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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 6. Süddeutsche Berfassungskämpfe.
Landstraße konnte der Wanderer die numerirten Obstbäume bewundern,
und am Eingange eines breiten Feldwegs begrüßte ihn zuweilen die In-
schrift: "Dieser Weg ist erlaubt." An bestimmten Terminen hielt der Amt-
mann den berüchtigten "Unzuchtstag" zur Abstrafung aller der Schwanger-
schaft verdächtigen Mädchen, und für die abgeschaffte Tortur wußte er sich
genügenden Ersatz zu schaffen, indem er jeden Angeklagten, der im Verhör
eine Unwahrheit sagte, von Rechtswegen ausprügeln ließ. Und bei all
ihrer Vielgeschäftigkeit zeigten sich diese kleinen Despoten gewissenlos,
saumselig im Dienst seit sie das Auge "des Herrn" -- so hieß der Groß-
herzog schlechtweg -- nicht mehr zu fürchten hatten. Die Finanzen ge-
riethen bald in arge Bedrängniß, durch die Kriegsnöthe und durch die
Schuld der leichtfertigen Verwaltung; für das Jahr 1816 berechnete man
ein Deficit von 1,1 Mill. Fl. In den letzten Jahren des napoleonischen
Zeitalters wurde durch zwei treffliche junge Finanzmänner, Böckh und
Nebenius, ein gleichmäßiges Steuersystem eingeführt, das sich späterhin
gut bewährte und im Wesentlichen noch heute besteht; doch Jahre ver-
gingen, bis sich das Volk an die neuen Lasten gewöhnte. Die Mißstim-
mung stieg unaufhaltsam; überall erklang der Ruf: nur ein Landtag
könne den Sultanismus dieses Beamtenthums noch in Schranken halten.
Den Mediatisirten und den Reichsrittern war sogar die grundherrliche
Gerichtsbarkeit, den Verheißungen der Rheinbundsakte zuwider, genom-
men worden; sie äußerten ihren Groll mit der höchsten Erbitterung und
verhehlten nicht, daß sie an die Zukunft dieses Staates von gestern nicht
mehr glaubten. Das Werk Karl Friedrichs krachte in allen Fugen, und
zu den inneren Nöthen gesellte sich noch die Bedrängniß von außen:
die Begehrlichkeit der Wittelsbacher. Sie mußte den Großherzog um so
tiefer verletzen, da König Max Joseph seine pfälzischen Pläne immer nur
den großen Mächten vortrug und den Schwager in Karlsruhe nicht ein-
mal einer Nachricht würdigte.

Der Münchener Hof stützte seine vorgeblichen Ansprüche nicht blos
auf die Versprechungen des Rieder Vertrags, sondern auch auf die Be-
hauptung, daß die Dynastie der Zähringer dem Erlöschen nahe sei. Mark-
graf Karl Friedrich hatte nämlich im hohen Alter eine zweite Heirath
mit der Freiin von Geyersberg, die er zur Gräfin von Hochberg erhob,
geschlossen und gleich bei der Hochzeit den Sprößlingen dieser Ehe das
Thronfolgerecht ausdrücklich vorbehalten für den Fall des Aussterbens
seiner übrigen Nachkommen. Da die sämmtlichen Agnaten diesen Vor-
behalt anerkannten und andere Anwärter nicht vorhanden waren, so
ließ sich der Anspruch der Grafen von Hochberg auf die Thronfolge
nicht bestreiten; überdies war das Haus Baden seit dem Untergange
des Reichs souverän und mithin befugt seine Hausgesetze selbständig zu
ordnen. Aber das Capitel von der Ebenbürtigkeit gehört bekanntlich zu den
jedem menschlichen Scharfsinne unlösbaren Controversen, woran das

