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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Der Männergesang.
Segen kam kaum in Betracht, daß der unbestimmte Enthusiasmus, wel-
chen die gestaltlose Musik erweckt, manchen deutschen Träumer in der
verschwommenen Schwärmerei seiner Gemüthspolitik bestärkte.

Das neue Geschlecht hatte doch nicht umsonst seine Kraft in einem
Volkskriege gestählt, und nicht umsonst war während zweier Menschen-
alter, auf jeder Entwicklungsstufe der neuen Dichtung die Rückkehr zur
Natur, zum einfach Menschlichen gepredigt worden. Allenthalben began-
nen die Sitten der Nation wieder mannhafter, kräftiger, natürlicher und,
ohne daß sie es selber noch recht bemerkte, demokratischer zu werden; die
Zeit des Stubenhockens, der ängstlich abgeschlossenen Casinos und Kränz-
chens neigte sich zum Ende. Seit dem Frieden ward auch das lang ent-
behrte Reisen wieder möglich. Während die reichen Ausländer die große
Tour durch Europa einschlugen, deren romantische Hauptstationen Lord
Byron im Childe Harold vorgezeichnet hatte, suchten die genügsamen
Deutschen mit Vorliebe die bescheidene Anmuth ihrer heimischen Mittel-
gebirge auf. Die Felsen des Meißner Hochlands, die der Pfarrer Gö-
tzinger vor Kurzem zugänglich gemacht, wurden unter dem Namen der
Sächsischen Schweiz gepriesen; Gottschalcks Führer durch den Harz gab
zuerst Rathschläge für Gebirgswanderungen, und seit Reichard seinen
"Passagier" veröffentlichte nahm die Zahl der Reisehandbücher allmählich
zu. Die Reisenden der beiden letzten Jahrhunderte hatten das Menschen-
werk aufgesucht, all das Seltsame und Absonderliche, was im Curieusen
Antiquarius verzeichnet stand; die neue Zeit bevorzugte die romantischen
Reize der malerischen Landschaften und die sagenreichen Erinnerungsstätten
der vaterländischen Geschichte. Das früherhin so beliebte Reisen zu Pferde
kam allmählich ab, in Folge der allgemeinen Verarmung. Als Arndt in
seinen jungen Jahren die deutschen Lande zu Fuß durchstreifte, fand er
fast überall nur Handwerksburschen als Reisegefährten; jetzt kam die Poesie
des Fußwanderns auch bei der gebildeten Jugend zu Ehren, und wer ein
rechter Turner war mußte sich auf den Dauerlauf verstehen. Eine neue
Welt unschuldiger Freuden ging der deutschen Jugend auf, seit überall in
Thüringen, Franken und am Rhein zur Sommerzeit fröhliche Schaaren
von Studenten oder Künstlern singend ihres Weges zogen. Jede verfallene
Burg und jeder aussichtsreiche Berggipfel ward erklettert; Nachts nahmen
die munteren Gesellen gern mit der Streu im Bauernwirthshause vorlieb
oder sie onkelten bei einem gastfreien Pfarrherrn. Mit der Guitarre über
der Schulter wanderte August v. Binzer, der Stolz der Jenenser Bur-
schenschaft, glückselig durch ganz Deutschland, und in allen Dörfern strömte
das junge Volk zusammen um dem Spiel und Sang des neuen Trou-
badours zu lauschen.

Auch die politische Gesinnung des heranwachsenden Geschlechts ward
durch dies frohe Wanderleben nach und nach umgebildet. Die Jugend
erlebte sich den Gedanken der nationalen. Einheit, sie fühlte sich überall

Der Männergeſang.
Segen kam kaum in Betracht, daß der unbeſtimmte Enthuſiasmus, wel-
chen die geſtaltloſe Muſik erweckt, manchen deutſchen Träumer in der
verſchwommenen Schwärmerei ſeiner Gemüthspolitik beſtärkte.

Das neue Geſchlecht hatte doch nicht umſonſt ſeine Kraft in einem
Volkskriege geſtählt, und nicht umſonſt war während zweier Menſchen-
alter, auf jeder Entwicklungsſtufe der neuen Dichtung die Rückkehr zur
Natur, zum einfach Menſchlichen gepredigt worden. Allenthalben began-
nen die Sitten der Nation wieder mannhafter, kräftiger, natürlicher und,
ohne daß ſie es ſelber noch recht bemerkte, demokratiſcher zu werden; die
Zeit des Stubenhockens, der ängſtlich abgeſchloſſenen Caſinos und Kränz-
chens neigte ſich zum Ende. Seit dem Frieden ward auch das lang ent-
behrte Reiſen wieder möglich. Während die reichen Ausländer die große
Tour durch Europa einſchlugen, deren romantiſche Hauptſtationen Lord
Byron im Childe Harold vorgezeichnet hatte, ſuchten die genügſamen
Deutſchen mit Vorliebe die beſcheidene Anmuth ihrer heimiſchen Mittel-
gebirge auf. Die Felſen des Meißner Hochlands, die der Pfarrer Gö-
tzinger vor Kurzem zugänglich gemacht, wurden unter dem Namen der
Sächſiſchen Schweiz geprieſen; Gottſchalcks Führer durch den Harz gab
zuerſt Rathſchläge für Gebirgswanderungen, und ſeit Reichard ſeinen
„Paſſagier“ veröffentlichte nahm die Zahl der Reiſehandbücher allmählich
zu. Die Reiſenden der beiden letzten Jahrhunderte hatten das Menſchen-
werk aufgeſucht, all das Seltſame und Abſonderliche, was im Curieuſen
Antiquarius verzeichnet ſtand; die neue Zeit bevorzugte die romantiſchen
Reize der maleriſchen Landſchaften und die ſagenreichen Erinnerungsſtätten
der vaterländiſchen Geſchichte. Das früherhin ſo beliebte Reiſen zu Pferde
kam allmählich ab, in Folge der allgemeinen Verarmung. Als Arndt in
ſeinen jungen Jahren die deutſchen Lande zu Fuß durchſtreifte, fand er
faſt überall nur Handwerksburſchen als Reiſegefährten; jetzt kam die Poeſie
des Fußwanderns auch bei der gebildeten Jugend zu Ehren, und wer ein
rechter Turner war mußte ſich auf den Dauerlauf verſtehen. Eine neue
Welt unſchuldiger Freuden ging der deutſchen Jugend auf, ſeit überall in
Thüringen, Franken und am Rhein zur Sommerzeit fröhliche Schaaren
von Studenten oder Künſtlern ſingend ihres Weges zogen. Jede verfallene
Burg und jeder ausſichtsreiche Berggipfel ward erklettert; Nachts nahmen
die munteren Geſellen gern mit der Streu im Bauernwirthshauſe vorlieb
oder ſie onkelten bei einem gaſtfreien Pfarrherrn. Mit der Guitarre über
der Schulter wanderte Auguſt v. Binzer, der Stolz der Jenenſer Bur-
ſchenſchaft, glückſelig durch ganz Deutſchland, und in allen Dörfern ſtrömte
das junge Volk zuſammen um dem Spiel und Sang des neuen Trou-
badours zu lauſchen.

