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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Vernunftrecht und historisches Recht.
risches Recht zu geben und urtheilte offenbar ungerecht über den Code
Napoleon. Voll Abscheus gegen die seichte Neuerungslust der modernen
Welt, verkannte er, daß das Recht am letzten Ende nicht durch den
Volksgeist, sondern durch den Volkswillen bestimmt wird, der in Zeiten
höherer Gesittung nur durch den Mund des Staates sich aussprechen
kann. Er bemerkte nicht immer, daß die großen Wandlungen des Völ-
kerlebens, die dem rückschauenden Geschichtsforscher als unabwendbare
Nothwendigkeiten erscheinen, doch nur durch das Wollen der Handelnden,
durch die Wahl und Qual des freien Entschlusses möglich werden. Wer
ihm blindlings folgte konnte leicht einem dumpfen Fatalismus verfallen
und sich versucht fühlen, die köstlichste Kraft der historischen Welt, die
Macht des Willens ganz aus der Geschichte zu streichen. Der Ausspruch
"eine Verfassung kann nicht gemacht werden, sie muß werden," das viel-
deutige Lob der "organischen Entwicklung" und ähnliche Lieblingssätze der
historischen Schule dienten der gedankenlosen Ruheseligkeit zum willkom-
menen Lotterbette. So geschah es, daß eine That der deutschen Wissen-
schaft, welche die gesammte Nation mit Stolz hätte erfüllen sollen, als-
bald in den kleinen Zank des Tages herabgerissen wurde. Die Masse
der Liberalen hielt noch lange an den überwundenen Lehren des Natur-
rechts fest und zeigte trotzdem in einzelnen Fällen mehr historischen Sinn,
mehr Verständniß für die Zeichen der Zeit als die Gegner. Die conser-
vativen Parteien eigneten sich mehr oder minder ehrlich die Ideen der
historischen Schule an und schauten mit dem Bewußtsein wissenschaftlicher
Ueberlegenheit auf die Flachheit der liberalen Doktrinen hernieder. Ver-
nunftrecht und historisches Recht! -- so lauteten die Losungsworte eines
im Grunde sinnlosen Streites, der durch Jahrzehnte hinausgezogen die
Verbitterung unseres öffentlichen Lebens steigerte und zuweilen zu völliger
Sprachverwirrung führte. Es bedurfte erst der bitteren Erfahrungen des
Jahres 1848, bis die Einen die Geschichte als ein ewiges Werden begreifen
lernten und die Anderen erkannten, daß im Staatsleben nur das histo-
risch Begründete vernünftig ist. Seitdem erst verlor der Name der histo-
rischen Schule den gehässigen Sinn einer Parteibezeichnung, und der un-
zerstörbare Kern ihrer Lehren ward allmählich ein Gemeingut aller ge-
mäßigten Politiker.

Unter den Bahnbrechern der neuen historischen Bildung beherrschte
doch Keiner einen so weiten Gesichtskreis wie Barthold Niebuhr. Niemand
trat dem literarischen Dünkel der alten, dem Leben entfremdeten Buch-
gelehrsamkeit so scharf, so verächtlich entgegen, wie dieser Mann des uni-
versalen Wissens, der jeder Bewegung der Politik, der Wissenschaft und
der Kunst im Welttheil mit hellem Verständniß folgte. Das unpolitische
Geschlecht der letzten Jahrzehnte hatte Schillers ästhetische Geschichtser-
zählungen und die geschichtsphilosophischen Versuche Herders und Schle-
gels höher geschätzt als Spittlers sachlich politische Darstellung; Niebuhr

Vernunftrecht und hiſtoriſches Recht.
riſches Recht zu geben und urtheilte offenbar ungerecht über den Code
Napoleon. Voll Abſcheus gegen die ſeichte Neuerungsluſt der modernen
Welt, verkannte er, daß das Recht am letzten Ende nicht durch den
Volksgeiſt, ſondern durch den Volkswillen beſtimmt wird, der in Zeiten
höherer Geſittung nur durch den Mund des Staates ſich ausſprechen
kann. Er bemerkte nicht immer, daß die großen Wandlungen des Völ-
kerlebens, die dem rückſchauenden Geſchichtsforſcher als unabwendbare
Nothwendigkeiten erſcheinen, doch nur durch das Wollen der Handelnden,
durch die Wahl und Qual des freien Entſchluſſes möglich werden. Wer
ihm blindlings folgte konnte leicht einem dumpfen Fatalismus verfallen
und ſich verſucht fühlen, die köſtlichſte Kraft der hiſtoriſchen Welt, die
Macht des Willens ganz aus der Geſchichte zu ſtreichen. Der Ausſpruch
„eine Verfaſſung kann nicht gemacht werden, ſie muß werden,“ das viel-
deutige Lob der „organiſchen Entwicklung“ und ähnliche Lieblingsſätze der
hiſtoriſchen Schule dienten der gedankenloſen Ruheſeligkeit zum willkom-
menen Lotterbette. So geſchah es, daß eine That der deutſchen Wiſſen-
ſchaft, welche die geſammte Nation mit Stolz hätte erfüllen ſollen, als-
bald in den kleinen Zank des Tages herabgeriſſen wurde. Die Maſſe
der Liberalen hielt noch lange an den überwundenen Lehren des Natur-
rechts feſt und zeigte trotzdem in einzelnen Fällen mehr hiſtoriſchen Sinn,
mehr Verſtändniß für die Zeichen der Zeit als die Gegner. Die conſer-
vativen Parteien eigneten ſich mehr oder minder ehrlich die Ideen der
hiſtoriſchen Schule an und ſchauten mit dem Bewußtſein wiſſenſchaftlicher
Ueberlegenheit auf die Flachheit der liberalen Doktrinen hernieder. Ver-
nunftrecht und hiſtoriſches Recht! — ſo lauteten die Loſungsworte eines
im Grunde ſinnloſen Streites, der durch Jahrzehnte hinausgezogen die
Verbitterung unſeres öffentlichen Lebens ſteigerte und zuweilen zu völliger
Sprachverwirrung führte. Es bedurfte erſt der bitteren Erfahrungen des
Jahres 1848, bis die Einen die Geſchichte als ein ewiges Werden begreifen
lernten und die Anderen erkannten, daß im Staatsleben nur das hiſto-
riſch Begründete vernünftig iſt. Seitdem erſt verlor der Name der hiſto-
riſchen Schule den gehäſſigen Sinn einer Parteibezeichnung, und der un-
zerſtörbare Kern ihrer Lehren ward allmählich ein Gemeingut aller ge-
mäßigten Politiker.

