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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 6. Süddeutsche Verfassungskämpfe.
lischer Gebiete gelangt und standen den neuen Aufgaben, die sich hier
ergaben, noch ziemlich rathlos gegenüber. Sie wußten wohl, daß die
altprotestantische Kirchengewalt der Landesherren unter den neuen Ver-
hältnissen sich nicht mehr halten ließ, und waren ehrlich gewillt der rö-
mischen Kirche etwas größere Freiheit als bisher zu gewähren; jedoch sie
hegten noch immer sehr überspannte Begriffe von den Rechten der Staats-
gewalt, eine Selbsttäuschung, welche Hardenberg nicht theilte. Daher
erhielt Niebuhr schon von Paris aus die Weisung, daß er bestimmt sei
für Preußen allein mit Rom zu verhandeln und vor Allem die Wieder-
herstellung der unentbehrlichen Landesbisthümer herbeizuführen.

Nur Heinrich von Wessenberg gab den Gedanken einer deutschen
Nationalkirche, den er auf dem Wiener Congreß so nachdrücklich vertreten
hatte, auch jetzt noch nicht auf. Bei den Höfen galt der vielgeschäftige
Constanzer Generalvicar zugleich als ein willkommener Bundesgenosse
und als ein lästiger Störenfried; denn sie wünschten gleich ihm die
Macht des Papstes über die deutschen Prälaten möglichst zu beschränken,
aber der Kern seiner Pläne konnte nüchternen Staatsmännern nur als ein
unmöglicher Anachronismus erscheinen. Wessenberg verkannte, wie gründlich
der politische Charakter der katholischen Kirche Deutschlands durch die
Secularisationen und die Beseitigung der adlichen Pfründen sich ver-
ändert hatte. Er träumte von einem deutschen Kirchenstaate, der unter
dem Schutze des Bundes, geleitet von einem Fürsten-Primas, wohlaus-
gerüstet mit adlichen Prälaten, National- und Diöcesan-Synoden, dem
Papstthum wie den Landesherren gleich unabhängig gegenüberstehen sollte.
Und diese aristokratische Kirchenverfassung nannte er mit naiver Anmaßung
"die deutsche Kirche", obgleich die große Mehrheit der Deutschen außer-
halb Oesterreichs dem Protestantismus angehörte. Von Landesbisthümern,
deren die moderne Staatseinheit doch nicht entrathen konnte, wollte er
nichts hören; seine vornehmen Bischöfe sollten in mehreren Staatsgebie-
ten zugleich ihre geistliche Gewalt ausüben. Welch eine Aussicht auf
ewigen Streit zwischen dem Papste, dem Primas, dem Bundestage, den
Einzelstaaten und diesen halbsouveränen, keiner Landeshoheit ausschließ-
lich unterworfenen Bischöfen!

Und woher sollte ein deutscher Primas jetzt noch die seiner Würde
unentbehrliche landesfürstliche Selbständigkeit gewinnen? Dalberg selbst,
der Fürstprimas des Rheinbunds, hatte den patriotischen Entwürfen
seines Freundes Wessenberg bereits den Boden unter den Füßen hinweg-
gezogen, als er im Oktober 1813 zu Gunsten Eugen Beauharnais' auf
das Großherzogthum Frankfurt verzichtete. Der Unwille der Verbün-
deten wider den bonapartistischen Kirchenfürsten ward durch diesen schimpf-
lichen politischen Selbstmord nur verstärkt und milderte sich auch nicht,
als der wetterwendische Enthusiast schon im nächsten Jahre wieder um-
schlug und dem rächenden Erzengel Europas, dem Czaren Alexander

II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
liſcher Gebiete gelangt und ſtanden den neuen Aufgaben, die ſich hier
ergaben, noch ziemlich rathlos gegenüber. Sie wußten wohl, daß die
altproteſtantiſche Kirchengewalt der Landesherren unter den neuen Ver-
hältniſſen ſich nicht mehr halten ließ, und waren ehrlich gewillt der rö-
miſchen Kirche etwas größere Freiheit als bisher zu gewähren; jedoch ſie
hegten noch immer ſehr überſpannte Begriffe von den Rechten der Staats-
gewalt, eine Selbſttäuſchung, welche Hardenberg nicht theilte. Daher
erhielt Niebuhr ſchon von Paris aus die Weiſung, daß er beſtimmt ſei
für Preußen allein mit Rom zu verhandeln und vor Allem die Wieder-
herſtellung der unentbehrlichen Landesbisthümer herbeizuführen.

Nur Heinrich von Weſſenberg gab den Gedanken einer deutſchen
Nationalkirche, den er auf dem Wiener Congreß ſo nachdrücklich vertreten
hatte, auch jetzt noch nicht auf. Bei den Höfen galt der vielgeſchäftige
Conſtanzer Generalvicar zugleich als ein willkommener Bundesgenoſſe
und als ein läſtiger Störenfried; denn ſie wünſchten gleich ihm die
Macht des Papſtes über die deutſchen Prälaten möglichſt zu beſchränken,
aber der Kern ſeiner Pläne konnte nüchternen Staatsmännern nur als ein
unmöglicher Anachronismus erſcheinen. Weſſenberg verkannte, wie gründlich
der politiſche Charakter der katholiſchen Kirche Deutſchlands durch die
Seculariſationen und die Beſeitigung der adlichen Pfründen ſich ver-
ändert hatte. Er träumte von einem deutſchen Kirchenſtaate, der unter
dem Schutze des Bundes, geleitet von einem Fürſten-Primas, wohlaus-
gerüſtet mit adlichen Prälaten, National- und Diöceſan-Synoden, dem
Papſtthum wie den Landesherren gleich unabhängig gegenüberſtehen ſollte.
Und dieſe ariſtokratiſche Kirchenverfaſſung nannte er mit naiver Anmaßung
„die deutſche Kirche“, obgleich die große Mehrheit der Deutſchen außer-
halb Oeſterreichs dem Proteſtantismus angehörte. Von Landesbisthümern,
deren die moderne Staatseinheit doch nicht entrathen konnte, wollte er
nichts hören; ſeine vornehmen Biſchöfe ſollten in mehreren Staatsgebie-
ten zugleich ihre geiſtliche Gewalt ausüben. Welch eine Ausſicht auf
ewigen Streit zwiſchen dem Papſte, dem Primas, dem Bundestage, den
Einzelſtaaten und dieſen halbſouveränen, keiner Landeshoheit ausſchließ-
lich unterworfenen Biſchöfen!

