Zu allen Zeiten hat die Jugend radikaler gedacht als das Alter, weil sie mehr in der Zukunft als in der Gegenwart lebt und die Mächte des Beharrens in der historischen Welt noch wenig zu würdigen weiß. Es bleibt aber immer ein Zeichen krankhafter Zustände, wenn die Kluft zwischen den Gedanken der Alten und der Jungen sich allzu sehr er- weitert und die schwärmende Begeisterung der Jünglinge mit der nüch- ternen Thätigkeit der Männer gar nichts mehr gemein hat. Ein solcher innerer Zwiespalt begann sich nach dem Frieden in Norddeutschland zu zeigen. Die jungen Männer, die im Waffenschmucke den Anbruch ihres eigenen bewußten Lebens und den Anbruch ihres Vaterlandes zugleich ge- nossen oder auf der Schulbank klopfenden Herzens die Kunde von den Wundern des heiligen Krieges vernommen hatten, waren noch trunken von den Erinnerungen jener einzigen Tage; sie führten den Kampf gegen das Wälschthum und die Zwingherrschaft im Geiste weiter und fühlten sich wie verrathen und verkauft, da nun die Prosa der stillen Friedens- arbeit von Neuem begann. Wie sollten sie verstehen, welche quälenden wirthschaftlichen Sorgen den Aelteren die Seele belasteten? In alten Zeiten -- so etwa lautete die summarische Geschichtsphilosophie des jungen Volks -- in den Tagen der Völkerwanderung und des Kaiserthums war Deutschland das Herrenland der Erde gewesen; dann waren die langen Jahrhunderte der Ohnmacht und der Knechtschaft, der Verbildung und Verwälschung hereingebrochen, bis endlich Lützows wilde verwegene Jagd durch die germanischen Wälder brauste und die heiligen Schaaren der streit- baren Jugend das deutsche Volk sich selber zurückgaben. Und was war der Dank? Statt der Einheit des Vaterlandes entstand "das deutsche Bunt", wie Vater Jahn zu sagen pflegte; die Alten aber, denen der Hel- denmuth der Jungen das fremde Joch vom Nacken genommen, versanken wieder in das Philisterthum, saßen am Schreibtisch und in der Werkstatt als sei nichts geschehen.
Hatte Fichte nicht recht gesehen, als er einst weissagte: dies in Selbst- sucht verkommene alte Geschlecht müsse erst verschwinden bis auf den letzten
Siebenter Abſchnitt. Die Burſchenſchaft.
Zu allen Zeiten hat die Jugend radikaler gedacht als das Alter, weil ſie mehr in der Zukunft als in der Gegenwart lebt und die Mächte des Beharrens in der hiſtoriſchen Welt noch wenig zu würdigen weiß. Es bleibt aber immer ein Zeichen krankhafter Zuſtände, wenn die Kluft zwiſchen den Gedanken der Alten und der Jungen ſich allzu ſehr er- weitert und die ſchwärmende Begeiſterung der Jünglinge mit der nüch- ternen Thätigkeit der Männer gar nichts mehr gemein hat. Ein ſolcher innerer Zwieſpalt begann ſich nach dem Frieden in Norddeutſchland zu zeigen. Die jungen Männer, die im Waffenſchmucke den Anbruch ihres eigenen bewußten Lebens und den Anbruch ihres Vaterlandes zugleich ge- noſſen oder auf der Schulbank klopfenden Herzens die Kunde von den Wundern des heiligen Krieges vernommen hatten, waren noch trunken von den Erinnerungen jener einzigen Tage; ſie führten den Kampf gegen das Wälſchthum und die Zwingherrſchaft im Geiſte weiter und fühlten ſich wie verrathen und verkauft, da nun die Proſa der ſtillen Friedens- arbeit von Neuem begann. Wie ſollten ſie verſtehen, welche quälenden wirthſchaftlichen Sorgen den Aelteren die Seele belaſteten? In alten Zeiten — ſo etwa lautete die ſummariſche Geſchichtsphiloſophie des jungen Volks — in den Tagen der Völkerwanderung und des Kaiſerthums war Deutſchland das Herrenland der Erde geweſen; dann waren die langen Jahrhunderte der Ohnmacht und der Knechtſchaft, der Verbildung und Verwälſchung hereingebrochen, bis endlich Lützows wilde verwegene Jagd durch die germaniſchen Wälder brauſte und die heiligen Schaaren der ſtreit- baren Jugend das deutſche Volk ſich ſelber zurückgaben. Und was war der Dank? Statt der Einheit des Vaterlandes entſtand „das deutſche Bunt“, wie Vater Jahn zu ſagen pflegte; die Alten aber, denen der Hel- denmuth der Jungen das fremde Joch vom Nacken genommen, verſanken wieder in das Philiſterthum, ſaßen am Schreibtiſch und in der Werkſtatt als ſei nichts geſchehen.
