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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 10. Der Umschwung am preußischen Hofe.
Manche unverkennbare Mißstände wucherten fort weil man jedes Geld-
opfer scheute; ein Glück nur, daß der König die Armee unter seine un-
mittelbare Obhut nahm und durch persönliches Eingreifen den militärischen
Geist wach hielt. Auf den genialen Begründer des Wehrgesetzes folgte
ein Mann der gewöhnlichen militärischen Routine; kein Wunder, daß sich
die Masse der Unkundigen über die Gründe dieses Wechsels täuschte und
den finstersten Gerüchten Glauben schenkte. Erst nach Jahren kam an
den Tag, daß General Boyen sich diesmal in der That geirrt und einer
nothwendigen Reform widerstrebt hatte. --

Der Rücktritt des Kriegsministers brachte die Kugel ins Rollen, denn
natürlich waren die Vorgänge im Ministerrathe nicht ohne Einfluß auf
Boyens Entschluß gewesen. Hardenberg betrachtete den Sturz des Generals
als die erste Niederlage der Opposition.*) Mit Ancillons unparteiischem
Gutachten bewaffnet, hatte er sogleich die Entlassung der drei Minister bean-
tragt, und da der König, noch immer auf eine Versöhnung hoffend, die Ent-
scheidung über Humboldt und Beyme hinausschob, so stellte der Staatskanzler
am 28. December förmlich die Cabinetsfrage. Es war die höchste Zeit. Denn
Humboldt und Beyme waren inzwischen noch einen Schritt weiter gegangen;
sie hatten im Staatsministerium, ohne Vorwissen des Staatskanzlers, den
Beschluß durchgesetzt, daß die sämmtlichen Oberpräsidenten sofort nach
Berlin berufen werden sollten. Gelang dies, so ließ sich mit Gewißheit
vorher sehen, daß die Vorstände der Provinzialverwaltung, geführt von
dem allezeit unzufriedenen Schön, wieder wie vor zwei Jahren**) eine
Masse berechtigter und unberechtigter Beschwerden vor den Thron bringen
würden. Eine solche Opposition war in diesem Augenblicke schlechthin
staatsgefährlich. Der Staat stand am Vorabend einer heilsamen aber
höchst unpopulären Reform, die nur einer starken und einigen Regierung
gelingen konnte. Hardenbergs letztes großes Werk, die Gesetze über die
neuen Steuern und die Schließung der Staatsschuld, sollten in den nächsten
Tagen im Staatsrathe beendigt werden. Nimmermehr durfte der alte
welterfahrene Steuermann erlauben, daß ihm das hohe Beamtenthum
seinen Kurs störte inmitten des Sturmes allgemeiner Entrüstung, der bei
der Verkündigung der neuen Auflagen im Volke loszubrechen drohte.
Humboldt hatte bereits in seinen beiden Ministerialberichten eingestanden,
daß er an das Vorhandensein des Deficits noch immer nicht glaubte und
darum die neuen Steuern für unnöthig hielt -- eine grundfalsche, ganz
unbegreifliche Ansicht, die aber von einer großen Anzahl der kritiklustigen
hohen Beamten getheilt wurde; denn nach der guten altpreußischen Ueber-
lieferung betrachteten sich die Häupter des Beamtenthums als berufen,
das Volk gegen fiskalischen Druck zu schützen. Durfte der Staatskanzler

*) Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819. S. Beilage V.
**) S. o. S. 201.

II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
Manche unverkennbare Mißſtände wucherten fort weil man jedes Geld-
opfer ſcheute; ein Glück nur, daß der König die Armee unter ſeine un-
mittelbare Obhut nahm und durch perſönliches Eingreifen den militäriſchen
Geiſt wach hielt. Auf den genialen Begründer des Wehrgeſetzes folgte
ein Mann der gewöhnlichen militäriſchen Routine; kein Wunder, daß ſich
die Maſſe der Unkundigen über die Gründe dieſes Wechſels täuſchte und
den finſterſten Gerüchten Glauben ſchenkte. Erſt nach Jahren kam an
den Tag, daß General Boyen ſich diesmal in der That geirrt und einer
nothwendigen Reform widerſtrebt hatte. —

