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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 10. Der Umschwung am preußischen Hofe.
unbedingt Alles was in Karlsbad vorging;*) Kapodistrias sprach ebenso
lebhaft dawider; der Czar selbst war im Grunde mit Nesselrode einver-
standen, aber nicht fest genug um die liberalen Ansichten seines griechischen
Freundes kurzweg zurückzuweisen. Sofort nach den Karlsbader Conferenzen
hatte Kaiser Franz dem Czaren in einem Handschreiben dargelegt, wie
schwer die Ruhe Europas gefährdet sei durch die sträfliche Nachsicht der
kleinen deutschen Kronen "gegen die Narren und Schreier". Beide deutsche
Großmächte legten sodann nach vollbrachter Arbeit die neuen Bundesbe-
schlüsse dem Czaren vor und fanden warmen Dank. Alle auswärtigen
Diplomaten meldeten übereinstimmend, wie tief Alexander von der Gefahr
einer allgemeinen revolutionären Schilderhebung überzeugt sei; nur deshalb,
äußerte er wiederholt, bleibe das russische Heer auf Kriegsfuß.**)

Unterdessen trieb Kapodistrias liberale Politik auf eigne Hand. Er
stellte die Vertreter Baierns und Badens ernstlich zur Rede, warum ihre
Höfe die Souveränität so leichtsinnig preisgegeben hätten? Wie nun, fragte
er den Badener Blittersdorff, wenn der Bundestag einmal der Krone
Baiern die Execution gegen Baden übertrüge! "Die Furcht ist immer ein
schlechter Rathgeber, und sie scheint die Karlsbader Beschlüsse diktirt zu
haben. Sind die deutschen Fürsten darum Souveräne um sich irgend
einer Autorität zu unterwerfen, nun wohl, so sollen sie sich ein Oberhaupt
wählen, aber eines, nicht achtunddreißig." Möge der Karlsruher Hof, so
schloß er, sich's zweimal überlegen bevor er auf den Wiener Conferenzen
neuen Beschlüssen zustimmt, welche den Deutschen Bund in einen Bundes-
staat verwandeln werden!***) Die russischen Gesandten an den kleinen
Höfen, Anstett in Frankfurt, Pahlen in München, Koselowsky in Stuttgart
vermochten sich in diesen seltsamen Widersprüchen nicht zurechtzufinden: sie
hielten sich also an den altmoskowitischen Grundsatz, daß der Unfriede in
Deutschland für Rußland heilsam sei, und versäumten nichts, was den
Widerstand gegen die deutschen Großmächte ermuthigen konnte.

Am 30. November trat Kapodistrias endlich etwas kühner auf und
versendete gleichzeitig vier umfangreiche Denkschriften: eine Antwort an den
österreichischen Gesandten Lebzeltern, eine Verbalnote an die beiden deutschen
Großmächte, eine Circulardepesche an die russischen Gesandten in Deutsch-
land und endlich noch ein Memoire über die Folgen der letzten Bundes-
beschlüsse.+) Der gewaltige Wortprunk dieser Aktenstücke bewies nur zu
klar, daß der Grieche seine ganze Meinung nicht sagen durfte. Kaiser
Alexander -- das war der langen Rede kurzer Sinn -- begrüße in den

*) Blittersdorffs Berichte, Petersburg 14. Aug. 1819 ff.
**) Krusemarks Bericht, 8. Dec. 1819. Bericht des schwedischen Gesandten Löwenhjelm
(Beilage zu Krusemarks Bericht, 2. Jan. 1820).
***) Blittersdorffs Bericht, Petersburg 4. Nov. 1819.
+) Kapodistrias an Lebzeltern, 30. Nov. 1819. Die drei anderen Schriftstücke bei
F. v. Weech, Correspondenzen S. 19 f.

