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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
schmackt süßlicher Ton. Manche kräftige Männer des heutigen Geschlechts,
welche einst in dieser sentimentalen Luft aufwuchsen, wurden dadurch mit
einem solchen Ekel erfüllt, daß sie ihr Leben lang jeden Ausdruck erregter
Empfindung vermieden. Der weichliche Vielschreiber H. Clauren sagte
dem Geschmacke der großen Lesewelt am Besten zu. Die eleganten Damen
erfreuten sich an den verhimmelten Stahlstichen und den rührenden No-
vellen der modischen Taschenbücher; Urania, Aurora, Alpenrosen, Ver-
gißmeinnicht oder Immergrün stand auf den Titelblättern der zierlichen
goldgeränderten Bändchen zu lesen. Obersachsen, das vormals so oft
durch starke reformatorische Geister entscheidend in den Gedankengang der
Nation eingegriffen hatte, wurde für einige Jahrzehnte der Hauptsitz dieser
Unterhaltungsliteratur; es war, als ob die einst von dem jungen Goethe
verspottete "Gottsched-Weiße-Gellertsche Wasserfluth" wieder über das schöne
Land hereinbräche. In Dresden kamen Friedrich Kind und Theodor Hell
mit einigen anderen ebenso sanftmüthigen Poeten allwöchentlich zum "Dich-
terthee" zusammen und bewunderten mit unwandelbarer Höflichkeit wechsel-
seitig ihre faden, des chinesischen Getränkes würdigen Novellen, die sodann
in der vielgelesenen "Abendzeitung" veröffentlicht wurden. Friedrich Böt-
tiger aber, der unaufhaltsamste der Recensenten, beeilte sich, wie Goethe
sagte, den Lumpenbrei der Pfuscher und der Schmierer zum Meisterwerk
zu stempeln.

Ludwig Tieck, der ebenfalls in die liebliche Elbestadt übergesiedelt
war, zog sich von diesem leeren Treiben vornehm zurück. An ihm ward
offenbar, daß die geheimnißvolle "Poesie der Poesie", deren die Roman-
tiker sich rühmten, im Grunde nur geistreiche Kennerschaft war. Er
zählte, obwohl ihn seine Bewunderer dicht hinter Goethe stellten, doch
zu den Naturen, die mehr sind als sie leisten. Da er von dem über-
mächtigen schöpferischen Drange des Dichters jetzt nur noch selten ergriffen
ward, so warf er sich mit schönem Eifer, mit seiner gepriesenen "schnellen
Fühlbarkeit" auf die Erforschung der Shakespearischen Dramatik. Was
er in Wort und Schrift für die Erklärung und Nachbildung des großen
Briten that ward in Wahrheit fruchtbarer für das deutsche Leben als die
formlosen Romane und die literarisch-satirischen Märchendramen seiner
Jugend, die eben darum nicht als naive Kinder der Phantasie erschienen,
weil sie mit bewußter Absichtlichkeit selber sagten, daß ihnen "der Ver-
stand so gänzlich fehle". Wie vielen jungen Poeten und Schauspielern
ist in dem alten Hause am Altmarkte die erste Ahnung von dem eigent-
lichen Wesen der Kunst aufgegangen, wenn der Dichter an seinen vielge-
rühmten Leseabenden mit wahrhaft congenialer Kraft die ganze Welt der
Shakespearischen Gestalten in der Fülle ihres Lebens den Hörern vor die
Seele führte. Der junge Graf Wolf Baudissin fand es bald unbegreif-
lich, wie er nur hätte leben können bevor er diesen Mann gekannt. Tieck
war früh berühmt geworden und erschien schon im Mannesalter wie ein

