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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 8. Der Aachener Congreß.
praktisches Ergebniß bringen. Es hieß die Dinge auf den Kopf stellen,
die alten stolzen Traditionen der Monarchie verlassen, wenn der Staats-
kanzler, statt der unerfahrenen öffentlichen Meinung die Richtung zu geben,
selber muthlos und planlos von seinen Untergebenen Rath erwartete; so
ward ihm jedes neue Gutachten zu einer neuen Verlegenheit. Er ver-
zehrte sich vor Ungeduld, klagte bitter über die Verzögerung seines Lieb-
lingsplans, und doch hatte er bisher noch nicht einmal die Feder ange-
setzt um mit dem Monarchen und sich selber mindestens über die Grund-
lagen des Verfassungsentwurfs ins Reine zu kommen. Unter den Freunden
der Reform nahmen Erbitterung und Entmuthigung überhand. Vincke
hielt dem Staatskanzler vor: was müsse dies Volk empfinden, wenn andere
Regenten, "die nichts verheißen haben", dem unseren voraneilen; und
Zerboni schrieb verzweifelnd: "Ich gehe jeden Abend mit dem großen
Momente zu Bett, der für Preußen eingetreten ist, und erwache jeden
Morgen mit dem fressenden Kummer, daß er ungenützt vorübergehen
wird."*)

Mit den Rheinländern kam Hardenberg bald auf guten Fuß, sein
heiteres wohlwollendes Wesen gefiel allgemein; er gewann den Eindruck,
daß die beiden Provinzen im Ganzen musterhaft verwaltet wurden und
bei allem Mißmuth keineswegs ernstlich an einen Abfall dachten. Nur
die üblen Folgen des unbedachten Verfassungsversprechens bereiteten ihm
auch am Rhein manche schwere Stunde. Unter den zahlreichen Depu-
tationen, die er in Engers empfing, erschienen auch Graf Nesselrode,
Freiherr v. Hövel und andere Abgesandte des rheinischen Adels. Sie
überreichten eine gründliche, von dem hochconservativen Convertiten
Schlosser verfaßte "Denkschrift die Verfassungsverhältnisse der Lande Jülich,
Cleve, Berg und Mark betr.", der sich ähnliche Eingaben des westphäli-
schen Adels anschlossen. Die Schrift enthielt manche treffliche Grund-
sätze, welche deutlich erkennen ließen, daß Stein dabei mitgewirkt hatte;
der Adel war bereit, statt einzelner bevorzugter Städte den gesammten
Bürgerstand, statt des Landadels alle landbauenden Klassen zur Vertretung
zuzulassen. Doch standen daneben vieldeutige Verwahrungen gegen die
"allverwirrende Gleichheit der französischen Revolution" und das ganz
ungerechte Verlangen nach Berufung der alten Stände, um mit ihnen
die Neuerungen vertragsmäßig festzustellen! Der Staatskanzler antwortete
freundlich, doch ausweichend: "nur aus einer gründlichen Würdigung
früherer Verhältnisse und jetziger Bedürfnisse wünscht unsere Regierung
die Verfassung hervorgehen zu sehen".**) Die schwere Frage, wie das neue
Recht zu dem alten sich verhalten solle, blieb also noch immer ungelöst.
Am Hofe aber fand der Adel einen Freund, dessen Einfluß bald stärker

*) Zerboni an Klewiz, 8. März 1818.
**) Hardenberg an Nesselrode, 3. März 1818.

II. 8. Der Aachener Congreß.
praktiſches Ergebniß bringen. Es hieß die Dinge auf den Kopf ſtellen,
die alten ſtolzen Traditionen der Monarchie verlaſſen, wenn der Staats-
kanzler, ſtatt der unerfahrenen öffentlichen Meinung die Richtung zu geben,
ſelber muthlos und planlos von ſeinen Untergebenen Rath erwartete; ſo
ward ihm jedes neue Gutachten zu einer neuen Verlegenheit. Er ver-
zehrte ſich vor Ungeduld, klagte bitter über die Verzögerung ſeines Lieb-
lingsplans, und doch hatte er bisher noch nicht einmal die Feder ange-
ſetzt um mit dem Monarchen und ſich ſelber mindeſtens über die Grund-
lagen des Verfaſſungsentwurfs ins Reine zu kommen. Unter den Freunden
der Reform nahmen Erbitterung und Entmuthigung überhand. Vincke
hielt dem Staatskanzler vor: was müſſe dies Volk empfinden, wenn andere
Regenten, „die nichts verheißen haben“, dem unſeren voraneilen; und
Zerboni ſchrieb verzweifelnd: „Ich gehe jeden Abend mit dem großen
Momente zu Bett, der für Preußen eingetreten iſt, und erwache jeden
Morgen mit dem freſſenden Kummer, daß er ungenützt vorübergehen
wird.“*)

