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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
des alten Jahrhunderts; auch sie ebneten die Bahn für eine bescheidenere
und eben darum freiere Weltanschauung. Jener hochmüthige Wahn, der
die großen objektiven Ordnungen des historischen Lebens aus dem freien
Belieben der einzelnen Menschen herleitete, der Glaube an das Natur-
recht und die allgemein giltige Vernunftreligion brach unrettbar zusam-
men, sobald die Philologie darlegte, was an der Geschichte der Sprache
am Handgreiflichsten erwiesen werden kann: daß der Mensch nur in und
mit seinem Volke lebt. Schon Wilhelm Humboldt hatte in einer seiner
geistvollen kleinen Abhandlungen den fruchtbaren Gedanken ausgesprochen:
die Sprachbildung wie die Volksdichtung vollziehe sich durch die Einzelnen
und gehe gleichwohl stets vom Ganzen aus. Auf diese Wahrheit, die in
ihren letzten Tiefen allerdings ein ewig unlösbares Räthsel einschloß, kam
Jakob Grimm immer von Neuem zurück. Er zeigte, wie die Kunstdich-
tung hervorgeht aus dem Volksliede, "das sich selber dichtet", und fand
in dem alten Volksepos weder rein mythischen noch rein historischen Ge-
halt, sondern göttliche und menschliche Geschichte in eines verwachsen.

Da trat ihm, seltsam genug, A. W. Schlegel entgegen. Der alte
Romantiker konnte sich doch nicht ganz losreißen von dem Rationalismus
des vergangenen Jahrhunderts, das überall in der Geschichte Berechnung
und Absicht suchte. Wie er Niebuhrs kritische Kühnheit bekämpfte, so be-
hauptete er wider Grimm: das Volksepos sei das bewußte Werk von
Dichtern, die im künstlerischen Wettkampfe einander durch wunderbare
Erfindungen zu überbieten suchten. In der That lief die junge germa-
nistische Wissenschaft Gefahr, jenem mystischen Hange, der die jüngere
Romantik beherrschte, zu verfallen. Beglückt durch die große Entdeckung
der schöpferischen Kraft des Volksgeistes, verfolgte Grimm mit solcher
Freude das Walten des Unbewußten, des Naturwüchsigen in der Dichtung,
daß er die freie That des künstlerischen Genius fast aus den Augen ver-
lor. Schwächere Köpfe versanken bereits tief in phantastische Thorheit;
v. d. Hagen meinte in den Nibelungen die Mythen von der Schöpfung
und dem Sündenfalle wiederzufinden.

Jedoch der klare, im innersten Kerne protestantische Geist Jakob Grimms
verweilte nicht lange in den traumhaften Grenzgebieten der Wissenschaft,
sondern wendete sich bald einem Bereiche der Forschung zu, das ungleich
festere Ergebnisse verhieß. Im Jahre 1819 begründete er durch seine Deutsche
Grammatik die Wissenschaft der historischen Grammatik. Andere hatten
über die Sprache philosophirt oder ihr Gesetze aufzuerlegen versucht; er
beschied sich ihrem Werden und Wachsen schrittweis nachzugehen, und da
er die ursprüngliche Einheit der germanischen Sprachen schon erkannt
hatte, so zog er alle Zweige dieses Sprachstammes zur Vergleichung heran.
Auch diesmal angeregt durch eine geniale Ahnung Wilhelm Humboldts,
erwies er sodann den wichtigen Unterschied zwischen den betonten Wurzel-
silben, die den Sinn der Wörter enthalten, und den blos formalen Be-

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
des alten Jahrhunderts; auch ſie ebneten die Bahn für eine beſcheidenere
und eben darum freiere Weltanſchauung. Jener hochmüthige Wahn, der
die großen objektiven Ordnungen des hiſtoriſchen Lebens aus dem freien
Belieben der einzelnen Menſchen herleitete, der Glaube an das Natur-
recht und die allgemein giltige Vernunftreligion brach unrettbar zuſam-
men, ſobald die Philologie darlegte, was an der Geſchichte der Sprache
am Handgreiflichſten erwieſen werden kann: daß der Menſch nur in und
mit ſeinem Volke lebt. Schon Wilhelm Humboldt hatte in einer ſeiner
geiſtvollen kleinen Abhandlungen den fruchtbaren Gedanken ausgeſprochen:
die Sprachbildung wie die Volksdichtung vollziehe ſich durch die Einzelnen
und gehe gleichwohl ſtets vom Ganzen aus. Auf dieſe Wahrheit, die in
ihren letzten Tiefen allerdings ein ewig unlösbares Räthſel einſchloß, kam
Jakob Grimm immer von Neuem zurück. Er zeigte, wie die Kunſtdich-
tung hervorgeht aus dem Volksliede, „das ſich ſelber dichtet“, und fand
in dem alten Volksepos weder rein mythiſchen noch rein hiſtoriſchen Ge-
halt, ſondern göttliche und menſchliche Geſchichte in eines verwachſen.

