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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Kaiser Franz am Rhein.
thum des Usurpators seine Huldigung dargebracht; und freche Gering-
schätzung der Unterthanen gegen den edlen deutschen Fürsten, der dieser
Westmark das fremde Joch vom Nacken genommen und ihr nach viel-
hundertjährigem Elend zuerst wieder den Segen eines rechtschaffenen deut-
schen Staates brachte. Wahrlich, ein Geschlecht, das so empfand, war
noch nicht reif für die Einheit. --


Ganz ohne Kämpfe sollten die Verhandlungen des Congresses nicht
verlaufen, doch ward der Gegensatz der Meinungen niemals schroff und
gefährlich, da alle Mächte einen neuen Ausbruch des Kraters der Revo-
lution in Frankreich gleichmäßig fürchteten. Wohl hatte der Czar seinen
Pozzo di Borgo eigenmächtig, dem Beschlusse der Pariser Gesandtencon-
ferenz zuwider, nach Aachen berufen, aber Metternich bemerkte bald, daß
Alexander selbst mit der französischen Gesinnung seines Gesandten keines-
wegs übereinstimmte. Der Kaiser betrachtete die inneren Zustände Frank-
reichs mit schwerer Besorgniß und ließ sich durch Richelieus Betheuerungen
nicht bekehren; bei allem Wohlwollen für die Bourbonen wollte er den
Bund der vier Mächte, der seine Spitze gegen die Revolution in Frank-
reich richtete, nicht gänzlich aufgeben. Erhaltung des Friedens, der Ord-
nung, der christlichen Sitte und, wenn es noth thue, gemeinsamer Kampf
gegen die Hydra des Aufruhrs -- das war das Programm, das er, zu
Metternichs Erleichterung, in salbungsvollen Reden wieder und wieder
entwickelte. Zudem nahm Pozzo an den amtlichen Sitzungen nicht theil.
Die Bevollmächtigten waren: Castlereagh und Wellington, Metternich,
Hardenberg und Bernstorff, Kapodistrias und Nesselrode. Das Protokoll
führte Gentz; der schwamm in einem Meere des Entzückens und fand kaum
Worte genug um seinem Vertrauten Pilat die erfreuliche Sinnesänderung
des Czaren zu schildern und die musterhafte Eintracht der Cabinette und
das reiche Lob, das seiner Feder gespendet ward, und die 6000 Dukaten
Geschenke, die in seine unergründliche Tasche flossen. Der französische
Bevollmächtigte Richelieu erschien vorläufig nur in einzelnen Sitzungen,
auf besondere Einladung.

Ueber die Räumung Frankreichs einigte man sich schon am dritten
Tage des Congresses, am 1. Oktober, und bereits am 9. wurde mit
Richelieu ein Vertrag geschlossen, der den Abmarsch des Besatzungsheeres
bis zum 30. November zusagte. Ich habe genug gelebt, da ich Frankreich
frei gesehen habe, schrieb König Ludwig dankbar seinem Minister. Für
die Abzahlung des Restes ihrer Kriegsschulden -- 265 Mill. Fr. -- setzte
man den Tuilerien eine Frist von neun Monaten. Umsonst hatte Harden-
berg sofortige Zahlung gefordert, da das gänzlich erschöpfte Preußen kaum
noch länger warten konnte und die französischen Rentenbriefe stets unver-
züglich, sobald sie eingingen, zu ungünstigem Kurse verkaufen mußte. Die

30*

Kaiſer Franz am Rhein.
thum des Uſurpators ſeine Huldigung dargebracht; und freche Gering-
ſchätzung der Unterthanen gegen den edlen deutſchen Fürſten, der dieſer
Weſtmark das fremde Joch vom Nacken genommen und ihr nach viel-
hundertjährigem Elend zuerſt wieder den Segen eines rechtſchaffenen deut-
ſchen Staates brachte. Wahrlich, ein Geſchlecht, das ſo empfand, war
noch nicht reif für die Einheit. —


Ganz ohne Kämpfe ſollten die Verhandlungen des Congreſſes nicht
verlaufen, doch ward der Gegenſatz der Meinungen niemals ſchroff und
gefährlich, da alle Mächte einen neuen Ausbruch des Kraters der Revo-
lution in Frankreich gleichmäßig fürchteten. Wohl hatte der Czar ſeinen
Pozzo di Borgo eigenmächtig, dem Beſchluſſe der Pariſer Geſandtencon-
ferenz zuwider, nach Aachen berufen, aber Metternich bemerkte bald, daß
Alexander ſelbſt mit der franzöſiſchen Geſinnung ſeines Geſandten keines-
wegs übereinſtimmte. Der Kaiſer betrachtete die inneren Zuſtände Frank-
reichs mit ſchwerer Beſorgniß und ließ ſich durch Richelieus Betheuerungen
nicht bekehren; bei allem Wohlwollen für die Bourbonen wollte er den
Bund der vier Mächte, der ſeine Spitze gegen die Revolution in Frank-
reich richtete, nicht gänzlich aufgeben. Erhaltung des Friedens, der Ord-
nung, der chriſtlichen Sitte und, wenn es noth thue, gemeinſamer Kampf
gegen die Hydra des Aufruhrs — das war das Programm, das er, zu
Metternichs Erleichterung, in ſalbungsvollen Reden wieder und wieder
entwickelte. Zudem nahm Pozzo an den amtlichen Sitzungen nicht theil.
Die Bevollmächtigten waren: Caſtlereagh und Wellington, Metternich,
Hardenberg und Bernſtorff, Kapodiſtrias und Neſſelrode. Das Protokoll
führte Gentz; der ſchwamm in einem Meere des Entzückens und fand kaum
Worte genug um ſeinem Vertrauten Pilat die erfreuliche Sinnesänderung
des Czaren zu ſchildern und die muſterhafte Eintracht der Cabinette und
das reiche Lob, das ſeiner Feder geſpendet ward, und die 6000 Dukaten
Geſchenke, die in ſeine unergründliche Taſche floſſen. Der franzöſiſche
Bevollmächtigte Richelieu erſchien vorläufig nur in einzelnen Sitzungen,
auf beſondere Einladung.