II. 6. Süddeutſche Berfaſſungskämpfe.
Landſtraße konnte der Wanderer die numerirten Obſtbäume bewundern,
und am Eingange eines breiten Feldwegs begrüßte ihn zuweilen die In-
ſchrift: „Dieſer Weg iſt erlaubt.“ An beſtimmten Terminen hielt der Amt-
mann den berüchtigten „Unzuchtstag“ zur Abſtrafung aller der Schwanger-
ſchaft verdächtigen Mädchen, und für die abgeſchaffte Tortur wußte er ſich
genügenden Erſatz zu ſchaffen, indem er jeden Angeklagten, der im Verhör
eine Unwahrheit ſagte, von Rechtswegen ausprügeln ließ. Und bei all
ihrer Vielgeſchäftigkeit zeigten ſich dieſe kleinen Despoten gewiſſenlos,
ſaumſelig im Dienſt ſeit ſie das Auge „des Herrn“ — ſo hieß der Groß-
herzog ſchlechtweg — nicht mehr zu fürchten hatten. Die Finanzen ge-
riethen bald in arge Bedrängniß, durch die Kriegsnöthe und durch die
Schuld der leichtfertigen Verwaltung; für das Jahr 1816 berechnete man
ein Deficit von 1,1 Mill. Fl. In den letzten Jahren des napoleoniſchen
Zeitalters wurde durch zwei treffliche junge Finanzmänner, Böckh und
Nebenius, ein gleichmäßiges Steuerſyſtem eingeführt, das ſich ſpäterhin
gut bewährte und im Weſentlichen noch heute beſteht; doch Jahre ver-
gingen, bis ſich das Volk an die neuen Laſten gewöhnte. Die Mißſtim-
mung ſtieg unaufhaltſam; überall erklang der Ruf: nur ein Landtag
könne den Sultanismus dieſes Beamtenthums noch in Schranken halten.
Den Mediatiſirten und den Reichsrittern war ſogar die grundherrliche
Gerichtsbarkeit, den Verheißungen der Rheinbundsakte zuwider, genom-
men worden; ſie äußerten ihren Groll mit der höchſten Erbitterung und
verhehlten nicht, daß ſie an die Zukunft dieſes Staates von geſtern nicht
mehr glaubten. Das Werk Karl Friedrichs krachte in allen Fugen, und
zu den inneren Nöthen geſellte ſich noch die Bedrängniß von außen:
die Begehrlichkeit der Wittelsbacher. Sie mußte den Großherzog um ſo
tiefer verletzen, da König Max Joſeph ſeine pfälziſchen Pläne immer nur
den großen Mächten vortrug und den Schwager in Karlsruhe nicht ein-
mal einer Nachricht würdigte.

Der Münchener Hof ſtützte ſeine vorgeblichen Anſprüche nicht blos
auf die Verſprechungen des Rieder Vertrags, ſondern auch auf die Be-
hauptung, daß die Dynaſtie der Zähringer dem Erlöſchen nahe ſei. Mark-
graf Karl Friedrich hatte nämlich im hohen Alter eine zweite Heirath
mit der Freiin von Geyersberg, die er zur Gräfin von Hochberg erhob,
geſchloſſen und gleich bei der Hochzeit den Sprößlingen dieſer Ehe das
Thronfolgerecht ausdrücklich vorbehalten für den Fall des Ausſterbens
ſeiner übrigen Nachkommen. Da die ſämmtlichen Agnaten dieſen Vor-
behalt anerkannten und andere Anwärter nicht vorhanden waren, ſo
ließ ſich der Anſpruch der Grafen von Hochberg auf die Thronfolge
nicht beſtreiten; überdies war das Haus Baden ſeit dem Untergange
des Reichs ſouverän und mithin befugt ſeine Hausgeſetze ſelbſtändig zu
ordnen. Aber das Capitel von der Ebenbürtigkeit gehört bekanntlich zu den
jedem menſchlichen Scharfſinne unlösbaren Controverſen, woran das

