Ferdinand nicht eine ehrliche Vermittlung wollte, sondern einfach die Wiederherstellung seiner Herrschaft in Südamerika; und am Ende durfte doch selbst diese Tory-Regierung, obwohl sie von wirthschaftlichen Fragen wenig verstand, sich den Traditionen der britischen Handelspolitik nicht ganz entziehen. England hatte durch den Abfall Südamerikas ein er- giebiges Handelsgebiet gewonnen und konnte die Wiedervereinigung der Kolonien mit dem spanischen Mutterlande unmöglich wünschen.*)
Trotz solcher Mißhelligkeiten, die bei der Mannichfaltigkeit der eu- ropäischen Interessen gar nicht ausbleiben konnten, war der Aachener Congreß wohl der einträchtigste der neuen Geschichte; das Friedensbe- dürfniß und die Furcht vor der Revolution hielt die Mächte fest zu- sammen. Und es war wirklich ein europäischer Congreß, obwohl man den Namen vermied. Stolz und sicher segelte das mächtige Orlogsschiff des Vierbundes mit der französischen Schaluppe im Schlepptau durch die Wogen der Zeit. Wellington, der nunmehr auch von Preußen und Oesterreich den Marschallsstab erhielt und also in allen namhaften eu- ropäischen Heeren, mit der einzigen Ausnahme Frankreichs, die höchste militärische Würde bekleidete, erschien gleichsam als der Generalissimus des verbündeten Europas. Die Monarchen hielten sich fest überzeugt, daß ihre Vormundschaft dem Welttheil zum Segen gereiche. Sie zogen unbedenklich jede europäische Frage vor ihr Forum, obwohl sie den Staaten zweiten Ranges soeben erst versichert hatten, daß ihre Zusam- menkunft nur der Abwickelung der französischen Angelegenheiten gelte; und ließen sie einmal eine Streitfrage unerledigt, so geschah dies nicht, weil sie sich für unbefugt gehalten hätten, sondern weil sie sich nicht einigen konnten.
Da der Czar der europäischen Union den Charakter einer großen christ- lichen Familie, im Sinne der heiligen Allianz, bewahren wollte, so ertheilte der Congreß seine Weisungen an die kleinen Staaten häufig durch väter- liche Handschreiben der drei Monarchen. Wie der König von Portugal zur Abschaffung des Skavenhandels, so wurde der König von Schweden durch solche Handbillets zur Erfüllung seiner Pflichten gegen Dänemark angehalten. König Friedrich Wilhelm erinnerte seinen nordischen Nachbar ernstlich an "die Bande christlicher Brüderlichkeit, welche zwischen allen Fürsten und ihren Völkern bestehen." Das neue Haus der Bernadottes aber fühlte sich in dieser legitimen Staatengesellschaft noch sehr unsicher; Karl Johann bewarb sich schon seit einiger Zeit bei dem bairischen und an- deren Höfen, immer vergeblich, um eine Gemahlin für seinen Thronfolger und wußte wohl, daß die Monarchen in Aachen soeben einen Dotations- fonds zum Besten der vertriebenen Wasas gebildet hatten. Daher beeilte er sich der Mahnung zu entsprechen und erreichte endlich nach schweren Kämpfen, daß der norwegische Storthing, wie billig, einen Theil
*) Protokoll der 18. Sitzung vom 23. Okt. Bernstorff an Lottum, 19. Nov. 1818.
II. 8. Der Aachener Congreß.
Ferdinand nicht eine ehrliche Vermittlung wollte, ſondern einfach die Wiederherſtellung ſeiner Herrſchaft in Südamerika; und am Ende durfte doch ſelbſt dieſe Tory-Regierung, obwohl ſie von wirthſchaftlichen Fragen wenig verſtand, ſich den Traditionen der britiſchen Handelspolitik nicht ganz entziehen. England hatte durch den Abfall Südamerikas ein er- giebiges Handelsgebiet gewonnen und konnte die Wiedervereinigung der Kolonien mit dem ſpaniſchen Mutterlande unmöglich wünſchen.*)
Trotz ſolcher Mißhelligkeiten, die bei der Mannichfaltigkeit der eu- ropäiſchen Intereſſen gar nicht ausbleiben konnten, war der Aachener Congreß wohl der einträchtigſte der neuen Geſchichte; das Friedensbe- dürfniß und die Furcht vor der Revolution hielt die Mächte feſt zu- ſammen. Und es war wirklich ein europäiſcher Congreß, obwohl man den Namen vermied. Stolz und ſicher ſegelte das mächtige Orlogsſchiff des Vierbundes mit der franzöſiſchen Schaluppe im Schlepptau durch die Wogen der Zeit. Wellington, der nunmehr auch von Preußen und Oeſterreich den Marſchallsſtab erhielt und alſo in allen namhaften eu- ropäiſchen Heeren, mit der einzigen Ausnahme Frankreichs, die höchſte militäriſche Würde bekleidete, erſchien gleichſam als der Generaliſſimus des verbündeten Europas. Die Monarchen hielten ſich feſt überzeugt, daß ihre Vormundſchaft dem Welttheil zum Segen gereiche. Sie zogen unbedenklich jede europäiſche Frage vor ihr Forum, obwohl ſie den Staaten zweiten Ranges ſoeben erſt verſichert hatten, daß ihre Zuſam- menkunft nur der Abwickelung der franzöſiſchen Angelegenheiten gelte; und ließen ſie einmal eine Streitfrage unerledigt, ſo geſchah dies nicht, weil ſie ſich für unbefugt gehalten hätten, ſondern weil ſie ſich nicht einigen konnten.
