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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Fries und die Jenenser.
Besonders zeitgemäß erschien den jungen Leuten seine Geschichtsphilosophie;
er verstand den Reichthum der historischen Welt in das Schema einer
dürftigen Doctrin einzupressen, welche seitdem von unzähligen gelehrten
Publicisten, bis auf Gervinus herab, in mannichfachen Formen nachge-
sprochen worden ist: darnach sollte im Orient die Religion das Leben der
Menschheit beherrscht haben, im classischen Alterthum die Schönheit, in
der christlichen Welt die Erkenntniß, neuerdings aber, seit der Revolution,
stand die Ausbildung des öffentlichen Rechts im Mittelpunkte der Ge-
schichte, womit denn freilich allem Vorwitz der politisirenden Dilettanten
Thür und Thor geöffnet ward. Obwohl Fries die ehrliche Absicht hegte
das junge Volk vor leidenschaftlichen Verirrungen zu bewahren, so ließ er
sich doch zu manchen unvorsichtigen Aeußerungen hinreißen, und schließ-
lich widerfuhr ihm was bei einem allzu nahen Verkehre zwischen Pro-
fessoren und Studenten fast unvermeidlich eintritt: er verlor die Fühlung
mit seinen jungen Freunden, da sie dem Lehrer doch nicht Alles anver-
trauten, und bemerkte nicht, wie der Radikalismus allmählich in den
Reihen der Jugend überhandnahm.

Ursprünglich war eine unbestimmte patriotische Sehnsucht der einzige
politische Gedanke der Jenenser Burschen. Sie schwärmten für ein ab-
straktes Deutschthum, so wie es einst in den Reden an die deutsche Nation
verherrlicht worden; von der lebendigen preußischen Staatsgesinnung,
welche sich Fichte am Abend seines Lebens gebildet hatte, ahnten sie
nichts. Jeder Unterschied von Preußen, Baiern und Sachsen sollte ver-
schwinden in dem einen Begriffe der Deutschheit; und da nun unter
allen deutschen Einzelstaaten keiner ein so handfestes Leben besaß wie der
preußische, so geriethen diese jungen Träumer, die doch beständig von der
Herrlichkeit des Befreiungskrieges redeten, unmerklich auf denselben Ab-
weg wie die Nemesis und die Isis: sie begannen den Staat, der jenen
Krieg fast allein geführt hatte, mit Anklagen zu überhäufen.

Unter den Begründern der Burschenschaft befand sich ein einziger
Preuße: der Berliner Maßmann, ein ehrlicher, sehr mäßig begabter
junger Schwärmer, der unklarste Kopf von allen den Berserkern aus Jahns
engerem Kreise. Die Anderen waren sämmtlich Thüringer, Mecklenburger,
Kurländer, Hessen, bairische Franken, und ihnen allerdings fiel es nicht
schwer ihren heimathlichen Staat in einer allgemeinen Deutschheit einfach
untergehen zu lassen. Auf den preußischen Universitäten schlug die Bur-
schenschaft nur langsam Wurzeln, zunächst in Berlin. In Breslau wen-
deten sich ihr zuerst die neupreußischen Lausitzer zu; den Schlesiern wollte
es lange nicht in den Sinn, daß der Staat Friedrichs des Großen einem
gesinnungstüchtigen Teutonen nicht mehr gelten sollte als Bückeburg oder
Darmstadt. Die Jenenser dagegen und die radikalen Gießener, die sich
der burschenschaftlichen Bewegung am frühesten anschlossen, bekämpften
nicht nur jede berechtigte Regung preußischen Selbstgefühls als "undeut-

Fries und die Jenenſer.
Beſonders zeitgemäß erſchien den jungen Leuten ſeine Geſchichtsphiloſophie;
er verſtand den Reichthum der hiſtoriſchen Welt in das Schema einer
dürftigen Doctrin einzupreſſen, welche ſeitdem von unzähligen gelehrten
Publiciſten, bis auf Gervinus herab, in mannichfachen Formen nachge-
ſprochen worden iſt: darnach ſollte im Orient die Religion das Leben der
Menſchheit beherrſcht haben, im claſſiſchen Alterthum die Schönheit, in
der chriſtlichen Welt die Erkenntniß, neuerdings aber, ſeit der Revolution,
ſtand die Ausbildung des öffentlichen Rechts im Mittelpunkte der Ge-
ſchichte, womit denn freilich allem Vorwitz der politiſirenden Dilettanten
Thür und Thor geöffnet ward. Obwohl Fries die ehrliche Abſicht hegte
das junge Volk vor leidenſchaftlichen Verirrungen zu bewahren, ſo ließ er
ſich doch zu manchen unvorſichtigen Aeußerungen hinreißen, und ſchließ-
lich widerfuhr ihm was bei einem allzu nahen Verkehre zwiſchen Pro-
feſſoren und Studenten faſt unvermeidlich eintritt: er verlor die Fühlung
mit ſeinen jungen Freunden, da ſie dem Lehrer doch nicht Alles anver-
trauten, und bemerkte nicht, wie der Radikalismus allmählich in den
Reihen der Jugend überhandnahm.

Urſprünglich war eine unbeſtimmte patriotiſche Sehnſucht der einzige
politiſche Gedanke der Jenenſer Burſchen. Sie ſchwärmten für ein ab-
ſtraktes Deutſchthum, ſo wie es einſt in den Reden an die deutſche Nation
verherrlicht worden; von der lebendigen preußiſchen Staatsgeſinnung,
welche ſich Fichte am Abend ſeines Lebens gebildet hatte, ahnten ſie
nichts. Jeder Unterſchied von Preußen, Baiern und Sachſen ſollte ver-
ſchwinden in dem einen Begriffe der Deutſchheit; und da nun unter
allen deutſchen Einzelſtaaten keiner ein ſo handfeſtes Leben beſaß wie der
preußiſche, ſo geriethen dieſe jungen Träumer, die doch beſtändig von der
Herrlichkeit des Befreiungskrieges redeten, unmerklich auf denſelben Ab-
weg wie die Nemeſis und die Iſis: ſie begannen den Staat, der jenen
Krieg faſt allein geführt hatte, mit Anklagen zu überhäufen.

