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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Die Allgemeine Deutsche Burschenschaft.
Darmstadt und Nassau erbitterte die jungen Gemüther, und als endlich
auch für diese Lande die Stunde der Befreiung schlug, da fügte es ein
unfreundliches Schicksal, daß die Gießener Studenten, die sich eifrig zu
den Fahnen drängten, den Feind fast niemals zu Gesicht bekamen. Sie
lernten auf anstrengenden Märschen nur die Prosa des Krieges, nicht seine
begeisternden Freuden kennen, hatten viel zu leiden von der Grobheit ihrer
rheinbündischen Offiziere, die mit gebildeten Mannschaften nicht umzu-
gehen wußten, und kehrten verstimmt heim, voll Abscheus gegen das
"Söldnerwesen", ohne jede Ahnung von der königstreuen Gesinnung des
preußischen Volksheeres, das sie nie gesehen hatten; sie schworen darauf,
daß Deutschland den Krieg nur um der Verfassung willen geführt habe
und alles Blut umsonst geflossen sei. Eigenthümlich war den Gießener
Studentenbünden ein geheimer Verkehr mit älteren Männern, den die
Jenenser zu ihrem Glück vermieden. Zur Zeit des Krieges hatte sich in
den Lahngegenden ein Geheimbund wider die Fremdherrschaft zusammen-
gethan, der Wetterauer Verein, der nach dem Frieden aufgehoben wurde,
aber durch einzelne seiner Mitglieder mit den Gießener Studenten in
Verbindung blieb. Da waren Justizrath K. Hoffmann in Rödelheim,
Landgerichtsrath Snell in Dillenburg und vor Allen Conrector Weidig
in Butzbach, ein beredter Apostel der Egalite, der schlechtweg jede Regie-
rung für sündhaft erklärte, weil Gottes Gebot die vollkommene Gleichheit
aller Menschen vorschreibe. Der Einfluß dieser Männer und die schwüle
Luft eines durchaus ungesunden Staatswesens gaben dem Gießener
Studentenleben bald einen seltsam fanatischen Ton. Eine Verbindung
"der Schwarzen" that sich auf und versuchte ihr radikales neues Gesetz-
buch, den "Ehrenspiegel", der gesammten Studentenschaft aufzuzwingen;
die Landsmannschaften andererseits spielten die Vertreter des Partikula-
rismus, steckten die hessische Kokarde auf und bewirkten durch eine An-
zeige die Auflösung der Schwarzen. Die eifrigeren Genossen des aufge-
lösten Bundes blieben jedoch insgeheim beisammen.

An ihrer Spitze standen die Gebrüder Follen, Adolf, Karl und Paul,
drei bildschöne, hochgewachsene junge Männer voll Feuer und Leben, alle-
sammt streng republikanisch gesinnt, die Söhne eines Gießener Beamten,
dessen eine Tochter nachher die Mutter von Karl Vogt wurde. Adolf
Follen besaß ein frisches lyrisch-musikalisches Talent, das er sich leider
durch das unnatürliche Pathos seiner radikalen Kraftsprache selber ver-
darb; ihm und seinen Freunden Sartorius und Buri verdankten die
Turner ihre wildesten und frechsten Lieder. Bedeutender war sein Bruder
Karl, ein Fanatiker des harten Verstandes, im Grunde ein unfruchtbarer
Kopf, aber von seltenem dialektischem Scharfsinn, ein frühreifer, ganz mit
sich einiger Charakter, der nach der Weise radikaler Propheten sich den
Anschein dämonischer Unergründlichkeit zu geben wußte und manchen
seiner jungen Genossen wie der Alte vom Berge vorkam. Er war bereits

Die Allgemeine Deutſche Burſchenſchaft.
Darmſtadt und Naſſau erbitterte die jungen Gemüther, und als endlich
auch für dieſe Lande die Stunde der Befreiung ſchlug, da fügte es ein
unfreundliches Schickſal, daß die Gießener Studenten, die ſich eifrig zu
den Fahnen drängten, den Feind faſt niemals zu Geſicht bekamen. Sie
lernten auf anſtrengenden Märſchen nur die Proſa des Krieges, nicht ſeine
begeiſternden Freuden kennen, hatten viel zu leiden von der Grobheit ihrer
rheinbündiſchen Offiziere, die mit gebildeten Mannſchaften nicht umzu-
gehen wußten, und kehrten verſtimmt heim, voll Abſcheus gegen das
„Söldnerweſen“, ohne jede Ahnung von der königstreuen Geſinnung des
preußiſchen Volksheeres, das ſie nie geſehen hatten; ſie ſchworen darauf,
daß Deutſchland den Krieg nur um der Verfaſſung willen geführt habe
und alles Blut umſonſt gefloſſen ſei. Eigenthümlich war den Gießener
Studentenbünden ein geheimer Verkehr mit älteren Männern, den die
Jenenſer zu ihrem Glück vermieden. Zur Zeit des Krieges hatte ſich in
den Lahngegenden ein Geheimbund wider die Fremdherrſchaft zuſammen-
gethan, der Wetterauer Verein, der nach dem Frieden aufgehoben wurde,
aber durch einzelne ſeiner Mitglieder mit den Gießener Studenten in
Verbindung blieb. Da waren Juſtizrath K. Hoffmann in Rödelheim,
Landgerichtsrath Snell in Dillenburg und vor Allen Conrector Weidig
in Butzbach, ein beredter Apoſtel der Egalité, der ſchlechtweg jede Regie-
rung für ſündhaft erklärte, weil Gottes Gebot die vollkommene Gleichheit
aller Menſchen vorſchreibe. Der Einfluß dieſer Männer und die ſchwüle
Luft eines durchaus ungeſunden Staatsweſens gaben dem Gießener
Studentenleben bald einen ſeltſam fanatiſchen Ton. Eine Verbindung
„der Schwarzen“ that ſich auf und verſuchte ihr radikales neues Geſetz-
buch, den „Ehrenſpiegel“, der geſammten Studentenſchaft aufzuzwingen;
die Landsmannſchaften andererſeits ſpielten die Vertreter des Partikula-
rismus, ſteckten die heſſiſche Kokarde auf und bewirkten durch eine An-
zeige die Auflöſung der Schwarzen. Die eifrigeren Genoſſen des aufge-
löſten Bundes blieben jedoch insgeheim beiſammen.