Ueber die Räumung Frankreichs einigte man ſich ſchon am dritten
Tage des Congreſſes, am 1. Oktober, und bereits am 9. wurde mit
Richelieu ein Vertrag geſchloſſen, der den Abmarſch des Beſatzungsheeres
bis zum 30. November zuſagte. Ich habe genug gelebt, da ich Frankreich
frei geſehen habe, ſchrieb König Ludwig dankbar ſeinem Miniſter. Für
die Abzahlung des Reſtes ihrer Kriegsſchulden — 265 Mill. Fr. — ſetzte
man den Tuilerien eine Friſt von neun Monaten. Umſonſt hatte Harden-
berg ſofortige Zahlung gefordert, da das gänzlich erſchöpfte Preußen kaum
noch länger warten konnte und die franzöſiſchen Rentenbriefe ſtets unver-
züglich, ſobald ſie eingingen, zu ungünſtigem Kurſe verkaufen mußte. Die

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[467/0481] Kaiſer Franz am Rhein. thum des Uſurpators ſeine Huldigung dargebracht; und freche Gering- ſchätzung der Unterthanen gegen den edlen deutſchen Fürſten, der dieſer Weſtmark das fremde Joch vom Nacken genommen und ihr nach viel- hundertjährigem Elend zuerſt wieder den Segen eines rechtſchaffenen deut- ſchen Staates brachte. Wahrlich, ein Geſchlecht, das ſo empfand, war noch nicht reif für die Einheit. — Ganz ohne Kämpfe ſollten die Verhandlungen des Congreſſes nicht verlaufen, doch ward der Gegenſatz der Meinungen niemals ſchroff und gefährlich, da alle Mächte einen neuen Ausbruch des Kraters der Revo- lution in Frankreich gleichmäßig fürchteten. Wohl hatte der Czar ſeinen Pozzo di Borgo eigenmächtig, dem Beſchluſſe der Pariſer Geſandtencon- ferenz zuwider, nach Aachen berufen, aber Metternich bemerkte bald, daß Alexander ſelbſt mit der franzöſiſchen Geſinnung ſeines Geſandten keines- wegs übereinſtimmte. Der Kaiſer betrachtete die inneren Zuſtände Frank- reichs mit ſchwerer Beſorgniß und ließ ſich durch Richelieus Betheuerungen nicht bekehren; bei allem Wohlwollen für die Bourbonen wollte er den Bund der vier Mächte, der ſeine Spitze gegen die Revolution in Frank- reich richtete, nicht gänzlich aufgeben. Erhaltung des Friedens, der Ord- nung, der chriſtlichen Sitte und, wenn es noth thue, gemeinſamer Kampf gegen die Hydra des Aufruhrs — das war das Programm, das er, zu Metternichs Erleichterung, in ſalbungsvollen Reden wieder und wieder entwickelte. Zudem nahm Pozzo an den amtlichen Sitzungen nicht theil. Die Bevollmächtigten waren: Caſtlereagh und Wellington, Metternich, Hardenberg und Bernſtorff, Kapodiſtrias und Neſſelrode. Das Protokoll führte Gentz; der ſchwamm in einem Meere des Entzückens und fand kaum Worte genug um ſeinem Vertrauten Pilat die erfreuliche Sinnesänderung des Czaren zu ſchildern und die muſterhafte Eintracht der Cabinette und das reiche Lob, das ſeiner Feder geſpendet ward, und die 6000 Dukaten Geſchenke, die in ſeine unergründliche Taſche floſſen. Der franzöſiſche Bevollmächtigte Richelieu erſchien vorläufig nur in einzelnen Sitzungen, auf beſondere Einladung. Ueber die Räumung Frankreichs einigte man ſich ſchon am dritten Tage des Congreſſes, am 1. Oktober, und bereits am 9. wurde mit Richelieu ein Vertrag geſchloſſen, der den Abmarſch des Beſatzungsheeres bis zum 30. November zuſagte. Ich habe genug gelebt, da ich Frankreich frei geſehen habe, ſchrieb König Ludwig dankbar ſeinem Miniſter. Für die Abzahlung des Reſtes ihrer Kriegsſchulden — 265 Mill. Fr. — ſetzte man den Tuilerien eine Friſt von neun Monaten. Umſonſt hatte Harden- berg ſofortige Zahlung gefordert, da das gänzlich erſchöpfte Preußen kaum noch länger warten konnte und die franzöſiſchen Rentenbriefe ſtets unver- züglich, ſobald ſie eingingen, zu ungünſtigem Kurſe verkaufen mußte. Die 30*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/481>, abgerufen am 22.11.2024.