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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 8. Der Aachener Congreß.
Politik vorschwebte. Alexander wünschte außer der Fortdauer des Vier-
bundes, dessen Wirksamkeit er auf den Kriegsfall zu beschränken dachte,
auch den Abschluß eines allgemeinen europäischen Garantie-Vertrages.
Diesen Einfall verdankte er einer schwülstigen Denkschrift Ancillons, einer
Privat-Arbeit, welche der unterthänige Vielschreiber dem Czaren vermuth-
lich schon auf der Durchreise in Berlin überreicht hatte. Ancillon ver-
herrlichte darin die heilige Allianz, "diesen Vertrag, der allein genügen
würde die gegenwärtige Epoche unsterblich zu machen," und schilderte so-
dann mit gewohnter Geschwätzigkeit, wie auf die beiden Epochen des
Gleichgewichts und des revolutionären Weltreichs nun endlich die glück-
liche Zeit gefolgt sei, welche "die ebenso einfache als erhabene Idee der
europäischen Familiengesellschaft" begriffen habe. Um diese Idee zu ver-
wirklichen, müßten die fünf großen Mächte allen Staaten Europas ihren
gegenwärtigen Besitzstand solidarisch gegen jede gewaltsame Störung ver-
bürgen und auf regelmäßigen Congressen von Zeit zu Zeit die nothwendi-
gen Aenderungen des Bestehenden friedlich beschließen. "Es kommt darauf
an, fügte Bernstorff erklärend hinzu, der durchsichtigen Seele der heiligen
Allianz einen festen Körper zu geben oder diese wesenlose Psyche mit der
wahren befruchtenden Liebe und Gerechtigkeit zu vermählen."

So sollte denn jenes Traumbild des ewigen Friedens, das die er-
mattete Welt beherrschte, durch das gemeinsame Protectorat der Großmächte
ins Leben eingeführt werden und die europäische Union in den regelmäßig
wiederkehrenden Zusammenkünften der fünf Monarchen eine ständige
Centralgewalt erhalten; also gestaltet hätte der Welttheil die Form eines
Bundesstaates angenommen, eine Verfassung, die sich mit der berechtigten
Unabhängigkeit der Einzelstaaten nicht mehr vertrug. An diesen bedenk-
lichen Vorschlag schloß Ancillon noch einen zweiten schlechthin verwerflichen,
der das System der gemeinsamen Friedenswahrung gradezu verfälschte
und das europäische Protectorat zu einem Werkzeuge reaktionärer Partei-
politik herabzuwürdigen drohte. Die Denkschrift verlangte, daß die großen
Mächte sich verpflichteten überall die legitime Souveränität aufrecht zu
erhalten, und erläuterte diesen Satz dahin: die Aenderung einer Ver-
fassung durch den Souverän kann niemals eine Intervention der großen
Mächte veranlassen, wohl aber ein Umsturz oder eine Bedrohung der
legitimen Souveränität. Also nicht die Wahrung des Rechts und des
Friedens gegen Jedermann sollte dem großen Friedensbunde obliegen,
sondern die Vertheidigung der Throne gegen die Völker. Damit war ein
verhängnißvolles Wort gesprochen, das die Politik Metternichs sich nur
zu bald gelehrig aneignete.*)

Vorderhand blieb ein so vollständiger Triumph der reaktionären Partei
noch unmöglich. Oesterreich und Preußen zeigten sich zwar bereit auf

*) Ancillon, Memoire sur la grande alliance. Bernstorff an Lottum, 1. Nov. 1818.

II. 8. Der Aachener Congreß.
Politik vorſchwebte. Alexander wünſchte außer der Fortdauer des Vier-
bundes, deſſen Wirkſamkeit er auf den Kriegsfall zu beſchränken dachte,
auch den Abſchluß eines allgemeinen europäiſchen Garantie-Vertrages.
Dieſen Einfall verdankte er einer ſchwülſtigen Denkſchrift Ancillons, einer
Privat-Arbeit, welche der unterthänige Vielſchreiber dem Czaren vermuth-
lich ſchon auf der Durchreiſe in Berlin überreicht hatte. Ancillon ver-
herrlichte darin die heilige Allianz, „dieſen Vertrag, der allein genügen
würde die gegenwärtige Epoche unſterblich zu machen,“ und ſchilderte ſo-
dann mit gewohnter Geſchwätzigkeit, wie auf die beiden Epochen des
Gleichgewichts und des revolutionären Weltreichs nun endlich die glück-
liche Zeit gefolgt ſei, welche „die ebenſo einfache als erhabene Idee der
europäiſchen Familiengeſellſchaft“ begriffen habe. Um dieſe Idee zu ver-
wirklichen, müßten die fünf großen Mächte allen Staaten Europas ihren
gegenwärtigen Beſitzſtand ſolidariſch gegen jede gewaltſame Störung ver-
bürgen und auf regelmäßigen Congreſſen von Zeit zu Zeit die nothwendi-
gen Aenderungen des Beſtehenden friedlich beſchließen. „Es kommt darauf
an, fügte Bernſtorff erklärend hinzu, der durchſichtigen Seele der heiligen
Allianz einen feſten Körper zu geben oder dieſe weſenloſe Pſyche mit der
wahren befruchtenden Liebe und Gerechtigkeit zu vermählen.“

