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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse.
des Lebens geknickt, andere endlich dem Vaterlande gewaltsam entfremdet,
so Franz Lieber, der nach langen Irrfahrten in Amerika eine neue Hei-
math fand und dort mit dem ganzen Gedankenreichthum der deutschen
historischen Rechtsschule das Ideal der Bundesrepublik verherrlichte, der
geistvollste unter allen Publicisten der modernen Demokratie.

Für Preußen und sein Verhältniß zur Nation ward der Unsinn dieser
Demagogenverfolgung wahrhaft verhängnißvoll, obwohl die Mehrheit am
Bundestage die heilsame Strenge der preußischen Regierung mit unter-
thänigem Danke anerkannte.*) Wörtlich erfüllte sich was Niebuhr
weissagte: "welches Leben ohne Liebe, ohne Patriotismus, ohne Freude,
voll Mißmuth und Groll entsteht aus solchen Verhältnissen zwischen
Unterthanen und Regierungen!" Hatten die partikularistischen Liberalen
die preußische Monarchie bisher schon ohne Grund verunglimpft, so stürzten
sie sich jetzt vollends mit urkräftigem Behagen auf die offene Wunde am
Leibe des deutschen Staats. Da die Deutsch-Oesterreicher der nationalen
Bewegung vollkommen fremd blieben und Metternich mithin wenig Gelegen-
heit zu Verhaftungen fand, so galt Preußen nunmehr als die Macht der
Finsterniß im deutschen Leben, und in den Köpfen der selbstgefälligen
Constitutionellen des Südwestens nistete sich ein Vorurtheil ein, das, wie
thöricht immer, doch eine reale Macht, ein schweres Hinderniß unserer
politischen Entwickelung geworden ist. Das völlig nichtige Ergebniß der
Untersuchungen gegen Arndt und Jahn rief nachher natürlich die Meinung
hervor, als wäre überhaupt gar kein Grund zu polizeilichem Einschreiten
vorhanden gewesen. Und doch hatte man mindestens einen wirklichen
Verschwörer ergriffen, Adolf Follen in Elberfeld. Bei ihm fand sich auch
jener Entwurf für die Verfassung der deutschen Republik; doch er ver-
stand, während so viele Unschuldige leiden mußten, seine Untersuchungs-
richter mit der Gewissenlosigkeit des Unbedingten zu täuschen. --

Immer lauter ward das Gerücht, daß die Karlsbader Versammlung
den deutschen Landtagen feste Formen und Schranken vorschreiben werde.
Um dieser Gefahr vorzubeugen versuchten noch in der zwölften Stunde
zu gleicher Zeit zwei Souveräne ihre Verfassung selbständig zu ordnen.
Die Fürstin-Vormünderin Pauline von Lippe-Detmold, eine der geist-
reichsten Frauen ihrer Zeit, lebte seit Langem in Streit mit ihren Ständen,
weil sie den alten aus 32 Rittern und 7 Städtern bestehenden Landtag
umgestalten und jedem der drei Stände die gleiche Stimmenzahl gewähren
wollte. Sie war die Wohlthäterin ihres Ländchens, hatte die Bürger und
Bauern Mann für Mann auf ihrer Seite und redete mit einer Unbe-
fangenheit, die in Wien übel vermerkt ward, von dem natürlichen Rechte
der Völker auf Vertretung aller Klassen. Mit dem positiven Rechte aber
nahm sie es nach Frauenart nicht genau; auch sie war, wie weiland König

*) Goltz's Bericht, 20. Juli 1819.

II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
des Lebens geknickt, andere endlich dem Vaterlande gewaltſam entfremdet,
ſo Franz Lieber, der nach langen Irrfahrten in Amerika eine neue Hei-
math fand und dort mit dem ganzen Gedankenreichthum der deutſchen
hiſtoriſchen Rechtsſchule das Ideal der Bundesrepublik verherrlichte, der
geiſtvollſte unter allen Publiciſten der modernen Demokratie.

Für Preußen und ſein Verhältniß zur Nation ward der Unſinn dieſer
Demagogenverfolgung wahrhaft verhängnißvoll, obwohl die Mehrheit am
Bundestage die heilſame Strenge der preußiſchen Regierung mit unter-
thänigem Danke anerkannte.*) Wörtlich erfüllte ſich was Niebuhr
weiſſagte: „welches Leben ohne Liebe, ohne Patriotismus, ohne Freude,
voll Mißmuth und Groll entſteht aus ſolchen Verhältniſſen zwiſchen
Unterthanen und Regierungen!“ Hatten die partikulariſtiſchen Liberalen
die preußiſche Monarchie bisher ſchon ohne Grund verunglimpft, ſo ſtürzten
ſie ſich jetzt vollends mit urkräftigem Behagen auf die offene Wunde am
Leibe des deutſchen Staats. Da die Deutſch-Oeſterreicher der nationalen
Bewegung vollkommen fremd blieben und Metternich mithin wenig Gelegen-
heit zu Verhaftungen fand, ſo galt Preußen nunmehr als die Macht der
Finſterniß im deutſchen Leben, und in den Köpfen der ſelbſtgefälligen
Conſtitutionellen des Südweſtens niſtete ſich ein Vorurtheil ein, das, wie
thöricht immer, doch eine reale Macht, ein ſchweres Hinderniß unſerer
politiſchen Entwickelung geworden iſt. Das völlig nichtige Ergebniß der
Unterſuchungen gegen Arndt und Jahn rief nachher natürlich die Meinung
hervor, als wäre überhaupt gar kein Grund zu polizeilichem Einſchreiten
vorhanden geweſen. Und doch hatte man mindeſtens einen wirklichen
Verſchwörer ergriffen, Adolf Follen in Elberfeld. Bei ihm fand ſich auch
jener Entwurf für die Verfaſſung der deutſchen Republik; doch er ver-
ſtand, während ſo viele Unſchuldige leiden mußten, ſeine Unterſuchungs-
richter mit der Gewiſſenloſigkeit des Unbedingten zu täuſchen. —