Auch die politiſche Geſinnung des heranwachſenden Geſchlechts ward
durch dies frohe Wanderleben nach und nach umgebildet. Die Jugend
erlebte ſich den Gedanken der nationalen. Einheit, ſie fühlte ſich überall

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[57/0071] Der Männergeſang. Segen kam kaum in Betracht, daß der unbeſtimmte Enthuſiasmus, wel- chen die geſtaltloſe Muſik erweckt, manchen deutſchen Träumer in der verſchwommenen Schwärmerei ſeiner Gemüthspolitik beſtärkte. Das neue Geſchlecht hatte doch nicht umſonſt ſeine Kraft in einem Volkskriege geſtählt, und nicht umſonſt war während zweier Menſchen- alter, auf jeder Entwicklungsſtufe der neuen Dichtung die Rückkehr zur Natur, zum einfach Menſchlichen gepredigt worden. Allenthalben began- nen die Sitten der Nation wieder mannhafter, kräftiger, natürlicher und, ohne daß ſie es ſelber noch recht bemerkte, demokratiſcher zu werden; die Zeit des Stubenhockens, der ängſtlich abgeſchloſſenen Caſinos und Kränz- chens neigte ſich zum Ende. Seit dem Frieden ward auch das lang ent- behrte Reiſen wieder möglich. Während die reichen Ausländer die große Tour durch Europa einſchlugen, deren romantiſche Hauptſtationen Lord Byron im Childe Harold vorgezeichnet hatte, ſuchten die genügſamen Deutſchen mit Vorliebe die beſcheidene Anmuth ihrer heimiſchen Mittel- gebirge auf. Die Felſen des Meißner Hochlands, die der Pfarrer Gö- tzinger vor Kurzem zugänglich gemacht, wurden unter dem Namen der Sächſiſchen Schweiz geprieſen; Gottſchalcks Führer durch den Harz gab zuerſt Rathſchläge für Gebirgswanderungen, und ſeit Reichard ſeinen „Paſſagier“ veröffentlichte nahm die Zahl der Reiſehandbücher allmählich zu. Die Reiſenden der beiden letzten Jahrhunderte hatten das Menſchen- werk aufgeſucht, all das Seltſame und Abſonderliche, was im Curieuſen Antiquarius verzeichnet ſtand; die neue Zeit bevorzugte die romantiſchen Reize der maleriſchen Landſchaften und die ſagenreichen Erinnerungsſtätten der vaterländiſchen Geſchichte. Das früherhin ſo beliebte Reiſen zu Pferde kam allmählich ab, in Folge der allgemeinen Verarmung. Als Arndt in ſeinen jungen Jahren die deutſchen Lande zu Fuß durchſtreifte, fand er faſt überall nur Handwerksburſchen als Reiſegefährten; jetzt kam die Poeſie des Fußwanderns auch bei der gebildeten Jugend zu Ehren, und wer ein rechter Turner war mußte ſich auf den Dauerlauf verſtehen. Eine neue Welt unſchuldiger Freuden ging der deutſchen Jugend auf, ſeit überall in Thüringen, Franken und am Rhein zur Sommerzeit fröhliche Schaaren von Studenten oder Künſtlern ſingend ihres Weges zogen. Jede verfallene Burg und jeder ausſichtsreiche Berggipfel ward erklettert; Nachts nahmen die munteren Geſellen gern mit der Streu im Bauernwirthshauſe vorlieb oder ſie onkelten bei einem gaſtfreien Pfarrherrn. Mit der Guitarre über der Schulter wanderte Auguſt v. Binzer, der Stolz der Jenenſer Bur- ſchenſchaft, glückſelig durch ganz Deutſchland, und in allen Dörfern ſtrömte das junge Volk zuſammen um dem Spiel und Sang des neuen Trou- badours zu lauſchen. Auch die politiſche Geſinnung des heranwachſenden Geſchlechts ward durch dies frohe Wanderleben nach und nach umgebildet. Die Jugend erlebte ſich den Gedanken der nationalen. Einheit, ſie fühlte ſich überall

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/71>, abgerufen am 27.11.2024.