wohl gingen die Ansichten über die Mittel und Wege nach allen Richtungen auseinander, und das Einzige was retten konnte, der Anschluß an die schon vorhandene Einheit des preußischen Marktgebietes ward in unseliger Ver- blendung so lange verschmäht, bis schließlich nur die bittere Noth das Un- vermeidliche erzwang.
Gleich nach dem Frieden begann eine regelmäßige Einwanderung in das verarmte Preußen einzuströmen, etwa halb so stark als der Ueberschuß der Geburten; sie bestand überwiegend aus jungen Leuten der deutschen Nachbarschaft, die in dem Lande der socialen Freiheit ihr Glück suchten. Als nunmehr die Binnenzölle in der Monarchie hinwegfielen, da ließen sich die Vortheile, welche der preußische Geschäftsmann aus seinem ausge- dehnten freien Markte zog, zumal an den Grenzplätzen bald mit Händen greifen: so siedelte ein Theil der Bingener Weinhändler auf das preußische Ufer der Nahe über, da die Preise in Preußen oft dreimal höher standen als auf dem überfüllten hessischen Markte. Das Beamtenthum der kleinen Höfe war noch gewöhnt an das Zunftwesen, an die Erschwerung der Nieder- lassung und der Heirathen, an die tausend Quälereien einer kleinlichen socialen Gesetzgebung; von der Ueberlegenheit der preußischen Handelspolitik ahnte man hier noch gar nichts. Manchem wohlmeinenden Beamten in Sachsen und Thüringen erschienen die preußischen Steuergesetze als eine überflüssige fiscalische Härte, weil sein eigener Staat für das Heerwesen nur Geringes leistete, also mit bescheidenen Einnahmen auskommen konnte. So entstand unter dem Schutze der kleinen Höfe an den preußischen Binnen- grenzen ein Krieg Aller gegen Alle, ein heilloser Zustand, von dem wir heute kaum noch eine Vorstellung haben. Das Volk verwilderte durch das schlechte Handwerk des Schwärzens. In die zollfreien Packhöfe, welche überall dem preußischen Gebiete nahe lagen, traten alltäglich handfeste braune Gesellen, die Jacken auf Rücken und Schultern ganz glatt gescheuert, manch' einem schaute das Messer aus dem Gürtel; dann packten sie die schweren Waarenballen auf, ein landesfürstlicher Mauthwächter gab ihnen das Geleite bis zur Grenze und ein Helf Gott mit auf den bösen Weg. Der kleine Mann hörte sich nicht satt an den wilden Abenteuern verwegener Schmuggler, die das heutige Geschlecht nur noch aus altmodischen Romanen und Jugendschriften kennt. Also gewöhnte sich unser treues Volk die Gesetze zu mißachten. Jener wüste Radicalismus, der allmählich in den Klein- staaten überhand nahm, ward von den kleinen Höfen selber gepflegt: durch die Sünden der Demagogenjagd wie durch die Frivolität dieser Handels- politik.
Als die Urheber solchen Unheils galten allgemein nicht die Klein- staaten, die den Schmuggel begünstigten, sondern Preußen, das ihn ernst- haft verfolgte; nicht jene Höfe, die an ihren unsauberen fiscalischen Kniffen, ihren veralteten unbrauchbaren Zollordnungen träge festhielten, sondern Preußen, das sein Steuersystem neugestaltet und gemildert hatte. Unfähig,
II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
wohl gingen die Anſichten über die Mittel und Wege nach allen Richtungen auseinander, und das Einzige was retten konnte, der Anſchluß an die ſchon vorhandene Einheit des preußiſchen Marktgebietes ward in unſeliger Ver- blendung ſo lange verſchmäht, bis ſchließlich nur die bittere Noth das Un- vermeidliche erzwang.
Gleich nach dem Frieden begann eine regelmäßige Einwanderung in das verarmte Preußen einzuſtrömen, etwa halb ſo ſtark als der Ueberſchuß der Geburten; ſie beſtand überwiegend aus jungen Leuten der deutſchen Nachbarſchaft, die in dem Lande der ſocialen Freiheit ihr Glück ſuchten. Als nunmehr die Binnenzölle in der Monarchie hinwegfielen, da ließen ſich die Vortheile, welche der preußiſche Geſchäftsmann aus ſeinem ausge- dehnten freien Markte zog, zumal an den Grenzplätzen bald mit Händen greifen: ſo ſiedelte ein Theil der Bingener Weinhändler auf das preußiſche Ufer der Nahe über, da die Preiſe in Preußen oft dreimal höher ſtanden als auf dem überfüllten heſſiſchen Markte. Das Beamtenthum der kleinen Höfe war noch gewöhnt an das Zunftweſen, an die Erſchwerung der Nieder- laſſung und der Heirathen, an die tauſend Quälereien einer kleinlichen ſocialen Geſetzgebung; von der Ueberlegenheit der preußiſchen Handelspolitik ahnte man hier noch gar nichts. Manchem wohlmeinenden Beamten in Sachſen und Thüringen erſchienen die preußiſchen Steuergeſetze als eine überflüſſige fiscaliſche Härte, weil ſein eigener Staat für das Heerweſen nur Geringes leiſtete, alſo mit beſcheidenen Einnahmen auskommen konnte. So entſtand unter dem Schutze der kleinen Höfe an den preußiſchen Binnen- grenzen ein Krieg Aller gegen Alle, ein heilloſer Zuſtand, von dem wir heute kaum noch eine Vorſtellung haben. Das Volk verwilderte durch das ſchlechte Handwerk des Schwärzens. In die zollfreien Packhöfe, welche überall dem preußiſchen Gebiete nahe lagen, traten alltäglich handfeſte braune Geſellen, die Jacken auf Rücken und Schultern ganz glatt geſcheuert, manch’ einem ſchaute das Meſſer aus dem Gürtel; dann packten ſie die ſchweren Waarenballen auf, ein landesfürſtlicher Mauthwächter gab ihnen das Geleite bis zur Grenze und ein Helf Gott mit auf den böſen Weg. Der kleine Mann hörte ſich nicht ſatt an den wilden Abenteuern verwegener Schmuggler, die das heutige Geſchlecht nur noch aus altmodiſchen Romanen und Jugendſchriften kennt. Alſo gewöhnte ſich unſer treues Volk die Geſetze zu mißachten. Jener wüſte Radicalismus, der allmählich in den Klein- ſtaaten überhand nahm, ward von den kleinen Höfen ſelber gepflegt: durch die Sünden der Demagogenjagd wie durch die Frivolität dieſer Handels- politik.