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
ſchmackt ſüßlicher Ton. Manche kräftige Männer des heutigen Geſchlechts,
welche einſt in dieſer ſentimentalen Luft aufwuchſen, wurden dadurch mit
einem ſolchen Ekel erfüllt, daß ſie ihr Leben lang jeden Ausdruck erregter
Empfindung vermieden. Der weichliche Vielſchreiber H. Clauren ſagte
dem Geſchmacke der großen Leſewelt am Beſten zu. Die eleganten Damen
erfreuten ſich an den verhimmelten Stahlſtichen und den rührenden No-
vellen der modiſchen Taſchenbücher; Urania, Aurora, Alpenroſen, Ver-
gißmeinnicht oder Immergrün ſtand auf den Titelblättern der zierlichen
goldgeränderten Bändchen zu leſen. Oberſachſen, das vormals ſo oft
durch ſtarke reformatoriſche Geiſter entſcheidend in den Gedankengang der
Nation eingegriffen hatte, wurde für einige Jahrzehnte der Hauptſitz dieſer
Unterhaltungsliteratur; es war, als ob die einſt von dem jungen Goethe
verſpottete „Gottſched-Weiße-Gellertſche Waſſerfluth“ wieder über das ſchöne
Land hereinbräche. In Dresden kamen Friedrich Kind und Theodor Hell
mit einigen anderen ebenſo ſanftmüthigen Poeten allwöchentlich zum „Dich-
terthee“ zuſammen und bewunderten mit unwandelbarer Höflichkeit wechſel-
ſeitig ihre faden, des chineſiſchen Getränkes würdigen Novellen, die ſodann
in der vielgeleſenen „Abendzeitung“ veröffentlicht wurden. Friedrich Böt-
tiger aber, der unaufhaltſamſte der Recenſenten, beeilte ſich, wie Goethe
ſagte, den Lumpenbrei der Pfuſcher und der Schmierer zum Meiſterwerk
zu ſtempeln.

Ludwig Tieck, der ebenfalls in die liebliche Elbeſtadt übergeſiedelt
war, zog ſich von dieſem leeren Treiben vornehm zurück. An ihm ward
offenbar, daß die geheimnißvolle „Poeſie der Poeſie“, deren die Roman-
tiker ſich rühmten, im Grunde nur geiſtreiche Kennerſchaft war. Er
zählte, obwohl ihn ſeine Bewunderer dicht hinter Goethe ſtellten, doch
zu den Naturen, die mehr ſind als ſie leiſten. Da er von dem über-
mächtigen ſchöpferiſchen Drange des Dichters jetzt nur noch ſelten ergriffen
ward, ſo warf er ſich mit ſchönem Eifer, mit ſeiner geprieſenen „ſchnellen
Fühlbarkeit“ auf die Erforſchung der Shakeſpeariſchen Dramatik. Was
er in Wort und Schrift für die Erklärung und Nachbildung des großen
Briten that ward in Wahrheit fruchtbarer für das deutſche Leben als die
formloſen Romane und die literariſch-ſatiriſchen Märchendramen ſeiner
Jugend, die eben darum nicht als naive Kinder der Phantaſie erſchienen,
weil ſie mit bewußter Abſichtlichkeit ſelber ſagten, daß ihnen „der Ver-
ſtand ſo gänzlich fehle“. Wie vielen jungen Poeten und Schauſpielern
iſt in dem alten Hauſe am Altmarkte die erſte Ahnung von dem eigent-
lichen Weſen der Kunſt aufgegangen, wenn der Dichter an ſeinen vielge-
rühmten Leſeabenden mit wahrhaft congenialer Kraft die ganze Welt der
Shakeſpeariſchen Geſtalten in der Fülle ihres Lebens den Hörern vor die
Seele führte. Der junge Graf Wolf Baudiſſin fand es bald unbegreif-
lich, wie er nur hätte leben können bevor er dieſen Mann gekannt. Tieck
war früh berühmt geworden und erſchien ſchon im Mannesalter wie ein

