"sehnsuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen" nannte; ihnen fehlte, trotz ihrer geistreichen Einfälle und großen Absichten, gänzlich die Gabe der Architektonik, die aufbauende und überzeugende Kraft des schöpfe- rischen Genius. Obgleich sie sich vermaßen das classische Ideal durch eine volksthümliche Dichtung zu verdrängen, so blieben ihre Werke doch dem Volke fremd, das Eigenthum eines kleinen Kreises bewundernder Kenner. Die Kunst galt ihnen als ein Zaubertrank, der, dem Philister ungenieß- bar, allein den Gottbegnadeten berauschte, so daß der Trunkene der Wirk- lichkeit vergaß und das Leben wie ein tolles Maskenspiel belächelte. Diese souveräne Ironie, die sich rühmte "den Scherz als Ernst zu treiben, Ernst als Spaß nur zu behandeln," widerte den gesunden Sinn der Menge an; denn das Volk will im Gewissen gepackt sein und läßt mit seinen Gefühlen nicht spielen.
Unter den älteren deutschen Dramatikern ließen die romantischen Kunstrichter eigentlich nur Goethe gelten, und er hatte bei seinen reifsten Werken an die Bühne kaum gedacht; die stille, sinnige Schönheit der Iphigenie und des Tasso war nur der Andacht des Lesers völlig faßbar, sie konnte durch die Aufführung wenig gewinnen. Lessing wurde gar nicht mehr zu den Dichtern gerechnet, Schillers tragische Leidenschaft als hohle Rhetorik verspottet; auch der einzige geniale Dramatiker, der den roman- tischen Anschauungen nahe stand, Heinrich von Kleist, blieb von der Kritik der Schule lange unbeachtet. Nun gar die beiden wirksamsten Bühnen- schriftsteller der Zeit, die noch ein Jahrzehnt nach ihrem Tode das Theater beherrschten, Iffland und Kotzebue, überschüttete der romantische Hoch- muth mit einer ungerechten Geringschätzung, welche die jungen Talente von der Bühne zurückschrecken mußte. Man wollte an Jenem nur die ehrbare spießbürgerliche Empfindsamkeit, an Diesem nur die Plattheit und die gemeine Gesinnung bemerken, doch weder ihr ungemeines technisches Talent, noch die glückliche Gabe der leichten Erfindung, wodurch sie Beide ihre dünkelhaften Tadler beschämten. Von den dramatischen Versuchen der eigentlichen Romantiker traten nur wenige vor die Lampen und sie bestanden allesammt die Probe auf den Brettern schlecht. Die Führer der Schule kehrten bald der Bühne den Rücken, sprachen mit Hohn von der gemeinen Prosa des theatralischen Erfolgs. Ganz unbekümmert um die Lebensbedingungen des modernen Theaters, das an fünf oder sieben Abenden der Woche eine von des Lebens Plagen ermüdete Hörerschaft befriedigen sollte, baute sich die dramaturgische Theorie ihre stolzen Wol- kengebilde und stellte überspannte Anforderungen, denen sogar die festliche Bühne der Hellenen nicht hätte genügen können.
So vertraulich wie einst Shakespeare oder Moliere hatten selbst die Heroen unserer classischen Dichtung niemals zu der Bühne gestanden. Jetzt aber ward der persönliche Verkehr zwischen Dichtern und Schau- spielern immer seltener. Die dramatische Kunst vergaß, daß sie vor allen
Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 2
Dramatiſche Dichtung.
„ſehnſuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen“ nannte; ihnen fehlte, trotz ihrer geiſtreichen Einfälle und großen Abſichten, gänzlich die Gabe der Architektonik, die aufbauende und überzeugende Kraft des ſchöpfe- riſchen Genius. Obgleich ſie ſich vermaßen das claſſiſche Ideal durch eine volksthümliche Dichtung zu verdrängen, ſo blieben ihre Werke doch dem Volke fremd, das Eigenthum eines kleinen Kreiſes bewundernder Kenner. Die Kunſt galt ihnen als ein Zaubertrank, der, dem Philiſter ungenieß- bar, allein den Gottbegnadeten berauſchte, ſo daß der Trunkene der Wirk- lichkeit vergaß und das Leben wie ein tolles Maskenſpiel belächelte. Dieſe ſouveräne Ironie, die ſich rühmte „den Scherz als Ernſt zu treiben, Ernſt als Spaß nur zu behandeln,“ widerte den geſunden Sinn der Menge an; denn das Volk will im Gewiſſen gepackt ſein und läßt mit ſeinen Gefühlen nicht ſpielen.
