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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Der neue preußische Verfassungsausschuß.
Reformpläne. Die neuen Steuer- und Staatsschuldengesetze waren dem
Abschluß nahe; Hardenberg wünschte auch Steins Urtheil darüber zu ver-
nehmen, erkannte ihn in einem gewinnenden Briefe willig als seinen Meister
im Finanzfache an und bat ihn freundlich: "Warum können wir nicht
zusammen arbeiten?" Der stolze Reichsfreiherr aber blieb unwandelbar
in seinem Hasse, überschüttete die Hardenbergischen Entwürfe, die er gar
nicht kannte, mit leidenschaftlichem Tadel. Mittlerweile erhielt auch der
Verfassungsplan seine endgiltige Gestalt. Die bösen Zungen der Haupt-
stadt erzählten freilich mit großer Zuversicht, der Staatskanzler denke
längst nicht mehr an seine constitutionellen Pläne; man versicherte allgemein,
auf die erste Nachricht von Kotzebues Ermordung hätte er ausgerufen:
"nun ist eine Verfassung für Preußen unmöglich!" Einen Ohrenzeugen
wußte jedoch Niemand zu nennen; das geflügelte Wort war entweder er-
funden oder nur ein unwillkürlicher Ausruf des ersten jähen Schreckens.
Sicher bleibt, daß Hardenberg grade jetzt, unter den ungünstigsten Ver-
hältnissen, die Verfassungsarbeit wieder aufnahm. Am 11. August legte
er dem Könige seinen letzten Entwurf vor, und nach neuen vertraulichen
Berathungen in Charlottenburg, zu denen auch Witzleben zugezogen wurde,
befahl Friedrich Wilhelm, daß aus der Verfassungscommission des Staats-
raths ein Ausschuß gebildet werden sollte um die Verfassung nach Harden-
bergs Vorschlägen auszuarbeiten. Mitglieder waren außer dem Staats-
kanzler selbst: Humboldt, Schuckmann, Ancillon, Daniels, Eichhorn.*)
Wieder vergingen sechs Wochen, da Daniels durch die Geschäfte der rhei-
nischen Justiz-Organisation daheim zurückgehalten wurde. Endlich am
12. Oktober hielt der Ausschuß seine erste Sitzung, und Hardenbergs Ent-
wurf -- "Ideen zu einer landständischen Verfassung in Preußen" -- trat
aus dem Dunkel hervor.

Die Arbeit bewies, daß die Jahre dem greisen Staatsmanne wohl
die Kraft des Willens, doch nicht die Kühnheit und Schärfe der Gedanken
hatte schmälern können.**) Ganz nach der gründlichen alten preußischen
Weise, in scharfem Gegensatze zu den improvisirten Verfassungen des Sü-
dens, wollte er die parlamentarischen Rechte aufrichten auf der breiten
Unterlage der Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz. Der
Siebzigjährige traute sich noch die Kraft zu, für einen Umbau der ge-
sammten Staatsverwaltung von unten nach oben. Von jenen bureau-
kratisch-liberalen Ansichten, die er einst beim Erlaß des Gensdarmerie-
Edikts bekundet, zeigte sich jetzt keine Spur mehr, und nichts konnte unge-
rechter sein als der Vorwurf Steins: dieser Mann biete nur "liberale
Phrasen und despotische Realitäten, ohne Rücksicht auf das Bestandene".
Vielmehr ging Hardenberg, ganz wie Stein selber, von dem Grundsatze

*) Cabinetsordre an den Staatskanzler, 23. Aug. 1819.
**) Hardenberg, Ideen zu einer landständischen Verfassung in Preußen. S. Beilage IV.

Der neue preußiſche Verfaſſungsausſchuß.
Reformpläne. Die neuen Steuer- und Staatsſchuldengeſetze waren dem
Abſchluß nahe; Hardenberg wünſchte auch Steins Urtheil darüber zu ver-
nehmen, erkannte ihn in einem gewinnenden Briefe willig als ſeinen Meiſter
im Finanzfache an und bat ihn freundlich: „Warum können wir nicht
zuſammen arbeiten?“ Der ſtolze Reichsfreiherr aber blieb unwandelbar
in ſeinem Haſſe, überſchüttete die Hardenbergiſchen Entwürfe, die er gar
nicht kannte, mit leidenſchaftlichem Tadel. Mittlerweile erhielt auch der
Verfaſſungsplan ſeine endgiltige Geſtalt. Die böſen Zungen der Haupt-
ſtadt erzählten freilich mit großer Zuverſicht, der Staatskanzler denke
längſt nicht mehr an ſeine conſtitutionellen Pläne; man verſicherte allgemein,
auf die erſte Nachricht von Kotzebues Ermordung hätte er ausgerufen:
„nun iſt eine Verfaſſung für Preußen unmöglich!“ Einen Ohrenzeugen
wußte jedoch Niemand zu nennen; das geflügelte Wort war entweder er-
funden oder nur ein unwillkürlicher Ausruf des erſten jähen Schreckens.
Sicher bleibt, daß Hardenberg grade jetzt, unter den ungünſtigſten Ver-
hältniſſen, die Verfaſſungsarbeit wieder aufnahm. Am 11. Auguſt legte
er dem Könige ſeinen letzten Entwurf vor, und nach neuen vertraulichen
Berathungen in Charlottenburg, zu denen auch Witzleben zugezogen wurde,
befahl Friedrich Wilhelm, daß aus der Verfaſſungscommiſſion des Staats-
raths ein Ausſchuß gebildet werden ſollte um die Verfaſſung nach Harden-
bergs Vorſchlägen auszuarbeiten. Mitglieder waren außer dem Staats-
kanzler ſelbſt: Humboldt, Schuckmann, Ancillon, Daniels, Eichhorn.*)
Wieder vergingen ſechs Wochen, da Daniels durch die Geſchäfte der rhei-
niſchen Juſtiz-Organiſation daheim zurückgehalten wurde. Endlich am
12. Oktober hielt der Ausſchuß ſeine erſte Sitzung, und Hardenbergs Ent-
wurf — „Ideen zu einer landſtändiſchen Verfaſſung in Preußen“ — trat
aus dem Dunkel hervor.