Unter den Bahnbrechern der neuen hiſtoriſchen Bildung beherrſchte
doch Keiner einen ſo weiten Geſichtskreis wie Barthold Niebuhr. Niemand
trat dem literariſchen Dünkel der alten, dem Leben entfremdeten Buch-
gelehrſamkeit ſo ſcharf, ſo verächtlich entgegen, wie dieſer Mann des uni-
verſalen Wiſſens, der jeder Bewegung der Politik, der Wiſſenſchaft und
der Kunſt im Welttheil mit hellem Verſtändniß folgte. Das unpolitiſche
Geſchlecht der letzten Jahrzehnte hatte Schillers äſthetiſche Geſchichtser-
zählungen und die geſchichtsphiloſophiſchen Verſuche Herders und Schle-
gels höher geſchätzt als Spittlers ſachlich politiſche Darſtellung; Niebuhr

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[63/0077] Vernunftrecht und hiſtoriſches Recht. riſches Recht zu geben und urtheilte offenbar ungerecht über den Code Napoleon. Voll Abſcheus gegen die ſeichte Neuerungsluſt der modernen Welt, verkannte er, daß das Recht am letzten Ende nicht durch den Volksgeiſt, ſondern durch den Volkswillen beſtimmt wird, der in Zeiten höherer Geſittung nur durch den Mund des Staates ſich ausſprechen kann. Er bemerkte nicht immer, daß die großen Wandlungen des Völ- kerlebens, die dem rückſchauenden Geſchichtsforſcher als unabwendbare Nothwendigkeiten erſcheinen, doch nur durch das Wollen der Handelnden, durch die Wahl und Qual des freien Entſchluſſes möglich werden. Wer ihm blindlings folgte konnte leicht einem dumpfen Fatalismus verfallen und ſich verſucht fühlen, die köſtlichſte Kraft der hiſtoriſchen Welt, die Macht des Willens ganz aus der Geſchichte zu ſtreichen. Der Ausſpruch „eine Verfaſſung kann nicht gemacht werden, ſie muß werden,“ das viel- deutige Lob der „organiſchen Entwicklung“ und ähnliche Lieblingsſätze der hiſtoriſchen Schule dienten der gedankenloſen Ruheſeligkeit zum willkom- menen Lotterbette. So geſchah es, daß eine That der deutſchen Wiſſen- ſchaft, welche die geſammte Nation mit Stolz hätte erfüllen ſollen, als- bald in den kleinen Zank des Tages herabgeriſſen wurde. Die Maſſe der Liberalen hielt noch lange an den überwundenen Lehren des Natur- rechts feſt und zeigte trotzdem in einzelnen Fällen mehr hiſtoriſchen Sinn, mehr Verſtändniß für die Zeichen der Zeit als die Gegner. Die conſer- vativen Parteien eigneten ſich mehr oder minder ehrlich die Ideen der hiſtoriſchen Schule an und ſchauten mit dem Bewußtſein wiſſenſchaftlicher Ueberlegenheit auf die Flachheit der liberalen Doktrinen hernieder. Ver- nunftrecht und hiſtoriſches Recht! — ſo lauteten die Loſungsworte eines im Grunde ſinnloſen Streites, der durch Jahrzehnte hinausgezogen die Verbitterung unſeres öffentlichen Lebens ſteigerte und zuweilen zu völliger Sprachverwirrung führte. Es bedurfte erſt der bitteren Erfahrungen des Jahres 1848, bis die Einen die Geſchichte als ein ewiges Werden begreifen lernten und die Anderen erkannten, daß im Staatsleben nur das hiſto- riſch Begründete vernünftig iſt. Seitdem erſt verlor der Name der hiſto- riſchen Schule den gehäſſigen Sinn einer Parteibezeichnung, und der un- zerſtörbare Kern ihrer Lehren ward allmählich ein Gemeingut aller ge- mäßigten Politiker. Unter den Bahnbrechern der neuen hiſtoriſchen Bildung beherrſchte doch Keiner einen ſo weiten Geſichtskreis wie Barthold Niebuhr. Niemand trat dem literariſchen Dünkel der alten, dem Leben entfremdeten Buch- gelehrſamkeit ſo ſcharf, ſo verächtlich entgegen, wie dieſer Mann des uni- verſalen Wiſſens, der jeder Bewegung der Politik, der Wiſſenſchaft und der Kunſt im Welttheil mit hellem Verſtändniß folgte. Das unpolitiſche Geſchlecht der letzten Jahrzehnte hatte Schillers äſthetiſche Geſchichtser- zählungen und die geſchichtsphiloſophiſchen Verſuche Herders und Schle- gels höher geſchätzt als Spittlers ſachlich politiſche Darſtellung; Niebuhr

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/77>, abgerufen am 23.11.2024.