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[26/0040] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. ſchmackt ſüßlicher Ton. Manche kräftige Männer des heutigen Geſchlechts, welche einſt in dieſer ſentimentalen Luft aufwuchſen, wurden dadurch mit einem ſolchen Ekel erfüllt, daß ſie ihr Leben lang jeden Ausdruck erregter Empfindung vermieden. Der weichliche Vielſchreiber H. Clauren ſagte dem Geſchmacke der großen Leſewelt am Beſten zu. Die eleganten Damen erfreuten ſich an den verhimmelten Stahlſtichen und den rührenden No- vellen der modiſchen Taſchenbücher; Urania, Aurora, Alpenroſen, Ver- gißmeinnicht oder Immergrün ſtand auf den Titelblättern der zierlichen goldgeränderten Bändchen zu leſen. Oberſachſen, das vormals ſo oft durch ſtarke reformatoriſche Geiſter entſcheidend in den Gedankengang der Nation eingegriffen hatte, wurde für einige Jahrzehnte der Hauptſitz dieſer Unterhaltungsliteratur; es war, als ob die einſt von dem jungen Goethe verſpottete „Gottſched-Weiße-Gellertſche Waſſerfluth“ wieder über das ſchöne Land hereinbräche. In Dresden kamen Friedrich Kind und Theodor Hell mit einigen anderen ebenſo ſanftmüthigen Poeten allwöchentlich zum „Dich- terthee“ zuſammen und bewunderten mit unwandelbarer Höflichkeit wechſel- ſeitig ihre faden, des chineſiſchen Getränkes würdigen Novellen, die ſodann in der vielgeleſenen „Abendzeitung“ veröffentlicht wurden. Friedrich Böt- tiger aber, der unaufhaltſamſte der Recenſenten, beeilte ſich, wie Goethe ſagte, den Lumpenbrei der Pfuſcher und der Schmierer zum Meiſterwerk zu ſtempeln. Ludwig Tieck, der ebenfalls in die liebliche Elbeſtadt übergeſiedelt war, zog ſich von dieſem leeren Treiben vornehm zurück. An ihm ward offenbar, daß die geheimnißvolle „Poeſie der Poeſie“, deren die Roman- tiker ſich rühmten, im Grunde nur geiſtreiche Kennerſchaft war. Er zählte, obwohl ihn ſeine Bewunderer dicht hinter Goethe ſtellten, doch zu den Naturen, die mehr ſind als ſie leiſten. Da er von dem über- mächtigen ſchöpferiſchen Drange des Dichters jetzt nur noch ſelten ergriffen ward, ſo warf er ſich mit ſchönem Eifer, mit ſeiner geprieſenen „ſchnellen Fühlbarkeit“ auf die Erforſchung der Shakeſpeariſchen Dramatik. Was er in Wort und Schrift für die Erklärung und Nachbildung des großen Briten that ward in Wahrheit fruchtbarer für das deutſche Leben als die formloſen Romane und die literariſch-ſatiriſchen Märchendramen ſeiner Jugend, die eben darum nicht als naive Kinder der Phantaſie erſchienen, weil ſie mit bewußter Abſichtlichkeit ſelber ſagten, daß ihnen „der Ver- ſtand ſo gänzlich fehle“. Wie vielen jungen Poeten und Schauſpielern iſt in dem alten Hauſe am Altmarkte die erſte Ahnung von dem eigent- lichen Weſen der Kunſt aufgegangen, wenn der Dichter an ſeinen vielge- rühmten Leſeabenden mit wahrhaft congenialer Kraft die ganze Welt der Shakeſpeariſchen Geſtalten in der Fülle ihres Lebens den Hörern vor die Seele führte. Der junge Graf Wolf Baudiſſin fand es bald unbegreif- lich, wie er nur hätte leben können bevor er dieſen Mann gekannt. Tieck war früh berühmt geworden und erſchien ſchon im Mannesalter wie ein

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/40>, abgerufen am 23.11.2024.