II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.
unbedingt Alles was in Karlsbad vorging;*) Kapodiſtrias ſprach ebenſo
lebhaft dawider; der Czar ſelbſt war im Grunde mit Neſſelrode einver-
ſtanden, aber nicht feſt genug um die liberalen Anſichten ſeines griechiſchen
Freundes kurzweg zurückzuweiſen. Sofort nach den Karlsbader Conferenzen
hatte Kaiſer Franz dem Czaren in einem Handſchreiben dargelegt, wie
ſchwer die Ruhe Europas gefährdet ſei durch die ſträfliche Nachſicht der
kleinen deutſchen Kronen „gegen die Narren und Schreier“. Beide deutſche
Großmächte legten ſodann nach vollbrachter Arbeit die neuen Bundesbe-
ſchlüſſe dem Czaren vor und fanden warmen Dank. Alle auswärtigen
Diplomaten meldeten übereinſtimmend, wie tief Alexander von der Gefahr
einer allgemeinen revolutionären Schilderhebung überzeugt ſei; nur deshalb,
äußerte er wiederholt, bleibe das ruſſiſche Heer auf Kriegsfuß.**)

Unterdeſſen trieb Kapodiſtrias liberale Politik auf eigne Hand. Er
ſtellte die Vertreter Baierns und Badens ernſtlich zur Rede, warum ihre
Höfe die Souveränität ſo leichtſinnig preisgegeben hätten? Wie nun, fragte
er den Badener Blittersdorff, wenn der Bundestag einmal der Krone
Baiern die Execution gegen Baden übertrüge! „Die Furcht iſt immer ein
ſchlechter Rathgeber, und ſie ſcheint die Karlsbader Beſchlüſſe diktirt zu
haben. Sind die deutſchen Fürſten darum Souveräne um ſich irgend
einer Autorität zu unterwerfen, nun wohl, ſo ſollen ſie ſich ein Oberhaupt
wählen, aber eines, nicht achtunddreißig.“ Möge der Karlsruher Hof, ſo
ſchloß er, ſich’s zweimal überlegen bevor er auf den Wiener Conferenzen
neuen Beſchlüſſen zuſtimmt, welche den Deutſchen Bund in einen Bundes-
ſtaat verwandeln werden!***) Die ruſſiſchen Geſandten an den kleinen
Höfen, Anſtett in Frankfurt, Pahlen in München, Koſelowsky in Stuttgart
vermochten ſich in dieſen ſeltſamen Widerſprüchen nicht zurechtzufinden: ſie
hielten ſich alſo an den altmoskowitiſchen Grundſatz, daß der Unfriede in
Deutſchland für Rußland heilſam ſei, und verſäumten nichts, was den
Widerſtand gegen die deutſchen Großmächte ermuthigen konnte.

Am 30. November trat Kapodiſtrias endlich etwas kühner auf und
verſendete gleichzeitig vier umfangreiche Denkſchriften: eine Antwort an den
öſterreichiſchen Geſandten Lebzeltern, eine Verbalnote an die beiden deutſchen
Großmächte, eine Circulardepeſche an die ruſſiſchen Geſandten in Deutſch-
land und endlich noch ein Memoire über die Folgen der letzten Bundes-
beſchlüſſe.†) Der gewaltige Wortprunk dieſer Aktenſtücke bewies nur zu
klar, daß der Grieche ſeine ganze Meinung nicht ſagen durfte. Kaiſer
Alexander — das war der langen Rede kurzer Sinn — begrüße in den