Da der Czar der europäiſchen Union den Charakter einer großen chriſt- lichen Familie, im Sinne der heiligen Allianz, bewahren wollte, ſo ertheilte der Congreß ſeine Weiſungen an die kleinen Staaten häufig durch väter- liche Handſchreiben der drei Monarchen. Wie der König von Portugal zur Abſchaffung des Skavenhandels, ſo wurde der König von Schweden durch ſolche Handbillets zur Erfüllung ſeiner Pflichten gegen Dänemark angehalten. König Friedrich Wilhelm erinnerte ſeinen nordiſchen Nachbar ernſtlich an „die Bande chriſtlicher Brüderlichkeit, welche zwiſchen allen Fürſten und ihren Völkern beſtehen.“ Das neue Haus der Bernadottes aber fühlte ſich in dieſer legitimen Staatengeſellſchaft noch ſehr unſicher; Karl Johann bewarb ſich ſchon ſeit einiger Zeit bei dem bairiſchen und an- deren Höfen, immer vergeblich, um eine Gemahlin für ſeinen Thronfolger und wußte wohl, daß die Monarchen in Aachen ſoeben einen Dotations- fonds zum Beſten der vertriebenen Waſas gebildet hatten. Daher beeilte er ſich der Mahnung zu entſprechen und erreichte endlich nach ſchweren Kämpfen, daß der norwegiſche Storthing, wie billig, einen Theil
*) Protokoll der 18. Sitzung vom 23. Okt. Bernſtorff an Lottum, 19. Nov. 1818.
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Ferdinand nicht eine ehrliche Vermittlung wollte, ſondern einfach die
Wiederherſtellung ſeiner Herrſchaft in Südamerika; und am Ende durfte
doch ſelbſt dieſe Tory-Regierung, obwohl ſie von wirthſchaftlichen Fragen
wenig verſtand, ſich den Traditionen der britiſchen Handelspolitik nicht
ganz entziehen. England hatte durch den Abfall Südamerikas ein er-
giebiges Handelsgebiet gewonnen und konnte die Wiedervereinigung der
Kolonien mit dem ſpaniſchen Mutterlande unmöglich wünſchen. *)
Trotz ſolcher Mißhelligkeiten, die bei der Mannichfaltigkeit der eu-
ropäiſchen Intereſſen gar nicht ausbleiben konnten, war der Aachener
Congreß wohl der einträchtigſte der neuen Geſchichte; das Friedensbe-
dürfniß und die Furcht vor der Revolution hielt die Mächte feſt zu-
ſammen. Und es war wirklich ein europäiſcher Congreß, obwohl man
den Namen vermied. Stolz und ſicher ſegelte das mächtige Orlogsſchiff
des Vierbundes mit der franzöſiſchen Schaluppe im Schlepptau durch
die Wogen der Zeit. Wellington, der nunmehr auch von Preußen und
Oeſterreich den Marſchallsſtab erhielt und alſo in allen namhaften eu-
ropäiſchen Heeren, mit der einzigen Ausnahme Frankreichs, die höchſte
militäriſche Würde bekleidete, erſchien gleichſam als der Generaliſſimus
des verbündeten Europas. Die Monarchen hielten ſich feſt überzeugt,
daß ihre Vormundſchaft dem Welttheil zum Segen gereiche. Sie zogen
unbedenklich jede europäiſche Frage vor ihr Forum, obwohl ſie den
Staaten zweiten Ranges ſoeben erſt verſichert hatten, daß ihre Zuſam-
menkunft nur der Abwickelung der franzöſiſchen Angelegenheiten gelte; und
ließen ſie einmal eine Streitfrage unerledigt, ſo geſchah dies nicht, weil ſie
ſich für unbefugt gehalten hätten, ſondern weil ſie ſich nicht einigen konnten.
Da der Czar der europäiſchen Union den Charakter einer großen chriſt-
lichen Familie, im Sinne der heiligen Allianz, bewahren wollte, ſo ertheilte
der Congreß ſeine Weiſungen an die kleinen Staaten häufig durch väter-
liche Handſchreiben der drei Monarchen. Wie der König von Portugal zur
Abſchaffung des Skavenhandels, ſo wurde der König von Schweden
durch ſolche Handbillets zur Erfüllung ſeiner Pflichten gegen Dänemark
angehalten. König Friedrich Wilhelm erinnerte ſeinen nordiſchen Nachbar
ernſtlich an „die Bande chriſtlicher Brüderlichkeit, welche zwiſchen allen
Fürſten und ihren Völkern beſtehen.“ Das neue Haus der Bernadottes
aber fühlte ſich in dieſer legitimen Staatengeſellſchaft noch ſehr unſicher;
Karl Johann bewarb ſich ſchon ſeit einiger Zeit bei dem bairiſchen und an-
deren Höfen, immer vergeblich, um eine Gemahlin für ſeinen Thronfolger
und wußte wohl, daß die Monarchen in Aachen ſoeben einen Dotations-
fonds zum Beſten der vertriebenen Waſas gebildet hatten. Daher
beeilte er ſich der Mahnung zu entſprechen und erreichte endlich nach
ſchweren Kämpfen, daß der norwegiſche Storthing, wie billig, einen Theil
*) Protokoll der 18. Sitzung vom 23. Okt. Bernſtorff an Lottum, 19. Nov. 1818.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/490>, abgerufen am 22.11.2024.
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