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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Karl Follen.
"Ueberzeugung", der unter der Jugend blühte, mit schnellfertiger Logik
das System eines crassen Subjectivismus, der schlechthin jede objective
Regel im Menschenleben leugnete. Dem Gerechten gilt kein Gesetz, hieß
es kurzab. Was die Vernunft für wahr erkennt, muß durch den sitt-
lichen Willen verwirklicht werden, sofort, unbedingt, ohne jede Rücksicht,
bis zur Vernichtung aller Andersdenkenden; von einer Collision der
Pflichten kann hier nicht gesprochen werden, da die Verwirklichung der
Vernunft eine sittliche Nothwendigkeit ist. Dieser Satz wurde schlechtweg
als "der Grundsatz" bezeichnet, und nach ihm nannten sich Follens Ver-
traute "die Unbedingten". Für die Volksfreiheit schien dieser Sekte Alles
erlaubt, die Lüge, der Mord, jedes Verbrechen, da ja Niemand ein Recht
habe die Freiheit dem Volke vorzuenthalten.

Dergestalt hielt das Evangelium vom Umsturz aller sittlichen und
politischen Ordnung zum ersten male in Deutschland seinen Einzug, jene
furchtbare Lehre, die in mannichfacher Verkleidung wiederkehrend das Jahr-
hundert stets von Neuem beunruhigen und schließlich in der Doktrin der
russischen Nihilisten ihre höchste Ausbildung empfangen sollte. Follen
aber hing seinem Nihilismus einen christlichen Mantel um: Jesus, der
Märtyrer der Ueberzeugung, war der Held der Unbedingten; ihr Bundes-
lied mahnte: "ein Christus sollst Du werden!" Ebenso dreist wurden
auch die Namen der preußischen Helden, vornehmlich Scharnhorsts und
Gneisenaus, mißbraucht, von Einigen aus naiver Unwissenheit, von Follen
aus Berechnung: die harmlosen Burschen sollten glauben, daß Deutsch-
lands Krieger für die Demokratie gefochten hätten. Ein vielgesungenes
verrücktes Lied von Buri "Scharnhorsts Gebet", das für den Druck den
falschen Titel "Kosciuszkos Gebet" erhielt, ließ den preußischen General
schwören:

Ich wanke nicht, ich will, sei's auch in grimmen, blut'gen Waffen,
Der Menschheit Sitz, der Gleichheit Freistaat schaffen!

Auch Karl Follen selbst schmiedete Verse, obgleich seiner harten Natur
jede poetische Begabung abging, und der ungeheuerliche Schwulst, die wilde
blutgierige Rhetorik seiner Gedichte fand unter der Jugend viele Be-
wunderer. Als sein Hauptwerk galt "das große Lied", das durch Weidig
und Sand massenhaft verbreitet wurde, aber in seinen Hauptstellen nur
den Eingeweihten ganz verständlich war. Es begann mit einem Aufruf
"Deutsche Jugend an die deutsche Menge":

Menschenmenge, große Menschenwüste,
Die umsonst der Geistesfrühling grüßte,
Reiße, krache endlich, altes Eis ...
Sei ein Volk, ein Freistaat, werde heiß!
Babels Herrenthum und feile Weichheit
Bricht wie Blitz und Donner Freiheit, Gleichheit,
Gottheit aus der Menschheit Mutterweh'n.

Karl Follen.
„Ueberzeugung“, der unter der Jugend blühte, mit ſchnellfertiger Logik
das Syſtem eines craſſen Subjectivismus, der ſchlechthin jede objective
Regel im Menſchenleben leugnete. Dem Gerechten gilt kein Geſetz, hieß
es kurzab. Was die Vernunft für wahr erkennt, muß durch den ſitt-
lichen Willen verwirklicht werden, ſofort, unbedingt, ohne jede Rückſicht,
bis zur Vernichtung aller Andersdenkenden; von einer Colliſion der
Pflichten kann hier nicht geſprochen werden, da die Verwirklichung der
Vernunft eine ſittliche Nothwendigkeit iſt. Dieſer Satz wurde ſchlechtweg
als „der Grundſatz“ bezeichnet, und nach ihm nannten ſich Follens Ver-
traute „die Unbedingten“. Für die Volksfreiheit ſchien dieſer Sekte Alles
erlaubt, die Lüge, der Mord, jedes Verbrechen, da ja Niemand ein Recht
habe die Freiheit dem Volke vorzuenthalten.

Dergeſtalt hielt das Evangelium vom Umſturz aller ſittlichen und
politiſchen Ordnung zum erſten male in Deutſchland ſeinen Einzug, jene
furchtbare Lehre, die in mannichfacher Verkleidung wiederkehrend das Jahr-
hundert ſtets von Neuem beunruhigen und ſchließlich in der Doktrin der
ruſſiſchen Nihiliſten ihre höchſte Ausbildung empfangen ſollte. Follen
aber hing ſeinem Nihilismus einen chriſtlichen Mantel um: Jeſus, der
Märtyrer der Ueberzeugung, war der Held der Unbedingten; ihr Bundes-
lied mahnte: „ein Chriſtus ſollſt Du werden!“ Ebenſo dreiſt wurden
auch die Namen der preußiſchen Helden, vornehmlich Scharnhorſts und
Gneiſenaus, mißbraucht, von Einigen aus naiver Unwiſſenheit, von Follen
aus Berechnung: die harmloſen Burſchen ſollten glauben, daß Deutſch-
lands Krieger für die Demokratie gefochten hätten. Ein vielgeſungenes
verrücktes Lied von Buri „Scharnhorſts Gebet“, das für den Druck den
falſchen Titel „Kosciuszkos Gebet“ erhielt, ließ den preußiſchen General
ſchwören:

Ich wanke nicht, ich will, ſei’s auch in grimmen, blut’gen Waffen,
Der Menſchheit Sitz, der Gleichheit Freiſtaat ſchaffen!