Und woher ſollte ein deutſcher Primas jetzt noch die ſeiner Würde
unentbehrliche landesfürſtliche Selbſtändigkeit gewinnen? Dalberg ſelbſt,
der Fürſtprimas des Rheinbunds, hatte den patriotiſchen Entwürfen
ſeines Freundes Weſſenberg bereits den Boden unter den Füßen hinweg-
gezogen, als er im Oktober 1813 zu Gunſten Eugen Beauharnais’ auf
das Großherzogthum Frankfurt verzichtete. Der Unwille der Verbün-
deten wider den bonapartiſtiſchen Kirchenfürſten ward durch dieſen ſchimpf-
lichen politiſchen Selbſtmord nur verſtärkt und milderte ſich auch nicht,
als der wetterwendiſche Enthuſiaſt ſchon im nächſten Jahre wieder um-
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[344/0358] II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe. liſcher Gebiete gelangt und ſtanden den neuen Aufgaben, die ſich hier ergaben, noch ziemlich rathlos gegenüber. Sie wußten wohl, daß die altproteſtantiſche Kirchengewalt der Landesherren unter den neuen Ver- hältniſſen ſich nicht mehr halten ließ, und waren ehrlich gewillt der rö- miſchen Kirche etwas größere Freiheit als bisher zu gewähren; jedoch ſie hegten noch immer ſehr überſpannte Begriffe von den Rechten der Staats- gewalt, eine Selbſttäuſchung, welche Hardenberg nicht theilte. Daher erhielt Niebuhr ſchon von Paris aus die Weiſung, daß er beſtimmt ſei für Preußen allein mit Rom zu verhandeln und vor Allem die Wieder- herſtellung der unentbehrlichen Landesbisthümer herbeizuführen. Nur Heinrich von Weſſenberg gab den Gedanken einer deutſchen Nationalkirche, den er auf dem Wiener Congreß ſo nachdrücklich vertreten hatte, auch jetzt noch nicht auf. Bei den Höfen galt der vielgeſchäftige Conſtanzer Generalvicar zugleich als ein willkommener Bundesgenoſſe und als ein läſtiger Störenfried; denn ſie wünſchten gleich ihm die Macht des Papſtes über die deutſchen Prälaten möglichſt zu beſchränken, aber der Kern ſeiner Pläne konnte nüchternen Staatsmännern nur als ein unmöglicher Anachronismus erſcheinen. Weſſenberg verkannte, wie gründlich der politiſche Charakter der katholiſchen Kirche Deutſchlands durch die Seculariſationen und die Beſeitigung der adlichen Pfründen ſich ver- ändert hatte. Er träumte von einem deutſchen Kirchenſtaate, der unter dem Schutze des Bundes, geleitet von einem Fürſten-Primas, wohlaus- gerüſtet mit adlichen Prälaten, National- und Diöceſan-Synoden, dem Papſtthum wie den Landesherren gleich unabhängig gegenüberſtehen ſollte. Und dieſe ariſtokratiſche Kirchenverfaſſung nannte er mit naiver Anmaßung „die deutſche Kirche“, obgleich die große Mehrheit der Deutſchen außer- halb Oeſterreichs dem Proteſtantismus angehörte. Von Landesbisthümern, deren die moderne Staatseinheit doch nicht entrathen konnte, wollte er nichts hören; ſeine vornehmen Biſchöfe ſollten in mehreren Staatsgebie- ten zugleich ihre geiſtliche Gewalt ausüben. Welch eine Ausſicht auf ewigen Streit zwiſchen dem Papſte, dem Primas, dem Bundestage, den Einzelſtaaten und dieſen halbſouveränen, keiner Landeshoheit ausſchließ- lich unterworfenen Biſchöfen! Und woher ſollte ein deutſcher Primas jetzt noch die ſeiner Würde unentbehrliche landesfürſtliche Selbſtändigkeit gewinnen? Dalberg ſelbſt, der Fürſtprimas des Rheinbunds, hatte den patriotiſchen Entwürfen ſeines Freundes Weſſenberg bereits den Boden unter den Füßen hinweg- gezogen, als er im Oktober 1813 zu Gunſten Eugen Beauharnais’ auf das Großherzogthum Frankfurt verzichtete. Der Unwille der Verbün- deten wider den bonapartiſtiſchen Kirchenfürſten ward durch dieſen ſchimpf- lichen politiſchen Selbſtmord nur verſtärkt und milderte ſich auch nicht, als der wetterwendiſche Enthuſiaſt ſchon im nächſten Jahre wieder um- ſchlug und dem rächenden Erzengel Europas, dem Czaren Alexander

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/358>, abgerufen am 25.11.2024.