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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Der Breslauer Turnstreit.
Rechenaufgabe, die ein gesinnungstüchtiger teutonischer Lehrer aufgebracht
hatte: wenn ein fürstlicher Hof zwei Millionen Thaler kostet, wie viel kosten
dreiunddreißig? Manche der schönen Lieder des Befreiungskrieges erhielten
jetzt im Frieden einen anderen Sinn; der Volkszorn, den sie aufriefen,
wendete sich, nun der fremde Zwingherr gestürzt war, unwillkürlich wider
die heimischen Feinde; und bald tauchten neue Gesänge auf, welche offen
den Kampf der freien Turnerschaft gegen die Kronen verherrlichten:

Noch ficht mit der Wahrheit gekrönter Wahn,
Noch kämpft mit dem Teufel die Tugend ...
Der Freiheit Wiege, dein Sarg, Drängerei,
Wird gezimmert aus dem Baume der Turnerei!

So ward der lautere Enthusiasmus der Jugend für die Einheit des
Vaterlandes nach und nach durch radicale Phrasen getrübt. Für die
bürgerliche Ordnung stand von solchem Wortschwall wenig zu fürchten;
aber die Rechtschaffenheit des heranwachsenden Geschlechts ward gefährdet,
wenn das junge Volk also in hochmüthigen Drohungen zu schwelgen be-
gann und ganz verlernte, daß Worte einen Sinn haben.

Den streng militärischen Anschauungen des Königs war die Roheit
der Turner von Haus aus verhaßt. Hardenberg dagegen, dankbar und
wohlwollend wie er war, vergaß der Verdienste nicht, die sich Jahn in
der Zeit der geheimen Rüstungen erworben hatte, und behandelte seine
Schrullen mit großer Nachsicht. Eine freundliche Verwarnung konnte er
ihm freilich nicht ersparen, als ein Hausvater, der seine Tochter fran-
zösisch lernen ließ, sich über Jahns Schmähungen beschwerte. Die Wie-
derholung jener öffentlichen Vorlesungen wurde untersagt; im Uebrigen
blieb Jahn unbelästigt und bezog Gehalt aus der Staatskasse. Auch
Altenstein erkannte den Nutzen der Turnübungen unbefangen an und be-
schäftigte sich mit dem Plane ihrer Einführung in die Schulen. Beide
Staatsmänner waren bereit, dem Turnvater eine Versorgung, etwa als
Landwirth, zu verschaffen; nur für das akademische Amt eines Lektors
der deutschen Sprache, das er sich wünschte, fanden sie ihn nicht befähigt.*)

Der erste ernste Angriff auf die Turnerschaft ging von literarischen
Kreisen aus. Nach dem Berliner Vorbilde wurden zuerst in Breslau, dann
in vielen anderen Städten Turnplätze eingerichtet; Jahns Buch über die
deutsche Turnkunst, das er mit seinem Schüler Eiselen herausgab, diente
beim Unterricht überall als Leitfaden. Da erhob Steffens seine warnende
Stimme gegen die Ausartung der Turnerei, zuerst 1817 in dem Buche:
"die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden", nachher in den Caricaturen
des Heiligsten und anderen Schriften, und nun begann unter allgemeiner
Theilnahme der große Breslauer Turnstreit, einer jener mehr literari-
schen als politischen Kämpfe, in denen sich die patriotische Leidenschaft

*) Hardenberg an Altenstein, 8. Dec. 1817. Altensteins Antwort, 19. Jan. 1818.

Der Breslauer Turnſtreit.
Rechenaufgabe, die ein geſinnungstüchtiger teutoniſcher Lehrer aufgebracht
hatte: wenn ein fürſtlicher Hof zwei Millionen Thaler koſtet, wie viel koſten
dreiunddreißig? Manche der ſchönen Lieder des Befreiungskrieges erhielten
jetzt im Frieden einen anderen Sinn; der Volkszorn, den ſie aufriefen,
wendete ſich, nun der fremde Zwingherr geſtürzt war, unwillkürlich wider
die heimiſchen Feinde; und bald tauchten neue Geſänge auf, welche offen
den Kampf der freien Turnerſchaft gegen die Kronen verherrlichten:

Noch ficht mit der Wahrheit gekrönter Wahn,
Noch kämpft mit dem Teufel die Tugend …
Der Freiheit Wiege, dein Sarg, Drängerei,
Wird gezimmert aus dem Baume der Turnerei!

So ward der lautere Enthuſiasmus der Jugend für die Einheit des
Vaterlandes nach und nach durch radicale Phraſen getrübt. Für die
bürgerliche Ordnung ſtand von ſolchem Wortſchwall wenig zu fürchten;
aber die Rechtſchaffenheit des heranwachſenden Geſchlechts ward gefährdet,
wenn das junge Volk alſo in hochmüthigen Drohungen zu ſchwelgen be-
gann und ganz verlernte, daß Worte einen Sinn haben.