Auch Karl Follen ſelbſt ſchmiedete Verſe, obgleich ſeiner harten Natur
jede poetiſche Begabung abging, und der ungeheuerliche Schwulſt, die wilde
blutgierige Rhetorik ſeiner Gedichte fand unter der Jugend viele Be-
wunderer. Als ſein Hauptwerk galt „das große Lied“, das durch Weidig
und Sand maſſenhaft verbreitet wurde, aber in ſeinen Hauptſtellen nur
den Eingeweihten ganz verſtändlich war. Es begann mit einem Aufruf
„Deutſche Jugend an die deutſche Menge“:

Menſchenmenge, große Menſchenwüſte,
Die umſonſt der Geiſtesfrühling grüßte,
Reiße, krache endlich, altes Eis …
Sei ein Volk, ein Freiſtaat, werde heiß!
Babels Herrenthum und feile Weichheit
Bricht wie Blitz und Donner Freiheit, Gleichheit,
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[439/0453] Karl Follen. „Ueberzeugung“, der unter der Jugend blühte, mit ſchnellfertiger Logik das Syſtem eines craſſen Subjectivismus, der ſchlechthin jede objective Regel im Menſchenleben leugnete. Dem Gerechten gilt kein Geſetz, hieß es kurzab. Was die Vernunft für wahr erkennt, muß durch den ſitt- lichen Willen verwirklicht werden, ſofort, unbedingt, ohne jede Rückſicht, bis zur Vernichtung aller Andersdenkenden; von einer Colliſion der Pflichten kann hier nicht geſprochen werden, da die Verwirklichung der Vernunft eine ſittliche Nothwendigkeit iſt. Dieſer Satz wurde ſchlechtweg als „der Grundſatz“ bezeichnet, und nach ihm nannten ſich Follens Ver- traute „die Unbedingten“. Für die Volksfreiheit ſchien dieſer Sekte Alles erlaubt, die Lüge, der Mord, jedes Verbrechen, da ja Niemand ein Recht habe die Freiheit dem Volke vorzuenthalten. Dergeſtalt hielt das Evangelium vom Umſturz aller ſittlichen und politiſchen Ordnung zum erſten male in Deutſchland ſeinen Einzug, jene furchtbare Lehre, die in mannichfacher Verkleidung wiederkehrend das Jahr- hundert ſtets von Neuem beunruhigen und ſchließlich in der Doktrin der ruſſiſchen Nihiliſten ihre höchſte Ausbildung empfangen ſollte. Follen aber hing ſeinem Nihilismus einen chriſtlichen Mantel um: Jeſus, der Märtyrer der Ueberzeugung, war der Held der Unbedingten; ihr Bundes- lied mahnte: „ein Chriſtus ſollſt Du werden!“ Ebenſo dreiſt wurden auch die Namen der preußiſchen Helden, vornehmlich Scharnhorſts und Gneiſenaus, mißbraucht, von Einigen aus naiver Unwiſſenheit, von Follen aus Berechnung: die harmloſen Burſchen ſollten glauben, daß Deutſch- lands Krieger für die Demokratie gefochten hätten. Ein vielgeſungenes verrücktes Lied von Buri „Scharnhorſts Gebet“, das für den Druck den falſchen Titel „Kosciuszkos Gebet“ erhielt, ließ den preußiſchen General ſchwören: Ich wanke nicht, ich will, ſei’s auch in grimmen, blut’gen Waffen, Der Menſchheit Sitz, der Gleichheit Freiſtaat ſchaffen! Auch Karl Follen ſelbſt ſchmiedete Verſe, obgleich ſeiner harten Natur jede poetiſche Begabung abging, und der ungeheuerliche Schwulſt, die wilde blutgierige Rhetorik ſeiner Gedichte fand unter der Jugend viele Be- wunderer. Als ſein Hauptwerk galt „das große Lied“, das durch Weidig und Sand maſſenhaft verbreitet wurde, aber in ſeinen Hauptſtellen nur den Eingeweihten ganz verſtändlich war. Es begann mit einem Aufruf „Deutſche Jugend an die deutſche Menge“: Menſchenmenge, große Menſchenwüſte, Die umſonſt der Geiſtesfrühling grüßte, Reiße, krache endlich, altes Eis … Sei ein Volk, ein Freiſtaat, werde heiß! Babels Herrenthum und feile Weichheit Bricht wie Blitz und Donner Freiheit, Gleichheit, Gottheit aus der Menſchheit Mutterweh’n.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/453>, abgerufen am 22.11.2024.