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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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F. List.
Geburt ein Deutscher schlechtweg, gleich dem Reichsritter Stein, ging er
mit seinen kühnen Entwürfen sogleich über die Grenzen der schwäbischen
Heimath hinaus, so daß er den verschwiegerten und verschwägerten Württem-
bergern bald als ein wildfremder Störenfried verdächtig wurde: eine neue
Zeit handelspolitischer Größe, dauerhafter als einst die Herrlichkeit der
Hansa, sollte dem deutschen Vaterlande tagen. Eine seltene Kunst die
Massen zu befeuern und zu erregen stand ihm zu Gebote, ein agitatorisches
Talent, dessen gleichen unsere an großen Demagogen so arme Geschichte seit-
her nur noch zweimal, in Robert Blum und Lassalle gesehen hat. Im
April 1819 stiftete List mit mehreren Industriellen der Kleinstaaten, Miller
aus Immenstadt, Schnell aus Nürnberg, E. Weber aus Gera den Verein
deutscher Kaufleute und Fabrikanten, dem sich bald die Mehrzahl der großen
Firmen in Süd- und Mitteldeutschland anschloß, und legte rasch entschlossen
seine Tübinger Professur nieder, da die württembergische Regierung das
Amt eines Consulenten des Handelsvereins als unverträglich mit der Be-
amtenwürde betrachtete.

Der neue Handelsverein richtete sogleich an den Bundestag eine Bitt-
schrift um Ausführung des Art. 19, Beseitigung aller Binnenmauthen und
Erlaß eines deutschen Zollgesetzes, das den Zöllen des Auslands mit
strengen Retorsionen begegnen sollte, bis sich ganz Europa über allgemeine
Handelsfreiheit verständigt hätte -- denn noch bekannte sich List, gleich
den meisten Süddeutschen jener Zeit, im Grundsatz zu den Lehren des
Freihandels. In Frankfurt abgewiesen, bestürmte List sodann die Höfe, die
Geschäftsmänner und wen nicht sonst mit seinen Gesuchen, geißelte in
seiner Zeitschrift, dem "Organ des deutschen Handels- und Gewerbstandes",
unermüdlich und unerbittlich die Gebrechen deutscher Handelspolitik. Also hat
er in rastloser Arbeit mehr als irgend einer der Zeitgenossen dazu bei-
getragen, daß die Ueberzeugung von der Unhaltbarkeit des Bestehenden
tief in die Nation drang. Große verwegene Träume, die erst das lebende
Geschlecht in Erfüllung gehen sieht, regten sich in seinem stürmischen
Kopfe: er dachte an eine gemeinsame Gewerbegesetzgebung, an ein deutsches
Postwesen, an nationale Industrieausstellungen, er hoffte die romantischen
Kaiserträume des jungen Geschlechts durch die Arbeit der praktischen natio-
nalen Politik zu verdrängen und sah die Zeit voraus, da eine freie Ver-
fassung, ein deutsches Parlament aus der Handelseinheit hervorgehen würde.
Als der Schöpfer des Zollvereins, wie er selber im Uebermaße seines
Selbstgefühls sich genannt hat, kann List gleichwohl keinem Unbefangenen
gelten.

Ein klares Programm, einen bestimmten, durchgebildeten politischen
Gedanken aufzustellen und festzuhalten lag überhaupt nicht in der Weise
der Patrioten jener Zeit. Nur im Innern der süddeutschen Mittelstaaten
begann die constitutionelle Bewegung bereits feste, deutlich ausgesprochene
Parteimeinungen hervorzurufen. Wer über den deutschen Gesammtstaat

39*

F. Liſt.
Geburt ein Deutſcher ſchlechtweg, gleich dem Reichsritter Stein, ging er
mit ſeinen kühnen Entwürfen ſogleich über die Grenzen der ſchwäbiſchen
Heimath hinaus, ſo daß er den verſchwiegerten und verſchwägerten Württem-
bergern bald als ein wildfremder Störenfried verdächtig wurde: eine neue
Zeit handelspolitiſcher Größe, dauerhafter als einſt die Herrlichkeit der
Hanſa, ſollte dem deutſchen Vaterlande tagen. Eine ſeltene Kunſt die
Maſſen zu befeuern und zu erregen ſtand ihm zu Gebote, ein agitatoriſches
Talent, deſſen gleichen unſere an großen Demagogen ſo arme Geſchichte ſeit-
her nur noch zweimal, in Robert Blum und Laſſalle geſehen hat. Im
April 1819 ſtiftete Liſt mit mehreren Induſtriellen der Kleinſtaaten, Miller
aus Immenſtadt, Schnell aus Nürnberg, E. Weber aus Gera den Verein
deutſcher Kaufleute und Fabrikanten, dem ſich bald die Mehrzahl der großen
Firmen in Süd- und Mitteldeutſchland anſchloß, und legte raſch entſchloſſen
ſeine Tübinger Profeſſur nieder, da die württembergiſche Regierung das
Amt eines Conſulenten des Handelsvereins als unverträglich mit der Be-
amtenwürde betrachtete.

