Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 7. Die Burschenschaft. schichte wurden, wie vordem Fichtes und Schellings Collegien, der Sam-melplatz für die Masse der Studentenschaft; der liebenswürdige Idealis- mus, der aus seinem ganzen Wesen sprach, die patriotische Wärme und der leichte Redefluß seiner Vorträge erwarben ihm bei der Jugend ein Ansehen, das vierzig Jahre lang unerschüttert blieb. Wer den wohl- meinenden Mann nur nach seinen Büchern beurtheilte, konnte sich diese glänzenden Lehrer-Erfolge kaum erklären; seine historischen Schriften waren arm an neuen Gedanken, noch ärmer an selbständiger Forschung, und von der strengen Gedankenarbeit, welche die politische Wissenschaft ihren Jüngern auferlegt, ahnte er so wenig, daß er schon in seinem einund- dreißigsten Jahre (1811) wohlgemuth ein an harmlosen Gemeinplätzen überreiches Handbuch der Staatsweisheit herausgeben konnte. Wie anders als die ehrbar langweilige Nemesis ging die Isis ins II. 7. Die Burſchenſchaft. ſchichte wurden, wie vordem Fichtes und Schellings Collegien, der Sam-melplatz für die Maſſe der Studentenſchaft; der liebenswürdige Idealis- mus, der aus ſeinem ganzen Weſen ſprach, die patriotiſche Wärme und der leichte Redefluß ſeiner Vorträge erwarben ihm bei der Jugend ein Anſehen, das vierzig Jahre lang unerſchüttert blieb. Wer den wohl- meinenden Mann nur nach ſeinen Büchern beurtheilte, konnte ſich dieſe glänzenden Lehrer-Erfolge kaum erklären; ſeine hiſtoriſchen Schriften waren arm an neuen Gedanken, noch ärmer an ſelbſtändiger Forſchung, und von der ſtrengen Gedankenarbeit, welche die politiſche Wiſſenſchaft ihren Jüngern auferlegt, ahnte er ſo wenig, daß er ſchon in ſeinem einund- dreißigſten Jahre (1811) wohlgemuth ein an harmloſen Gemeinplätzen überreiches Handbuch der Staatsweisheit herausgeben konnte. Wie anders als die ehrbar langweilige Nemeſis ging die Iſis ins <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0422" n="408"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 7. Die Burſchenſchaft.</fw><lb/> ſchichte wurden, wie vordem Fichtes und Schellings Collegien, der Sam-<lb/> melplatz für die Maſſe der Studentenſchaft; der liebenswürdige Idealis-<lb/> mus, der aus ſeinem ganzen Weſen ſprach, die patriotiſche Wärme und<lb/> der leichte Redefluß ſeiner Vorträge erwarben ihm bei der Jugend ein<lb/> Anſehen, das vierzig Jahre lang unerſchüttert blieb. 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II. 7. Die Burſchenſchaft.
ſchichte wurden, wie vordem Fichtes und Schellings Collegien, der Sam-
melplatz für die Maſſe der Studentenſchaft; der liebenswürdige Idealis-
mus, der aus ſeinem ganzen Weſen ſprach, die patriotiſche Wärme und
der leichte Redefluß ſeiner Vorträge erwarben ihm bei der Jugend ein
Anſehen, das vierzig Jahre lang unerſchüttert blieb. Wer den wohl-
meinenden Mann nur nach ſeinen Büchern beurtheilte, konnte ſich dieſe
glänzenden Lehrer-Erfolge kaum erklären; ſeine hiſtoriſchen Schriften waren
arm an neuen Gedanken, noch ärmer an ſelbſtändiger Forſchung, und
von der ſtrengen Gedankenarbeit, welche die politiſche Wiſſenſchaft ihren
Jüngern auferlegt, ahnte er ſo wenig, daß er ſchon in ſeinem einund-
dreißigſten Jahre (1811) wohlgemuth ein an harmloſen Gemeinplätzen
überreiches Handbuch der Staatsweisheit herausgeben konnte.
Wie anders als die ehrbar langweilige Nemeſis ging die Iſis ins
Zeug, wohl die ſonderbarſte politiſche Zeitſchrift unſerer Geſchichte, ein
unvergleichliches Probſtück gelehrter Narrheit. Als Naturforſcher hatte
ſich Oken trotz mancher Wunderlichkeiten einen wohlverdienten Ruhm er-
worben; in den politiſchen Kampf brachte er kein anderes Rüſtzeug mit,
als eine grundehrliche vaterländiſche Begeiſterung, einige unklare demo-
kratiſche Begriffe, eine unerſättliche Raufluſt und den kindlichen Wahn,
daß die freie Preſſe alle Wunden, die ſie geſchlagen, auch wieder heilen
werde. „Die Geſchichte, ſo rief er in ſeiner Ankündigung, ſchreitet daher
als ein ſchauerlicher Rieſe über Strom und Felſen, über Loco sigilli
und Schlagbäume, lachend über ſolche Anſtalten, welche Geiſt und Sinn
fangen wollen und im Fang überpurzeln. Alles iſt gut und Alles muß
zugelaſſen werden.“ Seine Leſer ſollten den Sinn und den Unſinn der
Zeit, die Würde wie die Petulanz kennen lernen; ſelbſt die Grobheit,
die Lüge und Verleumdung ſchloß er nicht aus und befahl den Ange-
griffenen im Voraus, ſich nur literariſch zu rächen. Der burſchikoſe Auf-
ruf fand nur zu willige Hörer. Alle Hitzköpfe der gelehrten Welt gaben
ſich ein Stelldichein auf dem großen Fechtboden dieſer „Encyclopädiſchen
Zeitung“. Da ſtanden neben zoologiſchen Bildern und Abhandlungen —
dem einzigen Guten, was die Zeitſchrift brachte — akademiſche Skandal-
geſchichten und literariſche Klopffechtereien jeder Art; ſelbſt ein hämiſcher
Artikel der Edinburgh Review gegen Goethes Wahrheit und Dichtung ward
mit unverhohlenem Behagen abgedruckt; und dann wieder politiſche Ab-
handlungen ſowie zahlloſe Schmerzensrufe und Anklagen wider angebliche
Behördenwillkür. Das Alles im Tone des Bierhauſes, im „Oken’ſchen
Tone“, wie man bald zu ſagen pflegte — frech, geſchmacklos, höhniſch;
faſt jede neue Nummer der Iſis rief neuen Zank hervor. Da der reiche
Vorrath der deutſchen Superlative ſchon nicht mehr ausreichte, ſo zog
Oken die Holzſchneider zu Hilfe und ließ Eſelsköpfe, Gänſe, Kannibalen,
Juden- und Pfaffengeſichter oder auch eine Knute, einen Stock, ein zum
Fußtritt erhobenes Bein neben die Namen ſeiner Gegner ſetzen, ſo daß
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