Hatte Fichte nicht recht geſehen, als er einſt weiſſagte: dies in Selbſt- ſucht verkommene alte Geſchlecht müſſe erſt verſchwinden bis auf den letzten
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Siebenter Abſchnitt.
Die Burſchenſchaft.
Zu allen Zeiten hat die Jugend radikaler gedacht als das Alter,
weil ſie mehr in der Zukunft als in der Gegenwart lebt und die Mächte
des Beharrens in der hiſtoriſchen Welt noch wenig zu würdigen weiß.
Es bleibt aber immer ein Zeichen krankhafter Zuſtände, wenn die Kluft
zwiſchen den Gedanken der Alten und der Jungen ſich allzu ſehr er-
weitert und die ſchwärmende Begeiſterung der Jünglinge mit der nüch-
ternen Thätigkeit der Männer gar nichts mehr gemein hat. Ein ſolcher
innerer Zwieſpalt begann ſich nach dem Frieden in Norddeutſchland zu
zeigen. Die jungen Männer, die im Waffenſchmucke den Anbruch ihres
eigenen bewußten Lebens und den Anbruch ihres Vaterlandes zugleich ge-
noſſen oder auf der Schulbank klopfenden Herzens die Kunde von den
Wundern des heiligen Krieges vernommen hatten, waren noch trunken
von den Erinnerungen jener einzigen Tage; ſie führten den Kampf gegen
das Wälſchthum und die Zwingherrſchaft im Geiſte weiter und fühlten
ſich wie verrathen und verkauft, da nun die Proſa der ſtillen Friedens-
arbeit von Neuem begann. Wie ſollten ſie verſtehen, welche quälenden
wirthſchaftlichen Sorgen den Aelteren die Seele belaſteten? In alten
Zeiten — ſo etwa lautete die ſummariſche Geſchichtsphiloſophie des jungen
Volks — in den Tagen der Völkerwanderung und des Kaiſerthums war
Deutſchland das Herrenland der Erde geweſen; dann waren die langen
Jahrhunderte der Ohnmacht und der Knechtſchaft, der Verbildung und
Verwälſchung hereingebrochen, bis endlich Lützows wilde verwegene Jagd
durch die germaniſchen Wälder brauſte und die heiligen Schaaren der ſtreit-
baren Jugend das deutſche Volk ſich ſelber zurückgaben. Und was war
der Dank? Statt der Einheit des Vaterlandes entſtand „das deutſche
Bunt“, wie Vater Jahn zu ſagen pflegte; die Alten aber, denen der Hel-
denmuth der Jungen das fremde Joch vom Nacken genommen, verſanken
wieder in das Philiſterthum, ſaßen am Schreibtiſch und in der Werkſtatt
als ſei nichts geſchehen.
Hatte Fichte nicht recht geſehen, als er einſt weiſſagte: dies in Selbſt-
ſucht verkommene alte Geſchlecht müſſe erſt verſchwinden bis auf den letzten
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. [383]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/397>, abgerufen am 19.11.2024.
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