Der neue Handelsverein richtete ſogleich an den Bundestag eine Bitt-
ſchrift um Ausführung des Art. 19, Beſeitigung aller Binnenmauthen und
Erlaß eines deutſchen Zollgeſetzes, das den Zöllen des Auslands mit
ſtrengen Retorſionen begegnen ſollte, bis ſich ganz Europa über allgemeine
Handelsfreiheit verſtändigt hätte — denn noch bekannte ſich Liſt, gleich
den meiſten Süddeutſchen jener Zeit, im Grundſatz zu den Lehren des
Freihandels. In Frankfurt abgewieſen, beſtürmte Liſt ſodann die Höfe, die
Geſchäftsmänner und wen nicht ſonſt mit ſeinen Geſuchen, geißelte in
ſeiner Zeitſchrift, dem „Organ des deutſchen Handels- und Gewerbſtandes“,
unermüdlich und unerbittlich die Gebrechen deutſcher Handelspolitik. Alſo hat
er in raſtloſer Arbeit mehr als irgend einer der Zeitgenoſſen dazu bei-
getragen, daß die Ueberzeugung von der Unhaltbarkeit des Beſtehenden
tief in die Nation drang. Große verwegene Träume, die erſt das lebende
Geſchlecht in Erfüllung gehen ſieht, regten ſich in ſeinem ſtürmiſchen
Kopfe: er dachte an eine gemeinſame Gewerbegeſetzgebung, an ein deutſches
Poſtweſen, an nationale Induſtrieausſtellungen, er hoffte die romantiſchen
Kaiſerträume des jungen Geſchlechts durch die Arbeit der praktiſchen natio-
nalen Politik zu verdrängen und ſah die Zeit voraus, da eine freie Ver-
faſſung, ein deutſches Parlament aus der Handelseinheit hervorgehen würde.
Als der Schöpfer des Zollvereins, wie er ſelber im Uebermaße ſeines
Selbſtgefühls ſich genannt hat, kann Liſt gleichwohl keinem Unbefangenen
gelten.

Ein klares Programm, einen beſtimmten, durchgebildeten politiſchen
Gedanken aufzuſtellen und feſtzuhalten lag überhaupt nicht in der Weiſe
der Patrioten jener Zeit. Nur im Innern der ſüddeutſchen Mittelſtaaten
begann die conſtitutionelle Bewegung bereits feſte, deutlich ausgeſprochene
Parteimeinungen hervorzurufen. Wer über den deutſchen Geſammtſtaat

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[611/0625] F. Liſt. Geburt ein Deutſcher ſchlechtweg, gleich dem Reichsritter Stein, ging er mit ſeinen kühnen Entwürfen ſogleich über die Grenzen der ſchwäbiſchen Heimath hinaus, ſo daß er den verſchwiegerten und verſchwägerten Württem- bergern bald als ein wildfremder Störenfried verdächtig wurde: eine neue Zeit handelspolitiſcher Größe, dauerhafter als einſt die Herrlichkeit der Hanſa, ſollte dem deutſchen Vaterlande tagen. Eine ſeltene Kunſt die Maſſen zu befeuern und zu erregen ſtand ihm zu Gebote, ein agitatoriſches Talent, deſſen gleichen unſere an großen Demagogen ſo arme Geſchichte ſeit- her nur noch zweimal, in Robert Blum und Laſſalle geſehen hat. Im April 1819 ſtiftete Liſt mit mehreren Induſtriellen der Kleinſtaaten, Miller aus Immenſtadt, Schnell aus Nürnberg, E. Weber aus Gera den Verein deutſcher Kaufleute und Fabrikanten, dem ſich bald die Mehrzahl der großen Firmen in Süd- und Mitteldeutſchland anſchloß, und legte raſch entſchloſſen ſeine Tübinger Profeſſur nieder, da die württembergiſche Regierung das Amt eines Conſulenten des Handelsvereins als unverträglich mit der Be- amtenwürde betrachtete. Der neue Handelsverein richtete ſogleich an den Bundestag eine Bitt- ſchrift um Ausführung des Art. 19, Beſeitigung aller Binnenmauthen und Erlaß eines deutſchen Zollgeſetzes, das den Zöllen des Auslands mit ſtrengen Retorſionen begegnen ſollte, bis ſich ganz Europa über allgemeine Handelsfreiheit verſtändigt hätte — denn noch bekannte ſich Liſt, gleich den meiſten Süddeutſchen jener Zeit, im Grundſatz zu den Lehren des Freihandels. In Frankfurt abgewieſen, beſtürmte Liſt ſodann die Höfe, die Geſchäftsmänner und wen nicht ſonſt mit ſeinen Geſuchen, geißelte in ſeiner Zeitſchrift, dem „Organ des deutſchen Handels- und Gewerbſtandes“, unermüdlich und unerbittlich die Gebrechen deutſcher Handelspolitik. Alſo hat er in raſtloſer Arbeit mehr als irgend einer der Zeitgenoſſen dazu bei- getragen, daß die Ueberzeugung von der Unhaltbarkeit des Beſtehenden tief in die Nation drang. Große verwegene Träume, die erſt das lebende Geſchlecht in Erfüllung gehen ſieht, regten ſich in ſeinem ſtürmiſchen Kopfe: er dachte an eine gemeinſame Gewerbegeſetzgebung, an ein deutſches Poſtweſen, an nationale Induſtrieausſtellungen, er hoffte die romantiſchen Kaiſerträume des jungen Geſchlechts durch die Arbeit der praktiſchen natio- nalen Politik zu verdrängen und ſah die Zeit voraus, da eine freie Ver- faſſung, ein deutſches Parlament aus der Handelseinheit hervorgehen würde. Als der Schöpfer des Zollvereins, wie er ſelber im Uebermaße ſeines Selbſtgefühls ſich genannt hat, kann Liſt gleichwohl keinem Unbefangenen gelten. Ein klares Programm, einen beſtimmten, durchgebildeten politiſchen Gedanken aufzuſtellen und feſtzuhalten lag überhaupt nicht in der Weiſe der Patrioten jener Zeit. Nur im Innern der ſüddeutſchen Mittelſtaaten begann die conſtitutionelle Bewegung bereits feſte, deutlich ausgeſprochene Parteimeinungen hervorzurufen. Wer über den deutſchen Geſammtſtaat 39*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 611. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/625>, abgerufen am 22.11.2024.