Die Arbeit bewies, daß die Jahre dem greiſen Staatsmanne wohl
die Kraft des Willens, doch nicht die Kühnheit und Schärfe der Gedanken
hatte ſchmälern können.**) Ganz nach der gründlichen alten preußiſchen
Weiſe, in ſcharfem Gegenſatze zu den improviſirten Verfaſſungen des Sü-
dens, wollte er die parlamentariſchen Rechte aufrichten auf der breiten
Unterlage der Selbſtverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz. Der
Siebzigjährige traute ſich noch die Kraft zu, für einen Umbau der ge-
ſammten Staatsverwaltung von unten nach oben. Von jenen bureau-
kratiſch-liberalen Anſichten, die er einſt beim Erlaß des Gensdarmerie-
Edikts bekundet, zeigte ſich jetzt keine Spur mehr, und nichts konnte unge-
rechter ſein als der Vorwurf Steins: dieſer Mann biete nur „liberale
Phraſen und despotiſche Realitäten, ohne Rückſicht auf das Beſtandene“.
Vielmehr ging Hardenberg, ganz wie Stein ſelber, von dem Grundſatze

*) Cabinetsordre an den Staatskanzler, 23. Aug. 1819.
**) Hardenberg, Ideen zu einer landſtändiſchen Verfaſſung in Preußen. S. Beilage IV.
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[589/0603] Der neue preußiſche Verfaſſungsausſchuß. Reformpläne. Die neuen Steuer- und Staatsſchuldengeſetze waren dem Abſchluß nahe; Hardenberg wünſchte auch Steins Urtheil darüber zu ver- nehmen, erkannte ihn in einem gewinnenden Briefe willig als ſeinen Meiſter im Finanzfache an und bat ihn freundlich: „Warum können wir nicht zuſammen arbeiten?“ Der ſtolze Reichsfreiherr aber blieb unwandelbar in ſeinem Haſſe, überſchüttete die Hardenbergiſchen Entwürfe, die er gar nicht kannte, mit leidenſchaftlichem Tadel. Mittlerweile erhielt auch der Verfaſſungsplan ſeine endgiltige Geſtalt. Die böſen Zungen der Haupt- ſtadt erzählten freilich mit großer Zuverſicht, der Staatskanzler denke längſt nicht mehr an ſeine conſtitutionellen Pläne; man verſicherte allgemein, auf die erſte Nachricht von Kotzebues Ermordung hätte er ausgerufen: „nun iſt eine Verfaſſung für Preußen unmöglich!“ Einen Ohrenzeugen wußte jedoch Niemand zu nennen; das geflügelte Wort war entweder er- funden oder nur ein unwillkürlicher Ausruf des erſten jähen Schreckens. Sicher bleibt, daß Hardenberg grade jetzt, unter den ungünſtigſten Ver- hältniſſen, die Verfaſſungsarbeit wieder aufnahm. Am 11. Auguſt legte er dem Könige ſeinen letzten Entwurf vor, und nach neuen vertraulichen Berathungen in Charlottenburg, zu denen auch Witzleben zugezogen wurde, befahl Friedrich Wilhelm, daß aus der Verfaſſungscommiſſion des Staats- raths ein Ausſchuß gebildet werden ſollte um die Verfaſſung nach Harden- bergs Vorſchlägen auszuarbeiten. Mitglieder waren außer dem Staats- kanzler ſelbſt: Humboldt, Schuckmann, Ancillon, Daniels, Eichhorn. *) Wieder vergingen ſechs Wochen, da Daniels durch die Geſchäfte der rhei- niſchen Juſtiz-Organiſation daheim zurückgehalten wurde. Endlich am 12. Oktober hielt der Ausſchuß ſeine erſte Sitzung, und Hardenbergs Ent- wurf — „Ideen zu einer landſtändiſchen Verfaſſung in Preußen“ — trat aus dem Dunkel hervor. Die Arbeit bewies, daß die Jahre dem greiſen Staatsmanne wohl die Kraft des Willens, doch nicht die Kühnheit und Schärfe der Gedanken hatte ſchmälern können. **) Ganz nach der gründlichen alten preußiſchen Weiſe, in ſcharfem Gegenſatze zu den improviſirten Verfaſſungen des Sü- dens, wollte er die parlamentariſchen Rechte aufrichten auf der breiten Unterlage der Selbſtverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz. Der Siebzigjährige traute ſich noch die Kraft zu, für einen Umbau der ge- ſammten Staatsverwaltung von unten nach oben. Von jenen bureau- kratiſch-liberalen Anſichten, die er einſt beim Erlaß des Gensdarmerie- Edikts bekundet, zeigte ſich jetzt keine Spur mehr, und nichts konnte unge- rechter ſein als der Vorwurf Steins: dieſer Mann biete nur „liberale Phraſen und despotiſche Realitäten, ohne Rückſicht auf das Beſtandene“. Vielmehr ging Hardenberg, ganz wie Stein ſelber, von dem Grundſatze *) Cabinetsordre an den Staatskanzler, 23. Aug. 1819. **) Hardenberg, Ideen zu einer landſtändiſchen Verfaſſung in Preußen. S. Beilage IV.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/603>, abgerufen am 22.11.2024.