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[360/0374] II. 6. Süddeutſche Berfaſſungskämpfe. Landſtraße konnte der Wanderer die numerirten Obſtbäume bewundern, und am Eingange eines breiten Feldwegs begrüßte ihn zuweilen die In- ſchrift: „Dieſer Weg iſt erlaubt.“ An beſtimmten Terminen hielt der Amt- mann den berüchtigten „Unzuchtstag“ zur Abſtrafung aller der Schwanger- ſchaft verdächtigen Mädchen, und für die abgeſchaffte Tortur wußte er ſich genügenden Erſatz zu ſchaffen, indem er jeden Angeklagten, der im Verhör eine Unwahrheit ſagte, von Rechtswegen ausprügeln ließ. Und bei all ihrer Vielgeſchäftigkeit zeigten ſich dieſe kleinen Despoten gewiſſenlos, ſaumſelig im Dienſt ſeit ſie das Auge „des Herrn“ — ſo hieß der Groß- herzog ſchlechtweg — nicht mehr zu fürchten hatten. Die Finanzen ge- riethen bald in arge Bedrängniß, durch die Kriegsnöthe und durch die Schuld der leichtfertigen Verwaltung; für das Jahr 1816 berechnete man ein Deficit von 1,1 Mill. Fl. In den letzten Jahren des napoleoniſchen Zeitalters wurde durch zwei treffliche junge Finanzmänner, Böckh und Nebenius, ein gleichmäßiges Steuerſyſtem eingeführt, das ſich ſpäterhin gut bewährte und im Weſentlichen noch heute beſteht; doch Jahre ver- gingen, bis ſich das Volk an die neuen Laſten gewöhnte. Die Mißſtim- mung ſtieg unaufhaltſam; überall erklang der Ruf: nur ein Landtag könne den Sultanismus dieſes Beamtenthums noch in Schranken halten. Den Mediatiſirten und den Reichsrittern war ſogar die grundherrliche Gerichtsbarkeit, den Verheißungen der Rheinbundsakte zuwider, genom- men worden; ſie äußerten ihren Groll mit der höchſten Erbitterung und verhehlten nicht, daß ſie an die Zukunft dieſes Staates von geſtern nicht mehr glaubten. Das Werk Karl Friedrichs krachte in allen Fugen, und zu den inneren Nöthen geſellte ſich noch die Bedrängniß von außen: die Begehrlichkeit der Wittelsbacher. Sie mußte den Großherzog um ſo tiefer verletzen, da König Max Joſeph ſeine pfälziſchen Pläne immer nur den großen Mächten vortrug und den Schwager in Karlsruhe nicht ein- mal einer Nachricht würdigte. Der Münchener Hof ſtützte ſeine vorgeblichen Anſprüche nicht blos auf die Verſprechungen des Rieder Vertrags, ſondern auch auf die Be- hauptung, daß die Dynaſtie der Zähringer dem Erlöſchen nahe ſei. Mark- graf Karl Friedrich hatte nämlich im hohen Alter eine zweite Heirath mit der Freiin von Geyersberg, die er zur Gräfin von Hochberg erhob, geſchloſſen und gleich bei der Hochzeit den Sprößlingen dieſer Ehe das Thronfolgerecht ausdrücklich vorbehalten für den Fall des Ausſterbens ſeiner übrigen Nachkommen. Da die ſämmtlichen Agnaten dieſen Vor- behalt anerkannten und andere Anwärter nicht vorhanden waren, ſo ließ ſich der Anſpruch der Grafen von Hochberg auf die Thronfolge nicht beſtreiten; überdies war das Haus Baden ſeit dem Untergange des Reichs ſouverän und mithin befugt ſeine Hausgeſetze ſelbſtändig zu ordnen. Aber das Capitel von der Ebenbürtigkeit gehört bekanntlich zu den jedem menſchlichen Scharfſinne unlösbaren Controverſen, woran das

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/374>, abgerufen am 22.11.2024.