An ihrer Spitze ſtanden die Gebrüder Follen, Adolf, Karl und Paul,
drei bildſchöne, hochgewachſene junge Männer voll Feuer und Leben, alle-
ſammt ſtreng republikaniſch geſinnt, die Söhne eines Gießener Beamten,
deſſen eine Tochter nachher die Mutter von Karl Vogt wurde. Adolf
Follen beſaß ein friſches lyriſch-muſikaliſches Talent, das er ſich leider
durch das unnatürliche Pathos ſeiner radikalen Kraftſprache ſelber ver-
darb; ihm und ſeinen Freunden Sartorius und Buri verdankten die
Turner ihre wildeſten und frechſten Lieder. Bedeutender war ſein Bruder
Karl, ein Fanatiker des harten Verſtandes, im Grunde ein unfruchtbarer
Kopf, aber von ſeltenem dialektiſchem Scharfſinn, ein frühreifer, ganz mit
ſich einiger Charakter, der nach der Weiſe radikaler Propheten ſich den
Anſchein dämoniſcher Unergründlichkeit zu geben wußte und manchen
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[437/0451] Die Allgemeine Deutſche Burſchenſchaft. Darmſtadt und Naſſau erbitterte die jungen Gemüther, und als endlich auch für dieſe Lande die Stunde der Befreiung ſchlug, da fügte es ein unfreundliches Schickſal, daß die Gießener Studenten, die ſich eifrig zu den Fahnen drängten, den Feind faſt niemals zu Geſicht bekamen. Sie lernten auf anſtrengenden Märſchen nur die Proſa des Krieges, nicht ſeine begeiſternden Freuden kennen, hatten viel zu leiden von der Grobheit ihrer rheinbündiſchen Offiziere, die mit gebildeten Mannſchaften nicht umzu- gehen wußten, und kehrten verſtimmt heim, voll Abſcheus gegen das „Söldnerweſen“, ohne jede Ahnung von der königstreuen Geſinnung des preußiſchen Volksheeres, das ſie nie geſehen hatten; ſie ſchworen darauf, daß Deutſchland den Krieg nur um der Verfaſſung willen geführt habe und alles Blut umſonſt gefloſſen ſei. Eigenthümlich war den Gießener Studentenbünden ein geheimer Verkehr mit älteren Männern, den die Jenenſer zu ihrem Glück vermieden. Zur Zeit des Krieges hatte ſich in den Lahngegenden ein Geheimbund wider die Fremdherrſchaft zuſammen- gethan, der Wetterauer Verein, der nach dem Frieden aufgehoben wurde, aber durch einzelne ſeiner Mitglieder mit den Gießener Studenten in Verbindung blieb. Da waren Juſtizrath K. Hoffmann in Rödelheim, Landgerichtsrath Snell in Dillenburg und vor Allen Conrector Weidig in Butzbach, ein beredter Apoſtel der Egalité, der ſchlechtweg jede Regie- rung für ſündhaft erklärte, weil Gottes Gebot die vollkommene Gleichheit aller Menſchen vorſchreibe. Der Einfluß dieſer Männer und die ſchwüle Luft eines durchaus ungeſunden Staatsweſens gaben dem Gießener Studentenleben bald einen ſeltſam fanatiſchen Ton. Eine Verbindung „der Schwarzen“ that ſich auf und verſuchte ihr radikales neues Geſetz- buch, den „Ehrenſpiegel“, der geſammten Studentenſchaft aufzuzwingen; die Landsmannſchaften andererſeits ſpielten die Vertreter des Partikula- rismus, ſteckten die heſſiſche Kokarde auf und bewirkten durch eine An- zeige die Auflöſung der Schwarzen. Die eifrigeren Genoſſen des aufge- löſten Bundes blieben jedoch insgeheim beiſammen. An ihrer Spitze ſtanden die Gebrüder Follen, Adolf, Karl und Paul, drei bildſchöne, hochgewachſene junge Männer voll Feuer und Leben, alle- ſammt ſtreng republikaniſch geſinnt, die Söhne eines Gießener Beamten, deſſen eine Tochter nachher die Mutter von Karl Vogt wurde. Adolf Follen beſaß ein friſches lyriſch-muſikaliſches Talent, das er ſich leider durch das unnatürliche Pathos ſeiner radikalen Kraftſprache ſelber ver- darb; ihm und ſeinen Freunden Sartorius und Buri verdankten die Turner ihre wildeſten und frechſten Lieder. Bedeutender war ſein Bruder Karl, ein Fanatiker des harten Verſtandes, im Grunde ein unfruchtbarer Kopf, aber von ſeltenem dialektiſchem Scharfſinn, ein frühreifer, ganz mit ſich einiger Charakter, der nach der Weiſe radikaler Propheten ſich den Anſchein dämoniſcher Unergründlichkeit zu geben wußte und manchen ſeiner jungen Genoſſen wie der Alte vom Berge vorkam. Er war bereits

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/451>, abgerufen am 25.11.2024.