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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 8. Der Aachener Congreß.
anderen drei Mächte verwarfen den Vorschlag, weil sie die öffentliche
Meinung in Frankreich nicht reizen wollten,*) und allerdings hätten die
Bourbonen der preußischen Forderung schwerlich genügen können. Die
beiden neuen Anleihen von zusammen 120 Mill., welche Frankreich zur
Abtragung der ersten Raten seiner Schuld ausschrieb, warfen einen pani-
schen Schrecken unter die Geschäftswelt, und noch während des Congresses
brach in Paris und dann in Amsterdam eine so bedenkliche Börsenkrisis
aus, daß die Mächte, auf Richelieus Bitten und Wellingtons Verwen-
dung, noch zweimal eine Verlängerung der Zahlungsfrist -- zuletzt bis
zum Juni 1820 -- bewilligten. Beide male widersprach Preußen vergeblich.

Schwieriger gestalteten sich die Verhandlungen über Frankreichs künf-
tige Stellung zu den vier Mächten. Richelieu wünschte kurzweg die Auf-
nahme seines Staates in den Bund der Vier, dergestalt, daß die euro-
päische Pentarchie, wie sie in den drei Jahrzehnten vor der Revolution
thatsächlich bestanden, als eine rechtlich anerkannte Ordnung erneuert
würde; die Fortdauer des Vierbundes, versicherte er wiederholt, könne in
Frankreich nur als eine Beschimpfung aufgefaßt werden und den Krieg
oder die Revolution herbeiführen. Eine Zeit lang schien es, als ob Ruß-
land diesen Wünschen entgegenkommen wolle; im vertraulichen Gespräche
nannte Kapodistrias den Vierbund einen vierköpfigen Bonaparte, dessen
Tyrannei gebrochen werden müsse. Am 8. Okt. überreichten die russischen
Bevollmächtigten eine Denkschrift, die nach Bernstorffs treffendem Urtheil
an Ausdehnung, Dunkelheit und Schwülstigkeit Alles übertraf, was je
aus Petersburg gekommen war.**) Sie feierte in apokalyptischer Sprache
das neue, von der Vorsehung selbst gegründete System des Friedens, das
gleich der Wahrheit, einmal anerkannt und in die Herzen der Menschen
eingegraben, seine Macht nie wieder verlieren könne, und forderte sodann
den Eintritt Frankreichs in den Vierbund, der "nur der Mittelpunkt des
allgemeinen Bundes oder des europäischen Systems" sei. Aber daneben
standen drohende, ja feindselige Aeußerungen gegen Frankreich: wenn diese
Macht je wieder der Revolution anheimfiele, dann scheide sie von selbst
aus dem allgemeinen Bunde aus.

Das seltsame Schriftstück gab ein getreues Bild von den wider-
sprechenden Wünschen, welche seit der großen Schwenkung des letzten
Sommers den beweglichen Geist des Czaren beherrschten: der Stifter der
heiligen Allianz wäre ersichtlich gern das anerkannte Haupt eines allge-
meinen europäischen Bundes geworden, aber auf den erprobten Vierbund,
der die Mächte der Revolution in Schach hielt, wollte er doch auch nicht
ganz verzichten. Dem gegenüber dachten die beiden hochconservativen

*) Protokoll der 5. Sitzung vom 3. Okt. 1818.
**) Kapodistrias, Memoire sur l'alliance generale, 26. Sept./8. Okt.; Bernstorff an Lottum,
10. Okt. 1818.

II. 8. Der Aachener Congreß.
anderen drei Mächte verwarfen den Vorſchlag, weil ſie die öffentliche
Meinung in Frankreich nicht reizen wollten,*) und allerdings hätten die
Bourbonen der preußiſchen Forderung ſchwerlich genügen können. Die
beiden neuen Anleihen von zuſammen 120 Mill., welche Frankreich zur
Abtragung der erſten Raten ſeiner Schuld ausſchrieb, warfen einen pani-
ſchen Schrecken unter die Geſchäftswelt, und noch während des Congreſſes
brach in Paris und dann in Amſterdam eine ſo bedenkliche Börſenkriſis
aus, daß die Mächte, auf Richelieus Bitten und Wellingtons Verwen-
dung, noch zweimal eine Verlängerung der Zahlungsfriſt — zuletzt bis
zum Juni 1820 — bewilligten. Beide male widerſprach Preußen vergeblich.

Schwieriger geſtalteten ſich die Verhandlungen über Frankreichs künf-
tige Stellung zu den vier Mächten. Richelieu wünſchte kurzweg die Auf-
nahme ſeines Staates in den Bund der Vier, dergeſtalt, daß die euro-
päiſche Pentarchie, wie ſie in den drei Jahrzehnten vor der Revolution
thatſächlich beſtanden, als eine rechtlich anerkannte Ordnung erneuert
würde; die Fortdauer des Vierbundes, verſicherte er wiederholt, könne in
Frankreich nur als eine Beſchimpfung aufgefaßt werden und den Krieg
oder die Revolution herbeiführen. Eine Zeit lang ſchien es, als ob Ruß-
land dieſen Wünſchen entgegenkommen wolle; im vertraulichen Geſpräche
nannte Kapodiſtrias den Vierbund einen vierköpfigen Bonaparte, deſſen
Tyrannei gebrochen werden müſſe. Am 8. Okt. überreichten die ruſſiſchen
Bevollmächtigten eine Denkſchrift, die nach Bernſtorffs treffendem Urtheil
an Ausdehnung, Dunkelheit und Schwülſtigkeit Alles übertraf, was je
aus Petersburg gekommen war.**) Sie feierte in apokalyptiſcher Sprache
das neue, von der Vorſehung ſelbſt gegründete Syſtem des Friedens, das
gleich der Wahrheit, einmal anerkannt und in die Herzen der Menſchen
eingegraben, ſeine Macht nie wieder verlieren könne, und forderte ſodann
den Eintritt Frankreichs in den Vierbund, der „nur der Mittelpunkt des
allgemeinen Bundes oder des europäiſchen Syſtems“ ſei. Aber daneben
ſtanden drohende, ja feindſelige Aeußerungen gegen Frankreich: wenn dieſe
Macht je wieder der Revolution anheimfiele, dann ſcheide ſie von ſelbſt
aus dem allgemeinen Bunde aus.

