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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Hessen-Darmstadt.
wer über die Darmstädter Grenze zur Stadt hinausgeschoben wurde,
zog nach einem kurzen Spaziergange durch Homburg oder Nassau fröhlich
zu einem anderen Thore wieder ein. Im Odenwald lag gar ein badisch-
hessisches Condominat, dessen Grenzen sich immer von Neuem veränderten
sobald ein Bauer eine Parcelle verkaufte. Und diese Zierden der deutschen
Landkarte waren nicht wie die ebenso zerhackten Gebietstrümmer Thü-
ringens ein Vermächtniß des heiligen Reichs, sondern ein Werk der aller-
neuesten deutschen Politik.

In den zwei Jahrhunderten seit ihrer Trennung von dem Hauptzweige
hatte die jüngere Linie des hessischen Hauses ihren Besitzstand sehr häufig
verändert. Die Darmstädter Landgrafen geboten anfangs nur über die
obere Grafschaft Katzenellenbogen am Odenwalde und einige Striche der
Wetterau. Nach deutschem Fürstenbrauche bewiesen sie ihre Selbständigkeit
durch beständige Händel mit den Stammesvettern und hielten als glau-
bensstarke Lutheraner immer zu Oesterreich, während Kassel sich dem
reformirten Bekenntniß näherte und mit Schweden, nachher mit Preußen
verbündet war; der reformirten Marburger Hochschule trat das lutherische
Gießen entgegen. Nachher wurde die Grafschaft Hanau-Lichtenberg er-
worben, und bereits begann sich der Schwerpunkt des Territoriums nach
dem linken Rheinufer hinüberzuschieben: der Hof wohnte mit Vorliebe
in dem schönen Schlosse von Buchsweiler und schuf sich in Pirmasenz
ein süddeutsches Potsdam für seine weltberühmte Riesengarde. Selbst
die Freundin Friedrichs des Großen, "die große Landgräfin" Karoline
Henriette vermochte die geistlose Langeweile aus diesem Lande der Sol-
datenspielerei nicht zu verbannen; auch der Minister Karl Friedrich von
Moser mußte aus seiner schimpflichen Entlassung lernen, daß hier kein
Raum war für einen Feuergeist, der "den Deutschen die Hundedemuth ab-
gewöhnen wollte". Nur durch Merk und seinen Freundeskreis unterhielt
das stille Darmstadt einigen Verkehr mit der neuen deutschen Bildung.
Während der Revolutionskriege gingen die überrheinischen Besitzungen
wieder verloren, und die Dynastie empfing zur Entschädigung unter An-
derem das weit entlegene Herzogthum Westphalen. Nach Napoleons
Sturz wurde auch diese unnatürliche Erwerbung wieder aufgegeben und
dafür der schmale linksrheinische Ufersaum von Worms bis Bingen ein-
getauscht. So erhielt das neue Großherzogthum erst durch die Wiener
Verträge, später als die anderen oberdeutschen Staaten, seinen politischen
Charakter; die Kämpfe zwischen dem linken und dem rechten Ufer machten
fortan seine Geschichte aus.

Bis auf einige westphälische Gebietstheile war das ganze Land süd-
deutsch, fränkisch; die Grenze zwischen nord- und süddeutscher Sitte lief
seit alten Zeiten quer durch das obere Lahnthal zwischen Gießen und
Marburg. Aber welche Gegensätze innerhalb dieser Bruchstücke des frän-
kischen Stammes. Von den beiden rechtsrheinischen Provinzen war Ober-

Heſſen-Darmſtadt.
wer über die Darmſtädter Grenze zur Stadt hinausgeſchoben wurde,
zog nach einem kurzen Spaziergange durch Homburg oder Naſſau fröhlich
zu einem anderen Thore wieder ein. Im Odenwald lag gar ein badiſch-
heſſiſches Condominat, deſſen Grenzen ſich immer von Neuem veränderten
ſobald ein Bauer eine Parcelle verkaufte. Und dieſe Zierden der deutſchen
Landkarte waren nicht wie die ebenſo zerhackten Gebietstrümmer Thü-
ringens ein Vermächtniß des heiligen Reichs, ſondern ein Werk der aller-
neueſten deutſchen Politik.

In den zwei Jahrhunderten ſeit ihrer Trennung von dem Hauptzweige
hatte die jüngere Linie des heſſiſchen Hauſes ihren Beſitzſtand ſehr häufig
verändert. Die Darmſtädter Landgrafen geboten anfangs nur über die
obere Grafſchaft Katzenellenbogen am Odenwalde und einige Striche der
Wetterau. Nach deutſchem Fürſtenbrauche bewieſen ſie ihre Selbſtändigkeit
durch beſtändige Händel mit den Stammesvettern und hielten als glau-
bensſtarke Lutheraner immer zu Oeſterreich, während Kaſſel ſich dem
reformirten Bekenntniß näherte und mit Schweden, nachher mit Preußen
verbündet war; der reformirten Marburger Hochſchule trat das lutheriſche
Gießen entgegen. Nachher wurde die Grafſchaft Hanau-Lichtenberg er-
worben, und bereits begann ſich der Schwerpunkt des Territoriums nach
dem linken Rheinufer hinüberzuſchieben: der Hof wohnte mit Vorliebe
in dem ſchönen Schloſſe von Buchsweiler und ſchuf ſich in Pirmaſenz
ein ſüddeutſches Potsdam für ſeine weltberühmte Rieſengarde. Selbſt
die Freundin Friedrichs des Großen, „die große Landgräfin“ Karoline
Henriette vermochte die geiſtloſe Langeweile aus dieſem Lande der Sol-
datenſpielerei nicht zu verbannen; auch der Miniſter Karl Friedrich von
Moſer mußte aus ſeiner ſchimpflichen Entlaſſung lernen, daß hier kein
Raum war für einen Feuergeiſt, der „den Deutſchen die Hundedemuth ab-
gewöhnen wollte“. Nur durch Merk und ſeinen Freundeskreis unterhielt
das ſtille Darmſtadt einigen Verkehr mit der neuen deutſchen Bildung.
Während der Revolutionskriege gingen die überrheiniſchen Beſitzungen
wieder verloren, und die Dynaſtie empfing zur Entſchädigung unter An-
derem das weit entlegene Herzogthum Weſtphalen. Nach Napoleons
Sturz wurde auch dieſe unnatürliche Erwerbung wieder aufgegeben und
dafür der ſchmale linksrheiniſche Uferſaum von Worms bis Bingen ein-
getauſcht. So erhielt das neue Großherzogthum erſt durch die Wiener
Verträge, ſpäter als die anderen oberdeutſchen Staaten, ſeinen politiſchen
Charakter; die Kämpfe zwiſchen dem linken und dem rechten Ufer machten
fortan ſeine Geſchichte aus.

