. Schlegels geiſtreicher Dilettantenarbeit über „die Weisheit der Inder“ wurde auch die Verwandtſchaft des Sanskrit mit dem Perſiſchen, den claſſiſchen und den germaniſchen Sprachen faſt allgemein als ſicher an- genommen, wenngleich der Beweis noch fehlte. Schon im Jahre 1816 erſchien Bopps kleine Schrift über das Conjugationsſyſtem des Sanskrit; ſie betrachtete den grammatiſchen Bau dieſer älteſten Sprache im Ein- zelnen, ſie zeigte, wie das Futurum durch die Zuſammenſetzung eines Hilfszeitworts mit einer Wurzelſilbe gebildet werde u. ſ. f., und erwies ſodann unanfechtbar die weſentliche Gleichheit der Formen und Wurzeln des Zeitworts Sein im Sanskrit und in den alten germaniſchen Sprachen. Der glückliche Entdecker erkannte die gothiſche Sprache als das Mittel- glied zwiſchen dem Altindiſchen und dem Deutſchen: „wenn ich den ehr- würdigen Ulfilas las, ſo glaubte ich Sanskrit vor mir zu haben.“ Da- mit kam die Kugel in’s Rollen, denn bei Fragen ſolcher Art entſcheidet der erſte Schlag. Nunmehr war ein feſter Anhalt gewonnen um die Grenzen der indogermaniſchen Sprachengruppe abzuſtecken, jeder einzelnen dieſer Sprachen ihren Platz näher oder ferner neben der älteſten Schweſter anzuweiſen und dergeſtalt den hiſtoriſchen Stammbaum der Völker ſelbſt feſtzuſtellen. So durfte ſich die vergleichende Sprachforſchung in dem Kreiſe der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften allmählich eine ähnliche Stellung erobern wie die vergleichende Anatomie unter den Naturwiſſenſchaften; fuhr ſie dann fort noch andere Sprachenfamilien zur Vergleichung herbei- zuziehen und die Wörter überall in ihre einfachſten Elemente zu zerlegen, ſo mochte ſie dereinſt auf einem unabſehbaren Wege, mit Hilfe der Natur- forſchung, noch höher aufſteigen bis zu dem großen Probleme der Ent- ſtehung der menſchlichen Sprache überhaupt, bis dicht an jene Schranken, welche die Weisheit der Natur allem menſchlichen Forſchen geſetzt hat. In der claſſiſchen Philologie war ſchon ſeit dem Jahre 1795 ein freieres Leben erwacht. Damals erwies Friedrich Auguſt Wolf durch die Prolegomena zum Homer, daß die homeriſchen Gedichte aus Rhapſodien entſtanden ſeien, aus Werken der Volksdichtung, die der Volksmund durch die Jahrhunderte fortgetragen und fortgebildet habe; und Goethe jubelte: das homeriſche Licht geht uns neu wieder auf. Wolfs bleibende Bedeu- tung lag aber nicht ſowohl in dieſer Hypotheſe ſelbſt — denn ſie ließ noch Vieles im Dunkeln und veranlaßte ſpäterhin manche geſchmackloſe Ver- irrungen des überfeinen gelehrten Scharfſinns — ſondern in ſeinen völlig neuen Anſichten über Weſen und Ziele der Philologie. Er entriß die claſſiſche Literatur den Händen der Aeſthetiker und überwies ſie der hiſto- riſchen Kritik; er forderte von der Philologie, daß ſie ſich zur Alterthums- wiſſenſchaft erweitere, daß ſie das geſammte antike Leben nach allen Seiten hin zu vergegenwärtigen ſuche, Sprache und Literatur nur als einzelne Erſcheinungen dieſes Geſammtlebens auffaſſe, und zeigte durch ſeine mei- ſterhaften Vorträge in Halle, wie die Aufgabe zu löſen ſei.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/86>, abgerufen am 27.11.2024.