Das ſeltſame Schriftſtück gab ein getreues Bild von den wider-
ſprechenden Wünſchen, welche ſeit der großen Schwenkung des letzten
Sommers den beweglichen Geiſt des Czaren beherrſchten: der Stifter der
heiligen Allianz wäre erſichtlich gern das anerkannte Haupt eines allge-
meinen europäiſchen Bundes geworden, aber auf den erprobten Vierbund,
der die Mächte der Revolution in Schach hielt, wollte er doch auch nicht
ganz verzichten. Dem gegenüber dachten die beiden hochconſervativen

*) Protokoll der 5. Sitzung vom 3. Okt. 1818.
**) Kapodiſtrias, Mémoire sur l’alliance générale, 26. Sept./8. Okt.; Bernſtorff an Lottum,
10. Okt. 1818.
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[468/0482] II. 8. Der Aachener Congreß. anderen drei Mächte verwarfen den Vorſchlag, weil ſie die öffentliche Meinung in Frankreich nicht reizen wollten, *) und allerdings hätten die Bourbonen der preußiſchen Forderung ſchwerlich genügen können. Die beiden neuen Anleihen von zuſammen 120 Mill., welche Frankreich zur Abtragung der erſten Raten ſeiner Schuld ausſchrieb, warfen einen pani- ſchen Schrecken unter die Geſchäftswelt, und noch während des Congreſſes brach in Paris und dann in Amſterdam eine ſo bedenkliche Börſenkriſis aus, daß die Mächte, auf Richelieus Bitten und Wellingtons Verwen- dung, noch zweimal eine Verlängerung der Zahlungsfriſt — zuletzt bis zum Juni 1820 — bewilligten. Beide male widerſprach Preußen vergeblich. Schwieriger geſtalteten ſich die Verhandlungen über Frankreichs künf- tige Stellung zu den vier Mächten. Richelieu wünſchte kurzweg die Auf- nahme ſeines Staates in den Bund der Vier, dergeſtalt, daß die euro- päiſche Pentarchie, wie ſie in den drei Jahrzehnten vor der Revolution thatſächlich beſtanden, als eine rechtlich anerkannte Ordnung erneuert würde; die Fortdauer des Vierbundes, verſicherte er wiederholt, könne in Frankreich nur als eine Beſchimpfung aufgefaßt werden und den Krieg oder die Revolution herbeiführen. Eine Zeit lang ſchien es, als ob Ruß- land dieſen Wünſchen entgegenkommen wolle; im vertraulichen Geſpräche nannte Kapodiſtrias den Vierbund einen vierköpfigen Bonaparte, deſſen Tyrannei gebrochen werden müſſe. Am 8. Okt. überreichten die ruſſiſchen Bevollmächtigten eine Denkſchrift, die nach Bernſtorffs treffendem Urtheil an Ausdehnung, Dunkelheit und Schwülſtigkeit Alles übertraf, was je aus Petersburg gekommen war. **) Sie feierte in apokalyptiſcher Sprache das neue, von der Vorſehung ſelbſt gegründete Syſtem des Friedens, das gleich der Wahrheit, einmal anerkannt und in die Herzen der Menſchen eingegraben, ſeine Macht nie wieder verlieren könne, und forderte ſodann den Eintritt Frankreichs in den Vierbund, der „nur der Mittelpunkt des allgemeinen Bundes oder des europäiſchen Syſtems“ ſei. Aber daneben ſtanden drohende, ja feindſelige Aeußerungen gegen Frankreich: wenn dieſe Macht je wieder der Revolution anheimfiele, dann ſcheide ſie von ſelbſt aus dem allgemeinen Bunde aus. Das ſeltſame Schriftſtück gab ein getreues Bild von den wider- ſprechenden Wünſchen, welche ſeit der großen Schwenkung des letzten Sommers den beweglichen Geiſt des Czaren beherrſchten: der Stifter der heiligen Allianz wäre erſichtlich gern das anerkannte Haupt eines allge- meinen europäiſchen Bundes geworden, aber auf den erprobten Vierbund, der die Mächte der Revolution in Schach hielt, wollte er doch auch nicht ganz verzichten. Dem gegenüber dachten die beiden hochconſervativen *) Protokoll der 5. Sitzung vom 3. Okt. 1818. **) Kapodiſtrias, Mémoire sur l’alliance générale, 26. Sept./8. Okt.; Bernſtorff an Lottum, 10. Okt. 1818.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/482>, abgerufen am 25.11.2024.