So ſollte denn jenes Traumbild des ewigen Friedens, das die er-
mattete Welt beherrſchte, durch das gemeinſame Protectorat der Großmächte
ins Leben eingeführt werden und die europäiſche Union in den regelmäßig
wiederkehrenden Zuſammenkünften der fünf Monarchen eine ſtändige
Centralgewalt erhalten; alſo geſtaltet hätte der Welttheil die Form eines
Bundesſtaates angenommen, eine Verfaſſung, die ſich mit der berechtigten
Unabhängigkeit der Einzelſtaaten nicht mehr vertrug. An dieſen bedenk-
lichen Vorſchlag ſchloß Ancillon noch einen zweiten ſchlechthin verwerflichen,
der das Syſtem der gemeinſamen Friedenswahrung gradezu verfälſchte
und das europäiſche Protectorat zu einem Werkzeuge reaktionärer Partei-
politik herabzuwürdigen drohte. Die Denkſchrift verlangte, daß die großen
Mächte ſich verpflichteten überall die legitime Souveränität aufrecht zu
erhalten, und erläuterte dieſen Satz dahin: die Aenderung einer Ver-
faſſung durch den Souverän kann niemals eine Intervention der großen
Mächte veranlaſſen, wohl aber ein Umſturz oder eine Bedrohung der
legitimen Souveränität. Alſo nicht die Wahrung des Rechts und des
Friedens gegen Jedermann ſollte dem großen Friedensbunde obliegen,
ſondern die Vertheidigung der Throne gegen die Völker. Damit war ein
verhängnißvolles Wort geſprochen, das die Politik Metternichs ſich nur
zu bald gelehrig aneignete.*)

Vorderhand blieb ein ſo vollſtändiger Triumph der reaktionären Partei
noch unmöglich. Oeſterreich und Preußen zeigten ſich zwar bereit auf

*) Ancillon, Mémoire sur la grande alliance. Bernſtorff an Lottum, 1. Nov. 1818.
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[474/0488] II. 8. Der Aachener Congreß. Politik vorſchwebte. Alexander wünſchte außer der Fortdauer des Vier- bundes, deſſen Wirkſamkeit er auf den Kriegsfall zu beſchränken dachte, auch den Abſchluß eines allgemeinen europäiſchen Garantie-Vertrages. Dieſen Einfall verdankte er einer ſchwülſtigen Denkſchrift Ancillons, einer Privat-Arbeit, welche der unterthänige Vielſchreiber dem Czaren vermuth- lich ſchon auf der Durchreiſe in Berlin überreicht hatte. Ancillon ver- herrlichte darin die heilige Allianz, „dieſen Vertrag, der allein genügen würde die gegenwärtige Epoche unſterblich zu machen,“ und ſchilderte ſo- dann mit gewohnter Geſchwätzigkeit, wie auf die beiden Epochen des Gleichgewichts und des revolutionären Weltreichs nun endlich die glück- liche Zeit gefolgt ſei, welche „die ebenſo einfache als erhabene Idee der europäiſchen Familiengeſellſchaft“ begriffen habe. Um dieſe Idee zu ver- wirklichen, müßten die fünf großen Mächte allen Staaten Europas ihren gegenwärtigen Beſitzſtand ſolidariſch gegen jede gewaltſame Störung ver- bürgen und auf regelmäßigen Congreſſen von Zeit zu Zeit die nothwendi- gen Aenderungen des Beſtehenden friedlich beſchließen. „Es kommt darauf an, fügte Bernſtorff erklärend hinzu, der durchſichtigen Seele der heiligen Allianz einen feſten Körper zu geben oder dieſe weſenloſe Pſyche mit der wahren befruchtenden Liebe und Gerechtigkeit zu vermählen.“ So ſollte denn jenes Traumbild des ewigen Friedens, das die er- mattete Welt beherrſchte, durch das gemeinſame Protectorat der Großmächte ins Leben eingeführt werden und die europäiſche Union in den regelmäßig wiederkehrenden Zuſammenkünften der fünf Monarchen eine ſtändige Centralgewalt erhalten; alſo geſtaltet hätte der Welttheil die Form eines Bundesſtaates angenommen, eine Verfaſſung, die ſich mit der berechtigten Unabhängigkeit der Einzelſtaaten nicht mehr vertrug. An dieſen bedenk- lichen Vorſchlag ſchloß Ancillon noch einen zweiten ſchlechthin verwerflichen, der das Syſtem der gemeinſamen Friedenswahrung gradezu verfälſchte und das europäiſche Protectorat zu einem Werkzeuge reaktionärer Partei- politik herabzuwürdigen drohte. Die Denkſchrift verlangte, daß die großen Mächte ſich verpflichteten überall die legitime Souveränität aufrecht zu erhalten, und erläuterte dieſen Satz dahin: die Aenderung einer Ver- faſſung durch den Souverän kann niemals eine Intervention der großen Mächte veranlaſſen, wohl aber ein Umſturz oder eine Bedrohung der legitimen Souveränität. Alſo nicht die Wahrung des Rechts und des Friedens gegen Jedermann ſollte dem großen Friedensbunde obliegen, ſondern die Vertheidigung der Throne gegen die Völker. Damit war ein verhängnißvolles Wort geſprochen, das die Politik Metternichs ſich nur zu bald gelehrig aneignete. *) Vorderhand blieb ein ſo vollſtändiger Triumph der reaktionären Partei noch unmöglich. Oeſterreich und Preußen zeigten ſich zwar bereit auf *) Ancillon, Mémoire sur la grande alliance. Bernſtorff an Lottum, 1. Nov. 1818.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/488>, abgerufen am 22.11.2024.