und der Stralsunder Conrector hielt in der Schule einen Vortrag über die großen Tyrannenmörder der Hellenen. Der im Zeitalter der clas- sischen Dichtung gepflegte Cultus der freien Persönlichkeit stimmte die öffentliche Meinung empfänglich für die sophistische Ueberzeugungsmoral der Unbedingten: Sand sollte schuldlos sein, weil er wie Jesus nach seiner Ueberzeugung gehandelt habe -- eine entsetzliche Ansicht, die schließlich dahin führen muß, jeden verhärteten Verbrecher frei zu sprechen und nur den schwankenden, dessen Gewissen noch nicht erstorben ist, zu verdammen. In Nasses medicinischer Zeitschrift führte der Irrenarzt Grohmann aus: "Sands That hatte nur die äußere, scheinbare Form des Meuchelmords; es war offene ausgemachte Fehde, es war die That eines bis zum höchsten Grade der Moralität, der religiösen Weihe erhöheten und verlebendigten Bewußtseins."
Auch ein Theolog, der fromme, kindlich liebenswürdige de Wette in Berlin, sprach sich in dem gleichen Sinne aus, als ob ein denkendes Wesen nicht auch für seine Ueberzeugung verantwortlich sei. Er hatte den Unglücklichen persönlich gekannt und fühlte sich in seinem guten Herzen gedrungen, der Mutter einen Trostbrief zu schreiben. Darin gab er wohl zu, daß die That ihres "außerordentlichen Sohnes aus Irrthum hervorgegangen und nicht ganz frei von Leidenschaft" sei. Aber "der Irr- thum wird aufgewogen durch die Lauterkeit der Ueberzeugung, die Leiden- schaft wird geheiligt durch die gute Quelle, aus der sie fließt. Er hielt es für recht, und so hat er recht gethan; ein Jeder handle nur nach seiner besten Ueberzeugung, und so wird er das Beste thun. So wie die That geschehen ist durch diesen reinen frommen Jüngling, mit diesem Glauben, mit dieser Zuversicht, ist sie ein schönes Zeichen der Zeit. Ein Jüngling setzt sein Leben daran, einen Menschen auszurotten, den so Viele als einen Götzen verehren; sollte dieses ohne alle Wirkung sein?" Bis zu diesem Uebermaße der Verblendung gingen freilich nur Einzelne; das vor- herrschende Urtheil in den gebildeten Klassen war doch, wie Görres offen aussprach, "Mißbilligung der Handlung bei Billigung der Motive".
Eine solche Verwirrung aller sittlichen Begriffe in einem ernsten Volke würde unbegreiflich sein, wenn sie sich nicht aus der politischen Verstimmung erklärte. Der allgemeine Mißmuth über Deutschlands Ohnmacht hatte sich endlich in einem gräßlichen Aufschrei Luft gemacht; den Patrioten war, als ob der Mörder nur ausgedrückt, was in unzähligen Herzen lebte. Auf Kotzebues Namen lastete eine ungeheuere, wohlverdiente Ver- achtung. Alle Welt wähnte zudem, daß die deutsche Reaktion von Ruß- land ausgehe, in einem Augenblicke, da der Czar in Wahrheit nur sehr geringen Einfluß auf Deutschlands Geschicke ausübte. In Kotzebue sahen die Aufgeregten den Vertreter der russischen Macht auf deutschem Boden, obgleich er am Petersburger Hofe gar nichts galt und, nach Kaiser Alexan- ders bestimmter, durchaus glaubwürdiger Versicherung, sich selbst zur Er-
II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
und der Stralſunder Conrector hielt in der Schule einen Vortrag über die großen Tyrannenmörder der Hellenen. Der im Zeitalter der claſ- ſiſchen Dichtung gepflegte Cultus der freien Perſönlichkeit ſtimmte die öffentliche Meinung empfänglich für die ſophiſtiſche Ueberzeugungsmoral der Unbedingten: Sand ſollte ſchuldlos ſein, weil er wie Jeſus nach ſeiner Ueberzeugung gehandelt habe — eine entſetzliche Anſicht, die ſchließlich dahin führen muß, jeden verhärteten Verbrecher frei zu ſprechen und nur den ſchwankenden, deſſen Gewiſſen noch nicht erſtorben iſt, zu verdammen. In Naſſes mediciniſcher Zeitſchrift führte der Irrenarzt Grohmann aus: „Sands That hatte nur die äußere, ſcheinbare Form des Meuchelmords; es war offene ausgemachte Fehde, es war die That eines bis zum höchſten Grade der Moralität, der religiöſen Weihe erhöheten und verlebendigten Bewußtſeins.“
Auch ein Theolog, der fromme, kindlich liebenswürdige de Wette in Berlin, ſprach ſich in dem gleichen Sinne aus, als ob ein denkendes Weſen nicht auch für ſeine Ueberzeugung verantwortlich ſei. Er hatte den Unglücklichen perſönlich gekannt und fühlte ſich in ſeinem guten Herzen gedrungen, der Mutter einen Troſtbrief zu ſchreiben. Darin gab er wohl zu, daß die That ihres „außerordentlichen Sohnes aus Irrthum hervorgegangen und nicht ganz frei von Leidenſchaft“ ſei. Aber „der Irr- thum wird aufgewogen durch die Lauterkeit der Ueberzeugung, die Leiden- ſchaft wird geheiligt durch die gute Quelle, aus der ſie fließt. Er hielt es für recht, und ſo hat er recht gethan; ein Jeder handle nur nach ſeiner beſten Ueberzeugung, und ſo wird er das Beſte thun. So wie die That geſchehen iſt durch dieſen reinen frommen Jüngling, mit dieſem Glauben, mit dieſer Zuverſicht, iſt ſie ein ſchönes Zeichen der Zeit. Ein Jüngling ſetzt ſein Leben daran, einen Menſchen auszurotten, den ſo Viele als einen Götzen verehren; ſollte dieſes ohne alle Wirkung ſein?“ Bis zu dieſem Uebermaße der Verblendung gingen freilich nur Einzelne; das vor- herrſchende Urtheil in den gebildeten Klaſſen war doch, wie Görres offen ausſprach, „Mißbilligung der Handlung bei Billigung der Motive“.