*) Blittersdorffs Berichte, Petersburg 14. Aug. 1819 ff.
**) Kruſemarks Bericht, 8. Dec. 1819. Bericht des ſchwediſchen Geſandten Löwenhjelm
(Beilage zu Kruſemarks Bericht, 2. Jan. 1820).
***) Blittersdorffs Bericht, Petersburg 4. Nov. 1819.
†) Kapodiſtrias an Lebzeltern, 30. Nov. 1819. Die drei anderen Schriftſtücke bei
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[586/0600] II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe. unbedingt Alles was in Karlsbad vorging; *) Kapodiſtrias ſprach ebenſo lebhaft dawider; der Czar ſelbſt war im Grunde mit Neſſelrode einver- ſtanden, aber nicht feſt genug um die liberalen Anſichten ſeines griechiſchen Freundes kurzweg zurückzuweiſen. Sofort nach den Karlsbader Conferenzen hatte Kaiſer Franz dem Czaren in einem Handſchreiben dargelegt, wie ſchwer die Ruhe Europas gefährdet ſei durch die ſträfliche Nachſicht der kleinen deutſchen Kronen „gegen die Narren und Schreier“. Beide deutſche Großmächte legten ſodann nach vollbrachter Arbeit die neuen Bundesbe- ſchlüſſe dem Czaren vor und fanden warmen Dank. Alle auswärtigen Diplomaten meldeten übereinſtimmend, wie tief Alexander von der Gefahr einer allgemeinen revolutionären Schilderhebung überzeugt ſei; nur deshalb, äußerte er wiederholt, bleibe das ruſſiſche Heer auf Kriegsfuß. **) Unterdeſſen trieb Kapodiſtrias liberale Politik auf eigne Hand. Er ſtellte die Vertreter Baierns und Badens ernſtlich zur Rede, warum ihre Höfe die Souveränität ſo leichtſinnig preisgegeben hätten? Wie nun, fragte er den Badener Blittersdorff, wenn der Bundestag einmal der Krone Baiern die Execution gegen Baden übertrüge! „Die Furcht iſt immer ein ſchlechter Rathgeber, und ſie ſcheint die Karlsbader Beſchlüſſe diktirt zu haben. Sind die deutſchen Fürſten darum Souveräne um ſich irgend einer Autorität zu unterwerfen, nun wohl, ſo ſollen ſie ſich ein Oberhaupt wählen, aber eines, nicht achtunddreißig.“ Möge der Karlsruher Hof, ſo ſchloß er, ſich’s zweimal überlegen bevor er auf den Wiener Conferenzen neuen Beſchlüſſen zuſtimmt, welche den Deutſchen Bund in einen Bundes- ſtaat verwandeln werden! ***) Die ruſſiſchen Geſandten an den kleinen Höfen, Anſtett in Frankfurt, Pahlen in München, Koſelowsky in Stuttgart vermochten ſich in dieſen ſeltſamen Widerſprüchen nicht zurechtzufinden: ſie hielten ſich alſo an den altmoskowitiſchen Grundſatz, daß der Unfriede in Deutſchland für Rußland heilſam ſei, und verſäumten nichts, was den Widerſtand gegen die deutſchen Großmächte ermuthigen konnte. Am 30. November trat Kapodiſtrias endlich etwas kühner auf und verſendete gleichzeitig vier umfangreiche Denkſchriften: eine Antwort an den öſterreichiſchen Geſandten Lebzeltern, eine Verbalnote an die beiden deutſchen Großmächte, eine Circulardepeſche an die ruſſiſchen Geſandten in Deutſch- land und endlich noch ein Memoire über die Folgen der letzten Bundes- beſchlüſſe. †) Der gewaltige Wortprunk dieſer Aktenſtücke bewies nur zu klar, daß der Grieche ſeine ganze Meinung nicht ſagen durfte. Kaiſer Alexander — das war der langen Rede kurzer Sinn — begrüße in den *) Blittersdorffs Berichte, Petersburg 14. Aug. 1819 ff. **) Kruſemarks Bericht, 8. Dec. 1819. Bericht des ſchwediſchen Geſandten Löwenhjelm (Beilage zu Kruſemarks Bericht, 2. Jan. 1820). ***) Blittersdorffs Bericht, Petersburg 4. Nov. 1819. †) Kapodiſtrias an Lebzeltern, 30. Nov. 1819. Die drei anderen Schriftſtücke bei F. v. Weech, Correſpondenzen S. 19 f.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 586. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/600>, abgerufen am 25.11.2024.