Unter den Begründern der Burſchenſchaft befand ſich ein einziger
Preuße: der Berliner Maßmann, ein ehrlicher, ſehr mäßig begabter
junger Schwärmer, der unklarſte Kopf von allen den Berſerkern aus Jahns
engerem Kreiſe. Die Anderen waren ſämmtlich Thüringer, Mecklenburger,
Kurländer, Heſſen, bairiſche Franken, und ihnen allerdings fiel es nicht
ſchwer ihren heimathlichen Staat in einer allgemeinen Deutſchheit einfach
untergehen zu laſſen. Auf den preußiſchen Univerſitäten ſchlug die Bur-
ſchenſchaft nur langſam Wurzeln, zunächſt in Berlin. In Breslau wen-
deten ſich ihr zuerſt die neupreußiſchen Lauſitzer zu; den Schleſiern wollte
es lange nicht in den Sinn, daß der Staat Friedrichs des Großen einem
geſinnungstüchtigen Teutonen nicht mehr gelten ſollte als Bückeburg oder
Darmſtadt. Die Jenenſer dagegen und die radikalen Gießener, die ſich
der burſchenſchaftlichen Bewegung am früheſten anſchloſſen, bekämpften
nicht nur jede berechtigte Regung preußiſchen Selbſtgefühls als „undeut-

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[415/0429] Fries und die Jenenſer. Beſonders zeitgemäß erſchien den jungen Leuten ſeine Geſchichtsphiloſophie; er verſtand den Reichthum der hiſtoriſchen Welt in das Schema einer dürftigen Doctrin einzupreſſen, welche ſeitdem von unzähligen gelehrten Publiciſten, bis auf Gervinus herab, in mannichfachen Formen nachge- ſprochen worden iſt: darnach ſollte im Orient die Religion das Leben der Menſchheit beherrſcht haben, im claſſiſchen Alterthum die Schönheit, in der chriſtlichen Welt die Erkenntniß, neuerdings aber, ſeit der Revolution, ſtand die Ausbildung des öffentlichen Rechts im Mittelpunkte der Ge- ſchichte, womit denn freilich allem Vorwitz der politiſirenden Dilettanten Thür und Thor geöffnet ward. Obwohl Fries die ehrliche Abſicht hegte das junge Volk vor leidenſchaftlichen Verirrungen zu bewahren, ſo ließ er ſich doch zu manchen unvorſichtigen Aeußerungen hinreißen, und ſchließ- lich widerfuhr ihm was bei einem allzu nahen Verkehre zwiſchen Pro- feſſoren und Studenten faſt unvermeidlich eintritt: er verlor die Fühlung mit ſeinen jungen Freunden, da ſie dem Lehrer doch nicht Alles anver- trauten, und bemerkte nicht, wie der Radikalismus allmählich in den Reihen der Jugend überhandnahm. Urſprünglich war eine unbeſtimmte patriotiſche Sehnſucht der einzige politiſche Gedanke der Jenenſer Burſchen. Sie ſchwärmten für ein ab- ſtraktes Deutſchthum, ſo wie es einſt in den Reden an die deutſche Nation verherrlicht worden; von der lebendigen preußiſchen Staatsgeſinnung, welche ſich Fichte am Abend ſeines Lebens gebildet hatte, ahnten ſie nichts. Jeder Unterſchied von Preußen, Baiern und Sachſen ſollte ver- ſchwinden in dem einen Begriffe der Deutſchheit; und da nun unter allen deutſchen Einzelſtaaten keiner ein ſo handfeſtes Leben beſaß wie der preußiſche, ſo geriethen dieſe jungen Träumer, die doch beſtändig von der Herrlichkeit des Befreiungskrieges redeten, unmerklich auf denſelben Ab- weg wie die Nemeſis und die Iſis: ſie begannen den Staat, der jenen Krieg faſt allein geführt hatte, mit Anklagen zu überhäufen. Unter den Begründern der Burſchenſchaft befand ſich ein einziger Preuße: der Berliner Maßmann, ein ehrlicher, ſehr mäßig begabter junger Schwärmer, der unklarſte Kopf von allen den Berſerkern aus Jahns engerem Kreiſe. Die Anderen waren ſämmtlich Thüringer, Mecklenburger, Kurländer, Heſſen, bairiſche Franken, und ihnen allerdings fiel es nicht ſchwer ihren heimathlichen Staat in einer allgemeinen Deutſchheit einfach untergehen zu laſſen. Auf den preußiſchen Univerſitäten ſchlug die Bur- ſchenſchaft nur langſam Wurzeln, zunächſt in Berlin. In Breslau wen- deten ſich ihr zuerſt die neupreußiſchen Lauſitzer zu; den Schleſiern wollte es lange nicht in den Sinn, daß der Staat Friedrichs des Großen einem geſinnungstüchtigen Teutonen nicht mehr gelten ſollte als Bückeburg oder Darmſtadt. Die Jenenſer dagegen und die radikalen Gießener, die ſich der burſchenſchaftlichen Bewegung am früheſten anſchloſſen, bekämpften nicht nur jede berechtigte Regung preußiſchen Selbſtgefühls als „undeut-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/429>, abgerufen am 22.11.2024.