Den ſtreng militäriſchen Anſchauungen des Königs war die Roheit
der Turner von Haus aus verhaßt. Hardenberg dagegen, dankbar und
wohlwollend wie er war, vergaß der Verdienſte nicht, die ſich Jahn in
der Zeit der geheimen Rüſtungen erworben hatte, und behandelte ſeine
Schrullen mit großer Nachſicht. Eine freundliche Verwarnung konnte er
ihm freilich nicht erſparen, als ein Hausvater, der ſeine Tochter fran-
zöſiſch lernen ließ, ſich über Jahns Schmähungen beſchwerte. Die Wie-
derholung jener öffentlichen Vorleſungen wurde unterſagt; im Uebrigen
blieb Jahn unbeläſtigt und bezog Gehalt aus der Staatskaſſe. Auch
Altenſtein erkannte den Nutzen der Turnübungen unbefangen an und be-
ſchäftigte ſich mit dem Plane ihrer Einführung in die Schulen. Beide
Staatsmänner waren bereit, dem Turnvater eine Verſorgung, etwa als
Landwirth, zu verſchaffen; nur für das akademiſche Amt eines Lektors
der deutſchen Sprache, das er ſich wünſchte, fanden ſie ihn nicht befähigt.*)

Der erſte ernſte Angriff auf die Turnerſchaft ging von literariſchen
Kreiſen aus. Nach dem Berliner Vorbilde wurden zuerſt in Breslau, dann
in vielen anderen Städten Turnplätze eingerichtet; Jahns Buch über die
deutſche Turnkunſt, das er mit ſeinem Schüler Eiſelen herausgab, diente
beim Unterricht überall als Leitfaden. Da erhob Steffens ſeine warnende
Stimme gegen die Ausartung der Turnerei, zuerſt 1817 in dem Buche:
„die gegenwärtige Zeit und wie ſie geworden“, nachher in den Caricaturen
des Heiligſten und anderen Schriften, und nun begann unter allgemeiner
Theilnahme der große Breslauer Turnſtreit, einer jener mehr literari-
ſchen als politiſchen Kämpfe, in denen ſich die patriotiſche Leidenſchaft

*) Hardenberg an Altenſtein, 8. Dec. 1817. Altenſteins Antwort, 19. Jan. 1818.
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[393/0407] Der Breslauer Turnſtreit. Rechenaufgabe, die ein geſinnungstüchtiger teutoniſcher Lehrer aufgebracht hatte: wenn ein fürſtlicher Hof zwei Millionen Thaler koſtet, wie viel koſten dreiunddreißig? Manche der ſchönen Lieder des Befreiungskrieges erhielten jetzt im Frieden einen anderen Sinn; der Volkszorn, den ſie aufriefen, wendete ſich, nun der fremde Zwingherr geſtürzt war, unwillkürlich wider die heimiſchen Feinde; und bald tauchten neue Geſänge auf, welche offen den Kampf der freien Turnerſchaft gegen die Kronen verherrlichten: Noch ficht mit der Wahrheit gekrönter Wahn, Noch kämpft mit dem Teufel die Tugend … Der Freiheit Wiege, dein Sarg, Drängerei, Wird gezimmert aus dem Baume der Turnerei! So ward der lautere Enthuſiasmus der Jugend für die Einheit des Vaterlandes nach und nach durch radicale Phraſen getrübt. Für die bürgerliche Ordnung ſtand von ſolchem Wortſchwall wenig zu fürchten; aber die Rechtſchaffenheit des heranwachſenden Geſchlechts ward gefährdet, wenn das junge Volk alſo in hochmüthigen Drohungen zu ſchwelgen be- gann und ganz verlernte, daß Worte einen Sinn haben. Den ſtreng militäriſchen Anſchauungen des Königs war die Roheit der Turner von Haus aus verhaßt. Hardenberg dagegen, dankbar und wohlwollend wie er war, vergaß der Verdienſte nicht, die ſich Jahn in der Zeit der geheimen Rüſtungen erworben hatte, und behandelte ſeine Schrullen mit großer Nachſicht. Eine freundliche Verwarnung konnte er ihm freilich nicht erſparen, als ein Hausvater, der ſeine Tochter fran- zöſiſch lernen ließ, ſich über Jahns Schmähungen beſchwerte. Die Wie- derholung jener öffentlichen Vorleſungen wurde unterſagt; im Uebrigen blieb Jahn unbeläſtigt und bezog Gehalt aus der Staatskaſſe. Auch Altenſtein erkannte den Nutzen der Turnübungen unbefangen an und be- ſchäftigte ſich mit dem Plane ihrer Einführung in die Schulen. Beide Staatsmänner waren bereit, dem Turnvater eine Verſorgung, etwa als Landwirth, zu verſchaffen; nur für das akademiſche Amt eines Lektors der deutſchen Sprache, das er ſich wünſchte, fanden ſie ihn nicht befähigt. *) Der erſte ernſte Angriff auf die Turnerſchaft ging von literariſchen Kreiſen aus. Nach dem Berliner Vorbilde wurden zuerſt in Breslau, dann in vielen anderen Städten Turnplätze eingerichtet; Jahns Buch über die deutſche Turnkunſt, das er mit ſeinem Schüler Eiſelen herausgab, diente beim Unterricht überall als Leitfaden. Da erhob Steffens ſeine warnende Stimme gegen die Ausartung der Turnerei, zuerſt 1817 in dem Buche: „die gegenwärtige Zeit und wie ſie geworden“, nachher in den Caricaturen des Heiligſten und anderen Schriften, und nun begann unter allgemeiner Theilnahme der große Breslauer Turnſtreit, einer jener mehr literari- ſchen als politiſchen Kämpfe, in denen ſich die patriotiſche Leidenſchaft *) Hardenberg an Altenſtein, 8. Dec. 1817. Altenſteins Antwort, 19. Jan. 1818.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/407>, abgerufen am 22.11.2024.