Eine ſolche Verwirrung aller ſittlichen Begriffe in einem ernſten Volke würde unbegreiflich ſein, wenn ſie ſich nicht aus der politiſchen Verſtimmung erklärte. Der allgemeine Mißmuth über Deutſchlands Ohnmacht hatte ſich endlich in einem gräßlichen Aufſchrei Luft gemacht; den Patrioten war, als ob der Mörder nur ausgedrückt, was in unzähligen Herzen lebte. Auf Kotzebues Namen laſtete eine ungeheuere, wohlverdiente Ver- achtung. Alle Welt wähnte zudem, daß die deutſche Reaktion von Ruß- land ausgehe, in einem Augenblicke, da der Czar in Wahrheit nur ſehr geringen Einfluß auf Deutſchlands Geſchicke ausübte. In Kotzebue ſahen die Aufgeregten den Vertreter der ruſſiſchen Macht auf deutſchem Boden, obgleich er am Petersburger Hofe gar nichts galt und, nach Kaiſer Alexan- ders beſtimmter, durchaus glaubwürdiger Verſicherung, ſich ſelbſt zur Er-
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und der Stralſunder Conrector hielt in der Schule einen Vortrag über
die großen Tyrannenmörder der Hellenen. Der im Zeitalter der claſ-
ſiſchen Dichtung gepflegte Cultus der freien Perſönlichkeit ſtimmte die
öffentliche Meinung empfänglich für die ſophiſtiſche Ueberzeugungsmoral
der Unbedingten: Sand ſollte ſchuldlos ſein, weil er wie Jeſus nach ſeiner
Ueberzeugung gehandelt habe — eine entſetzliche Anſicht, die ſchließlich
dahin führen muß, jeden verhärteten Verbrecher frei zu ſprechen und nur
den ſchwankenden, deſſen Gewiſſen noch nicht erſtorben iſt, zu verdammen.
In Naſſes mediciniſcher Zeitſchrift führte der Irrenarzt Grohmann aus:
„Sands That hatte nur die äußere, ſcheinbare Form des Meuchelmords;
es war offene ausgemachte Fehde, es war die That eines bis zum höchſten
Grade der Moralität, der religiöſen Weihe erhöheten und verlebendigten
Bewußtſeins.“
Auch ein Theolog, der fromme, kindlich liebenswürdige de Wette
in Berlin, ſprach ſich in dem gleichen Sinne aus, als ob ein denkendes
Weſen nicht auch für ſeine Ueberzeugung verantwortlich ſei. Er hatte
den Unglücklichen perſönlich gekannt und fühlte ſich in ſeinem guten Herzen
gedrungen, der Mutter einen Troſtbrief zu ſchreiben. Darin gab er
wohl zu, daß die That ihres „außerordentlichen Sohnes aus Irrthum
hervorgegangen und nicht ganz frei von Leidenſchaft“ ſei. Aber „der Irr-
thum wird aufgewogen durch die Lauterkeit der Ueberzeugung, die Leiden-
ſchaft wird geheiligt durch die gute Quelle, aus der ſie fließt. Er hielt es
für recht, und ſo hat er recht gethan; ein Jeder handle nur nach ſeiner
beſten Ueberzeugung, und ſo wird er das Beſte thun. So wie die That
geſchehen iſt durch dieſen reinen frommen Jüngling, mit dieſem Glauben,
mit dieſer Zuverſicht, iſt ſie ein ſchönes Zeichen der Zeit. Ein Jüngling
ſetzt ſein Leben daran, einen Menſchen auszurotten, den ſo Viele als
einen Götzen verehren; ſollte dieſes ohne alle Wirkung ſein?“ Bis zu
dieſem Uebermaße der Verblendung gingen freilich nur Einzelne; das vor-
herrſchende Urtheil in den gebildeten Klaſſen war doch, wie Görres offen
ausſprach, „Mißbilligung der Handlung bei Billigung der Motive“.
Eine ſolche Verwirrung aller ſittlichen Begriffe in einem ernſten Volke
würde unbegreiflich ſein, wenn ſie ſich nicht aus der politiſchen Verſtimmung
erklärte. Der allgemeine Mißmuth über Deutſchlands Ohnmacht hatte
ſich endlich in einem gräßlichen Aufſchrei Luft gemacht; den Patrioten
war, als ob der Mörder nur ausgedrückt, was in unzähligen Herzen
lebte. Auf Kotzebues Namen laſtete eine ungeheuere, wohlverdiente Ver-
achtung. Alle Welt wähnte zudem, daß die deutſche Reaktion von Ruß-
land ausgehe, in einem Augenblicke, da der Czar in Wahrheit nur ſehr
geringen Einfluß auf Deutſchlands Geſchicke ausübte. In Kotzebue ſahen
die Aufgeregten den Vertreter der ruſſiſchen Macht auf deutſchem Boden,
obgleich er am Petersburger Hofe gar nichts galt und, nach Kaiſer Alexan-
ders beſtimmter, durchaus glaubwürdiger Verſicherung, ſich ſelbſt zur Er-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/540>, abgerufen am 25.11.2024.
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