Als die Urheber ſolchen Unheils galten allgemein nicht die Klein- ſtaaten, die den Schmuggel begünſtigten, ſondern Preußen, das ihn ernſt- haft verfolgte; nicht jene Höfe, die an ihren unſauberen fiscaliſchen Kniffen, ihren veralteten unbrauchbaren Zollordnungen träge feſthielten, ſondern Preußen, das ſein Steuerſyſtem neugeſtaltet und gemildert hatte. Unfähig,
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II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
wohl gingen die Anſichten über die Mittel und Wege nach allen Richtungen
auseinander, und das Einzige was retten konnte, der Anſchluß an die ſchon
vorhandene Einheit des preußiſchen Marktgebietes ward in unſeliger Ver-
blendung ſo lange verſchmäht, bis ſchließlich nur die bittere Noth das Un-
vermeidliche erzwang.
Gleich nach dem Frieden begann eine regelmäßige Einwanderung in
das verarmte Preußen einzuſtrömen, etwa halb ſo ſtark als der Ueberſchuß
der Geburten; ſie beſtand überwiegend aus jungen Leuten der deutſchen
Nachbarſchaft, die in dem Lande der ſocialen Freiheit ihr Glück ſuchten.
Als nunmehr die Binnenzölle in der Monarchie hinwegfielen, da ließen
ſich die Vortheile, welche der preußiſche Geſchäftsmann aus ſeinem ausge-
dehnten freien Markte zog, zumal an den Grenzplätzen bald mit Händen
greifen: ſo ſiedelte ein Theil der Bingener Weinhändler auf das preußiſche
Ufer der Nahe über, da die Preiſe in Preußen oft dreimal höher ſtanden
als auf dem überfüllten heſſiſchen Markte. Das Beamtenthum der kleinen
Höfe war noch gewöhnt an das Zunftweſen, an die Erſchwerung der Nieder-
laſſung und der Heirathen, an die tauſend Quälereien einer kleinlichen
ſocialen Geſetzgebung; von der Ueberlegenheit der preußiſchen Handelspolitik
ahnte man hier noch gar nichts. Manchem wohlmeinenden Beamten in
Sachſen und Thüringen erſchienen die preußiſchen Steuergeſetze als eine
überflüſſige fiscaliſche Härte, weil ſein eigener Staat für das Heerweſen
nur Geringes leiſtete, alſo mit beſcheidenen Einnahmen auskommen konnte.
So entſtand unter dem Schutze der kleinen Höfe an den preußiſchen Binnen-
grenzen ein Krieg Aller gegen Alle, ein heilloſer Zuſtand, von dem wir
heute kaum noch eine Vorſtellung haben. Das Volk verwilderte durch das
ſchlechte Handwerk des Schwärzens. In die zollfreien Packhöfe, welche
überall dem preußiſchen Gebiete nahe lagen, traten alltäglich handfeſte
braune Geſellen, die Jacken auf Rücken und Schultern ganz glatt geſcheuert,
manch’ einem ſchaute das Meſſer aus dem Gürtel; dann packten ſie die
ſchweren Waarenballen auf, ein landesfürſtlicher Mauthwächter gab ihnen
das Geleite bis zur Grenze und ein Helf Gott mit auf den böſen Weg.
Der kleine Mann hörte ſich nicht ſatt an den wilden Abenteuern verwegener
Schmuggler, die das heutige Geſchlecht nur noch aus altmodiſchen Romanen
und Jugendſchriften kennt. Alſo gewöhnte ſich unſer treues Volk die Geſetze
zu mißachten. Jener wüſte Radicalismus, der allmählich in den Klein-
ſtaaten überhand nahm, ward von den kleinen Höfen ſelber gepflegt: durch
die Sünden der Demagogenjagd wie durch die Frivolität dieſer Handels-
politik.
Als die Urheber ſolchen Unheils galten allgemein nicht die Klein-
ſtaaten, die den Schmuggel begünſtigten, ſondern Preußen, das ihn ernſt-
haft verfolgte; nicht jene Höfe, die an ihren unſauberen fiscaliſchen Kniffen,
ihren veralteten unbrauchbaren Zollordnungen träge feſthielten, ſondern
Preußen, das ſein Steuerſyſtem neugeſtaltet und gemildert hatte. Unfähig,
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 608. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/622>, abgerufen am 25.11.2024.
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