Mit den Rheinländern kam Hardenberg bald auf guten Fuß, ſein
heiteres wohlwollendes Weſen gefiel allgemein; er gewann den Eindruck,
daß die beiden Provinzen im Ganzen muſterhaft verwaltet wurden und
bei allem Mißmuth keineswegs ernſtlich an einen Abfall dachten. Nur
die üblen Folgen des unbedachten Verfaſſungsverſprechens bereiteten ihm
auch am Rhein manche ſchwere Stunde. Unter den zahlreichen Depu-
tationen, die er in Engers empfing, erſchienen auch Graf Neſſelrode,
Freiherr v. Hövel und andere Abgeſandte des rheiniſchen Adels. Sie
überreichten eine gründliche, von dem hochconſervativen Convertiten
Schloſſer verfaßte „Denkſchrift die Verfaſſungsverhältniſſe der Lande Jülich,
Cleve, Berg und Mark betr.“, der ſich ähnliche Eingaben des weſtphäli-
ſchen Adels anſchloſſen. Die Schrift enthielt manche treffliche Grund-
ſätze, welche deutlich erkennen ließen, daß Stein dabei mitgewirkt hatte;
der Adel war bereit, ſtatt einzelner bevorzugter Städte den geſammten
Bürgerſtand, ſtatt des Landadels alle landbauenden Klaſſen zur Vertretung
zuzulaſſen. Doch ſtanden daneben vieldeutige Verwahrungen gegen die
„allverwirrende Gleichheit der franzöſiſchen Revolution“ und das ganz
ungerechte Verlangen nach Berufung der alten Stände, um mit ihnen
die Neuerungen vertragsmäßig feſtzuſtellen! Der Staatskanzler antwortete
freundlich, doch ausweichend: „nur aus einer gründlichen Würdigung
früherer Verhältniſſe und jetziger Bedürfniſſe wünſcht unſere Regierung
die Verfaſſung hervorgehen zu ſehen“.**) Die ſchwere Frage, wie das neue
Recht zu dem alten ſich verhalten ſolle, blieb alſo noch immer ungelöſt.
Am Hofe aber fand der Adel einen Freund, deſſen Einfluß bald ſtärker

*) Zerboni an Klewiz, 8. März 1818.
**) Hardenberg an Neſſelrode, 3. März 1818.
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[454/0468] II. 8. Der Aachener Congreß. praktiſches Ergebniß bringen. Es hieß die Dinge auf den Kopf ſtellen, die alten ſtolzen Traditionen der Monarchie verlaſſen, wenn der Staats- kanzler, ſtatt der unerfahrenen öffentlichen Meinung die Richtung zu geben, ſelber muthlos und planlos von ſeinen Untergebenen Rath erwartete; ſo ward ihm jedes neue Gutachten zu einer neuen Verlegenheit. Er ver- zehrte ſich vor Ungeduld, klagte bitter über die Verzögerung ſeines Lieb- lingsplans, und doch hatte er bisher noch nicht einmal die Feder ange- ſetzt um mit dem Monarchen und ſich ſelber mindeſtens über die Grund- lagen des Verfaſſungsentwurfs ins Reine zu kommen. Unter den Freunden der Reform nahmen Erbitterung und Entmuthigung überhand. Vincke hielt dem Staatskanzler vor: was müſſe dies Volk empfinden, wenn andere Regenten, „die nichts verheißen haben“, dem unſeren voraneilen; und Zerboni ſchrieb verzweifelnd: „Ich gehe jeden Abend mit dem großen Momente zu Bett, der für Preußen eingetreten iſt, und erwache jeden Morgen mit dem freſſenden Kummer, daß er ungenützt vorübergehen wird.“ *) Mit den Rheinländern kam Hardenberg bald auf guten Fuß, ſein heiteres wohlwollendes Weſen gefiel allgemein; er gewann den Eindruck, daß die beiden Provinzen im Ganzen muſterhaft verwaltet wurden und bei allem Mißmuth keineswegs ernſtlich an einen Abfall dachten. Nur die üblen Folgen des unbedachten Verfaſſungsverſprechens bereiteten ihm auch am Rhein manche ſchwere Stunde. Unter den zahlreichen Depu- tationen, die er in Engers empfing, erſchienen auch Graf Neſſelrode, Freiherr v. Hövel und andere Abgeſandte des rheiniſchen Adels. Sie überreichten eine gründliche, von dem hochconſervativen Convertiten Schloſſer verfaßte „Denkſchrift die Verfaſſungsverhältniſſe der Lande Jülich, Cleve, Berg und Mark betr.“, der ſich ähnliche Eingaben des weſtphäli- ſchen Adels anſchloſſen. Die Schrift enthielt manche treffliche Grund- ſätze, welche deutlich erkennen ließen, daß Stein dabei mitgewirkt hatte; der Adel war bereit, ſtatt einzelner bevorzugter Städte den geſammten Bürgerſtand, ſtatt des Landadels alle landbauenden Klaſſen zur Vertretung zuzulaſſen. Doch ſtanden daneben vieldeutige Verwahrungen gegen die „allverwirrende Gleichheit der franzöſiſchen Revolution“ und das ganz ungerechte Verlangen nach Berufung der alten Stände, um mit ihnen die Neuerungen vertragsmäßig feſtzuſtellen! Der Staatskanzler antwortete freundlich, doch ausweichend: „nur aus einer gründlichen Würdigung früherer Verhältniſſe und jetziger Bedürfniſſe wünſcht unſere Regierung die Verfaſſung hervorgehen zu ſehen“. **) Die ſchwere Frage, wie das neue Recht zu dem alten ſich verhalten ſolle, blieb alſo noch immer ungelöſt. Am Hofe aber fand der Adel einen Freund, deſſen Einfluß bald ſtärker *) Zerboni an Klewiz, 8. März 1818. **) Hardenberg an Neſſelrode, 3. März 1818.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/468>, abgerufen am 25.11.2024.