Der Rücktritt des Kriegsminiſters brachte die Kugel ins Rollen, denn
natürlich waren die Vorgänge im Miniſterrathe nicht ohne Einfluß auf
Boyens Entſchluß geweſen. Hardenberg betrachtete den Sturz des Generals
als die erſte Niederlage der Oppoſition.*) Mit Ancillons unparteiiſchem
Gutachten bewaffnet, hatte er ſogleich die Entlaſſung der drei Miniſter bean-
tragt, und da der König, noch immer auf eine Verſöhnung hoffend, die Ent-
ſcheidung über Humboldt und Beyme hinausſchob, ſo ſtellte der Staatskanzler
am 28. December förmlich die Cabinetsfrage. Es war die höchſte Zeit. Denn
Humboldt und Beyme waren inzwiſchen noch einen Schritt weiter gegangen;
ſie hatten im Staatsminiſterium, ohne Vorwiſſen des Staatskanzlers, den
Beſchluß durchgeſetzt, daß die ſämmtlichen Oberpräſidenten ſofort nach
Berlin berufen werden ſollten. Gelang dies, ſo ließ ſich mit Gewißheit
vorher ſehen, daß die Vorſtände der Provinzialverwaltung, geführt von
dem allezeit unzufriedenen Schön, wieder wie vor zwei Jahren**) eine
Maſſe berechtigter und unberechtigter Beſchwerden vor den Thron bringen
würden. Eine ſolche Oppoſition war in dieſem Augenblicke ſchlechthin
ſtaatsgefährlich. Der Staat ſtand am Vorabend einer heilſamen aber
höchſt unpopulären Reform, die nur einer ſtarken und einigen Regierung
gelingen konnte. Hardenbergs letztes großes Werk, die Geſetze über die
neuen Steuern und die Schließung der Staatsſchuld, ſollten in den nächſten
Tagen im Staatsrathe beendigt werden. Nimmermehr durfte der alte
welterfahrene Steuermann erlauben, daß ihm das hohe Beamtenthum
ſeinen Kurs ſtörte inmitten des Sturmes allgemeiner Entrüſtung, der bei
der Verkündigung der neuen Auflagen im Volke loszubrechen drohte.
Humboldt hatte bereits in ſeinen beiden Miniſterialberichten eingeſtanden,
daß er an das Vorhandenſein des Deficits noch immer nicht glaubte und
darum die neuen Steuern für unnöthig hielt — eine grundfalſche, ganz
unbegreifliche Anſicht, die aber von einer großen Anzahl der kritikluſtigen
hohen Beamten getheilt wurde; denn nach der guten altpreußiſchen Ueber-
lieferung betrachteten ſich die Häupter des Beamtenthums als berufen,
das Volk gegen fiskaliſchen Druck zu ſchützen. Durfte der Staatskanzler

*) Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819. S. Beilage V.
**) S. o. S. 201.
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[604/0618] II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe. Manche unverkennbare Mißſtände wucherten fort weil man jedes Geld- opfer ſcheute; ein Glück nur, daß der König die Armee unter ſeine un- mittelbare Obhut nahm und durch perſönliches Eingreifen den militäriſchen Geiſt wach hielt. Auf den genialen Begründer des Wehrgeſetzes folgte ein Mann der gewöhnlichen militäriſchen Routine; kein Wunder, daß ſich die Maſſe der Unkundigen über die Gründe dieſes Wechſels täuſchte und den finſterſten Gerüchten Glauben ſchenkte. Erſt nach Jahren kam an den Tag, daß General Boyen ſich diesmal in der That geirrt und einer nothwendigen Reform widerſtrebt hatte. — Der Rücktritt des Kriegsminiſters brachte die Kugel ins Rollen, denn natürlich waren die Vorgänge im Miniſterrathe nicht ohne Einfluß auf Boyens Entſchluß geweſen. Hardenberg betrachtete den Sturz des Generals als die erſte Niederlage der Oppoſition. *) Mit Ancillons unparteiiſchem Gutachten bewaffnet, hatte er ſogleich die Entlaſſung der drei Miniſter bean- tragt, und da der König, noch immer auf eine Verſöhnung hoffend, die Ent- ſcheidung über Humboldt und Beyme hinausſchob, ſo ſtellte der Staatskanzler am 28. December förmlich die Cabinetsfrage. Es war die höchſte Zeit. Denn Humboldt und Beyme waren inzwiſchen noch einen Schritt weiter gegangen; ſie hatten im Staatsminiſterium, ohne Vorwiſſen des Staatskanzlers, den Beſchluß durchgeſetzt, daß die ſämmtlichen Oberpräſidenten ſofort nach Berlin berufen werden ſollten. Gelang dies, ſo ließ ſich mit Gewißheit vorher ſehen, daß die Vorſtände der Provinzialverwaltung, geführt von dem allezeit unzufriedenen Schön, wieder wie vor zwei Jahren **) eine Maſſe berechtigter und unberechtigter Beſchwerden vor den Thron bringen würden. Eine ſolche Oppoſition war in dieſem Augenblicke ſchlechthin ſtaatsgefährlich. Der Staat ſtand am Vorabend einer heilſamen aber höchſt unpopulären Reform, die nur einer ſtarken und einigen Regierung gelingen konnte. Hardenbergs letztes großes Werk, die Geſetze über die neuen Steuern und die Schließung der Staatsſchuld, ſollten in den nächſten Tagen im Staatsrathe beendigt werden. Nimmermehr durfte der alte welterfahrene Steuermann erlauben, daß ihm das hohe Beamtenthum ſeinen Kurs ſtörte inmitten des Sturmes allgemeiner Entrüſtung, der bei der Verkündigung der neuen Auflagen im Volke loszubrechen drohte. Humboldt hatte bereits in ſeinen beiden Miniſterialberichten eingeſtanden, daß er an das Vorhandenſein des Deficits noch immer nicht glaubte und darum die neuen Steuern für unnöthig hielt — eine grundfalſche, ganz unbegreifliche Anſicht, die aber von einer großen Anzahl der kritikluſtigen hohen Beamten getheilt wurde; denn nach der guten altpreußiſchen Ueber- lieferung betrachteten ſich die Häupter des Beamtenthums als berufen, das Volk gegen fiskaliſchen Druck zu ſchützen. Durfte der Staatskanzler *) Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819. S. Beilage V. **) S. o. S. 201.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/618>, abgerufen am 22.11.2024.