Immer lauter ward das Gerücht, daß die Karlsbader Verſammlung
den deutſchen Landtagen feſte Formen und Schranken vorſchreiben werde.
Um dieſer Gefahr vorzubeugen verſuchten noch in der zwölften Stunde
zu gleicher Zeit zwei Souveräne ihre Verfaſſung ſelbſtändig zu ordnen.
Die Fürſtin-Vormünderin Pauline von Lippe-Detmold, eine der geiſt-
reichſten Frauen ihrer Zeit, lebte ſeit Langem in Streit mit ihren Ständen,
weil ſie den alten aus 32 Rittern und 7 Städtern beſtehenden Landtag
umgeſtalten und jedem der drei Stände die gleiche Stimmenzahl gewähren
wollte. Sie war die Wohlthäterin ihres Ländchens, hatte die Bürger und
Bauern Mann für Mann auf ihrer Seite und redete mit einer Unbe-
fangenheit, die in Wien übel vermerkt ward, von dem natürlichen Rechte
der Völker auf Vertretung aller Klaſſen. Mit dem poſitiven Rechte aber
nahm ſie es nach Frauenart nicht genau; auch ſie war, wie weiland König

*) Goltz’s Bericht, 20. Juli 1819.
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[544/0558] II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe. des Lebens geknickt, andere endlich dem Vaterlande gewaltſam entfremdet, ſo Franz Lieber, der nach langen Irrfahrten in Amerika eine neue Hei- math fand und dort mit dem ganzen Gedankenreichthum der deutſchen hiſtoriſchen Rechtsſchule das Ideal der Bundesrepublik verherrlichte, der geiſtvollſte unter allen Publiciſten der modernen Demokratie. Für Preußen und ſein Verhältniß zur Nation ward der Unſinn dieſer Demagogenverfolgung wahrhaft verhängnißvoll, obwohl die Mehrheit am Bundestage die heilſame Strenge der preußiſchen Regierung mit unter- thänigem Danke anerkannte. *) Wörtlich erfüllte ſich was Niebuhr weiſſagte: „welches Leben ohne Liebe, ohne Patriotismus, ohne Freude, voll Mißmuth und Groll entſteht aus ſolchen Verhältniſſen zwiſchen Unterthanen und Regierungen!“ Hatten die partikulariſtiſchen Liberalen die preußiſche Monarchie bisher ſchon ohne Grund verunglimpft, ſo ſtürzten ſie ſich jetzt vollends mit urkräftigem Behagen auf die offene Wunde am Leibe des deutſchen Staats. Da die Deutſch-Oeſterreicher der nationalen Bewegung vollkommen fremd blieben und Metternich mithin wenig Gelegen- heit zu Verhaftungen fand, ſo galt Preußen nunmehr als die Macht der Finſterniß im deutſchen Leben, und in den Köpfen der ſelbſtgefälligen Conſtitutionellen des Südweſtens niſtete ſich ein Vorurtheil ein, das, wie thöricht immer, doch eine reale Macht, ein ſchweres Hinderniß unſerer politiſchen Entwickelung geworden iſt. Das völlig nichtige Ergebniß der Unterſuchungen gegen Arndt und Jahn rief nachher natürlich die Meinung hervor, als wäre überhaupt gar kein Grund zu polizeilichem Einſchreiten vorhanden geweſen. Und doch hatte man mindeſtens einen wirklichen Verſchwörer ergriffen, Adolf Follen in Elberfeld. Bei ihm fand ſich auch jener Entwurf für die Verfaſſung der deutſchen Republik; doch er ver- ſtand, während ſo viele Unſchuldige leiden mußten, ſeine Unterſuchungs- richter mit der Gewiſſenloſigkeit des Unbedingten zu täuſchen. — Immer lauter ward das Gerücht, daß die Karlsbader Verſammlung den deutſchen Landtagen feſte Formen und Schranken vorſchreiben werde. Um dieſer Gefahr vorzubeugen verſuchten noch in der zwölften Stunde zu gleicher Zeit zwei Souveräne ihre Verfaſſung ſelbſtändig zu ordnen. Die Fürſtin-Vormünderin Pauline von Lippe-Detmold, eine der geiſt- reichſten Frauen ihrer Zeit, lebte ſeit Langem in Streit mit ihren Ständen, weil ſie den alten aus 32 Rittern und 7 Städtern beſtehenden Landtag umgeſtalten und jedem der drei Stände die gleiche Stimmenzahl gewähren wollte. Sie war die Wohlthäterin ihres Ländchens, hatte die Bürger und Bauern Mann für Mann auf ihrer Seite und redete mit einer Unbe- fangenheit, die in Wien übel vermerkt ward, von dem natürlichen Rechte der Völker auf Vertretung aller Klaſſen. Mit dem poſitiven Rechte aber nahm ſie es nach Frauenart nicht genau; auch ſie war, wie weiland König *) Goltz’s Bericht, 20. Juli 1819.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 544. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/558>, abgerufen am 25.11.2024.