Da trat ihm, ſeltſam genug, A. W. Schlegel entgegen. Der alte
Romantiker konnte ſich doch nicht ganz losreißen von dem Rationalismus
des vergangenen Jahrhunderts, das überall in der Geſchichte Berechnung
und Abſicht ſuchte. Wie er Niebuhrs kritiſche Kühnheit bekämpfte, ſo be-
hauptete er wider Grimm: das Volksepos ſei das bewußte Werk von
Dichtern, die im künſtleriſchen Wettkampfe einander durch wunderbare
Erfindungen zu überbieten ſuchten. In der That lief die junge germa-
niſtiſche Wiſſenſchaft Gefahr, jenem myſtiſchen Hange, der die jüngere
Romantik beherrſchte, zu verfallen. Beglückt durch die große Entdeckung
der ſchöpferiſchen Kraft des Volksgeiſtes, verfolgte Grimm mit ſolcher
Freude das Walten des Unbewußten, des Naturwüchſigen in der Dichtung,
daß er die freie That des künſtleriſchen Genius faſt aus den Augen ver-
lor. Schwächere Köpfe verſanken bereits tief in phantaſtiſche Thorheit;
v. d. Hagen meinte in den Nibelungen die Mythen von der Schöpfung
und dem Sündenfalle wiederzufinden.

Jedoch der klare, im innerſten Kerne proteſtantiſche Geiſt Jakob Grimms
verweilte nicht lange in den traumhaften Grenzgebieten der Wiſſenſchaft,
ſondern wendete ſich bald einem Bereiche der Forſchung zu, das ungleich
feſtere Ergebniſſe verhieß. Im Jahre 1819 begründete er durch ſeine Deutſche
Grammatik die Wiſſenſchaft der hiſtoriſchen Grammatik. Andere hatten
über die Sprache philoſophirt oder ihr Geſetze aufzuerlegen verſucht; er
beſchied ſich ihrem Werden und Wachſen ſchrittweis nachzugehen, und da
er die urſprüngliche Einheit der germaniſchen Sprachen ſchon erkannt
hatte, ſo zog er alle Zweige dieſes Sprachſtammes zur Vergleichung heran.
Auch diesmal angeregt durch eine geniale Ahnung Wilhelm Humboldts,
erwies er ſodann den wichtigen Unterſchied zwiſchen den betonten Wurzel-
ſilben, die den Sinn der Wörter enthalten, und den blos formalen Be-

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[68/0082] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. des alten Jahrhunderts; auch ſie ebneten die Bahn für eine beſcheidenere und eben darum freiere Weltanſchauung. Jener hochmüthige Wahn, der die großen objektiven Ordnungen des hiſtoriſchen Lebens aus dem freien Belieben der einzelnen Menſchen herleitete, der Glaube an das Natur- recht und die allgemein giltige Vernunftreligion brach unrettbar zuſam- men, ſobald die Philologie darlegte, was an der Geſchichte der Sprache am Handgreiflichſten erwieſen werden kann: daß der Menſch nur in und mit ſeinem Volke lebt. Schon Wilhelm Humboldt hatte in einer ſeiner geiſtvollen kleinen Abhandlungen den fruchtbaren Gedanken ausgeſprochen: die Sprachbildung wie die Volksdichtung vollziehe ſich durch die Einzelnen und gehe gleichwohl ſtets vom Ganzen aus. Auf dieſe Wahrheit, die in ihren letzten Tiefen allerdings ein ewig unlösbares Räthſel einſchloß, kam Jakob Grimm immer von Neuem zurück. Er zeigte, wie die Kunſtdich- tung hervorgeht aus dem Volksliede, „das ſich ſelber dichtet“, und fand in dem alten Volksepos weder rein mythiſchen noch rein hiſtoriſchen Ge- halt, ſondern göttliche und menſchliche Geſchichte in eines verwachſen. Da trat ihm, ſeltſam genug, A. W. Schlegel entgegen. Der alte Romantiker konnte ſich doch nicht ganz losreißen von dem Rationalismus des vergangenen Jahrhunderts, das überall in der Geſchichte Berechnung und Abſicht ſuchte. Wie er Niebuhrs kritiſche Kühnheit bekämpfte, ſo be- hauptete er wider Grimm: das Volksepos ſei das bewußte Werk von Dichtern, die im künſtleriſchen Wettkampfe einander durch wunderbare Erfindungen zu überbieten ſuchten. In der That lief die junge germa- niſtiſche Wiſſenſchaft Gefahr, jenem myſtiſchen Hange, der die jüngere Romantik beherrſchte, zu verfallen. Beglückt durch die große Entdeckung der ſchöpferiſchen Kraft des Volksgeiſtes, verfolgte Grimm mit ſolcher Freude das Walten des Unbewußten, des Naturwüchſigen in der Dichtung, daß er die freie That des künſtleriſchen Genius faſt aus den Augen ver- lor. Schwächere Köpfe verſanken bereits tief in phantaſtiſche Thorheit; v. d. Hagen meinte in den Nibelungen die Mythen von der Schöpfung und dem Sündenfalle wiederzufinden. Jedoch der klare, im innerſten Kerne proteſtantiſche Geiſt Jakob Grimms verweilte nicht lange in den traumhaften Grenzgebieten der Wiſſenſchaft, ſondern wendete ſich bald einem Bereiche der Forſchung zu, das ungleich feſtere Ergebniſſe verhieß. Im Jahre 1819 begründete er durch ſeine Deutſche Grammatik die Wiſſenſchaft der hiſtoriſchen Grammatik. Andere hatten über die Sprache philoſophirt oder ihr Geſetze aufzuerlegen verſucht; er beſchied ſich ihrem Werden und Wachſen ſchrittweis nachzugehen, und da er die urſprüngliche Einheit der germaniſchen Sprachen ſchon erkannt hatte, ſo zog er alle Zweige dieſes Sprachſtammes zur Vergleichung heran. Auch diesmal angeregt durch eine geniale Ahnung Wilhelm Humboldts, erwies er ſodann den wichtigen Unterſchied zwiſchen den betonten Wurzel- ſilben, die den Sinn der Wörter enthalten, und den blos formalen Be-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/82>, abgerufen am 23.11.2024.