Bis auf einige weſtphäliſche Gebietstheile war das ganze Land ſüd-
deutſch, fränkiſch; die Grenze zwiſchen nord- und ſüddeutſcher Sitte lief
ſeit alten Zeiten quer durch das obere Lahnthal zwiſchen Gießen und
Marburg. Aber welche Gegenſätze innerhalb dieſer Bruchſtücke des frän-
kiſchen Stammes. Von den beiden rechtsrheiniſchen Provinzen war Ober-

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[379/0393] Heſſen-Darmſtadt. wer über die Darmſtädter Grenze zur Stadt hinausgeſchoben wurde, zog nach einem kurzen Spaziergange durch Homburg oder Naſſau fröhlich zu einem anderen Thore wieder ein. Im Odenwald lag gar ein badiſch- heſſiſches Condominat, deſſen Grenzen ſich immer von Neuem veränderten ſobald ein Bauer eine Parcelle verkaufte. Und dieſe Zierden der deutſchen Landkarte waren nicht wie die ebenſo zerhackten Gebietstrümmer Thü- ringens ein Vermächtniß des heiligen Reichs, ſondern ein Werk der aller- neueſten deutſchen Politik. In den zwei Jahrhunderten ſeit ihrer Trennung von dem Hauptzweige hatte die jüngere Linie des heſſiſchen Hauſes ihren Beſitzſtand ſehr häufig verändert. Die Darmſtädter Landgrafen geboten anfangs nur über die obere Grafſchaft Katzenellenbogen am Odenwalde und einige Striche der Wetterau. Nach deutſchem Fürſtenbrauche bewieſen ſie ihre Selbſtändigkeit durch beſtändige Händel mit den Stammesvettern und hielten als glau- bensſtarke Lutheraner immer zu Oeſterreich, während Kaſſel ſich dem reformirten Bekenntniß näherte und mit Schweden, nachher mit Preußen verbündet war; der reformirten Marburger Hochſchule trat das lutheriſche Gießen entgegen. Nachher wurde die Grafſchaft Hanau-Lichtenberg er- worben, und bereits begann ſich der Schwerpunkt des Territoriums nach dem linken Rheinufer hinüberzuſchieben: der Hof wohnte mit Vorliebe in dem ſchönen Schloſſe von Buchsweiler und ſchuf ſich in Pirmaſenz ein ſüddeutſches Potsdam für ſeine weltberühmte Rieſengarde. Selbſt die Freundin Friedrichs des Großen, „die große Landgräfin“ Karoline Henriette vermochte die geiſtloſe Langeweile aus dieſem Lande der Sol- datenſpielerei nicht zu verbannen; auch der Miniſter Karl Friedrich von Moſer mußte aus ſeiner ſchimpflichen Entlaſſung lernen, daß hier kein Raum war für einen Feuergeiſt, der „den Deutſchen die Hundedemuth ab- gewöhnen wollte“. Nur durch Merk und ſeinen Freundeskreis unterhielt das ſtille Darmſtadt einigen Verkehr mit der neuen deutſchen Bildung. Während der Revolutionskriege gingen die überrheiniſchen Beſitzungen wieder verloren, und die Dynaſtie empfing zur Entſchädigung unter An- derem das weit entlegene Herzogthum Weſtphalen. Nach Napoleons Sturz wurde auch dieſe unnatürliche Erwerbung wieder aufgegeben und dafür der ſchmale linksrheiniſche Uferſaum von Worms bis Bingen ein- getauſcht. So erhielt das neue Großherzogthum erſt durch die Wiener Verträge, ſpäter als die anderen oberdeutſchen Staaten, ſeinen politiſchen Charakter; die Kämpfe zwiſchen dem linken und dem rechten Ufer machten fortan ſeine Geſchichte aus. Bis auf einige weſtphäliſche Gebietstheile war das ganze Land ſüd- deutſch, fränkiſch; die Grenze zwiſchen nord- und ſüddeutſcher Sitte lief ſeit alten Zeiten quer durch das obere Lahnthal zwiſchen Gießen und Marburg. Aber welche Gegenſätze innerhalb dieſer Bruchſtücke des frän- kiſchen Stammes. Von den beiden rechtsrheiniſchen Provinzen war Ober-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/393>, abgerufen am 22.11.2024.