Unter den älteren deutſchen Dramatikern ließen die romantiſchen Kunſtrichter eigentlich nur Goethe gelten, und er hatte bei ſeinen reifſten Werken an die Bühne kaum gedacht; die ſtille, ſinnige Schönheit der Iphigenie und des Taſſo war nur der Andacht des Leſers völlig faßbar, ſie konnte durch die Aufführung wenig gewinnen. Leſſing wurde gar nicht mehr zu den Dichtern gerechnet, Schillers tragiſche Leidenſchaft als hohle Rhetorik verſpottet; auch der einzige geniale Dramatiker, der den roman- tiſchen Anſchauungen nahe ſtand, Heinrich von Kleiſt, blieb von der Kritik der Schule lange unbeachtet. Nun gar die beiden wirkſamſten Bühnen- ſchriftſteller der Zeit, die noch ein Jahrzehnt nach ihrem Tode das Theater beherrſchten, Iffland und Kotzebue, überſchüttete der romantiſche Hoch- muth mit einer ungerechten Geringſchätzung, welche die jungen Talente von der Bühne zurückſchrecken mußte. Man wollte an Jenem nur die ehrbare ſpießbürgerliche Empfindſamkeit, an Dieſem nur die Plattheit und die gemeine Geſinnung bemerken, doch weder ihr ungemeines techniſches Talent, noch die glückliche Gabe der leichten Erfindung, wodurch ſie Beide ihre dünkelhaften Tadler beſchämten. Von den dramatiſchen Verſuchen der eigentlichen Romantiker traten nur wenige vor die Lampen und ſie beſtanden alleſammt die Probe auf den Brettern ſchlecht. Die Führer der Schule kehrten bald der Bühne den Rücken, ſprachen mit Hohn von der gemeinen Proſa des theatraliſchen Erfolgs. Ganz unbekümmert um die Lebensbedingungen des modernen Theaters, das an fünf oder ſieben Abenden der Woche eine von des Lebens Plagen ermüdete Hörerſchaft befriedigen ſollte, baute ſich die dramaturgiſche Theorie ihre ſtolzen Wol- kengebilde und ſtellte überſpannte Anforderungen, denen ſogar die feſtliche Bühne der Hellenen nicht hätte genügen können.
So vertraulich wie einſt Shakeſpeare oder Moliere hatten ſelbſt die Heroen unſerer claſſiſchen Dichtung niemals zu der Bühne geſtanden. Jetzt aber ward der perſönliche Verkehr zwiſchen Dichtern und Schau- ſpielern immer ſeltener. Die dramatiſche Kunſt vergaß, daß ſie vor allen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 2
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[17/0031]
Dramatiſche Dichtung.
„ſehnſuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen“ nannte; ihnen
fehlte, trotz ihrer geiſtreichen Einfälle und großen Abſichten, gänzlich die
Gabe der Architektonik, die aufbauende und überzeugende Kraft des ſchöpfe-
riſchen Genius. Obgleich ſie ſich vermaßen das claſſiſche Ideal durch eine
volksthümliche Dichtung zu verdrängen, ſo blieben ihre Werke doch dem
Volke fremd, das Eigenthum eines kleinen Kreiſes bewundernder Kenner.
Die Kunſt galt ihnen als ein Zaubertrank, der, dem Philiſter ungenieß-
bar, allein den Gottbegnadeten berauſchte, ſo daß der Trunkene der Wirk-
lichkeit vergaß und das Leben wie ein tolles Maskenſpiel belächelte. Dieſe
ſouveräne Ironie, die ſich rühmte „den Scherz als Ernſt zu treiben,
Ernſt als Spaß nur zu behandeln,“ widerte den geſunden Sinn der
Menge an; denn das Volk will im Gewiſſen gepackt ſein und läßt mit
ſeinen Gefühlen nicht ſpielen.
Unter den älteren deutſchen Dramatikern ließen die romantiſchen
Kunſtrichter eigentlich nur Goethe gelten, und er hatte bei ſeinen reifſten
Werken an die Bühne kaum gedacht; die ſtille, ſinnige Schönheit der
Iphigenie und des Taſſo war nur der Andacht des Leſers völlig faßbar,
ſie konnte durch die Aufführung wenig gewinnen. Leſſing wurde gar nicht
mehr zu den Dichtern gerechnet, Schillers tragiſche Leidenſchaft als hohle
Rhetorik verſpottet; auch der einzige geniale Dramatiker, der den roman-
tiſchen Anſchauungen nahe ſtand, Heinrich von Kleiſt, blieb von der Kritik
der Schule lange unbeachtet. Nun gar die beiden wirkſamſten Bühnen-
ſchriftſteller der Zeit, die noch ein Jahrzehnt nach ihrem Tode das Theater
beherrſchten, Iffland und Kotzebue, überſchüttete der romantiſche Hoch-
muth mit einer ungerechten Geringſchätzung, welche die jungen Talente
von der Bühne zurückſchrecken mußte. Man wollte an Jenem nur die
ehrbare ſpießbürgerliche Empfindſamkeit, an Dieſem nur die Plattheit und
die gemeine Geſinnung bemerken, doch weder ihr ungemeines techniſches
Talent, noch die glückliche Gabe der leichten Erfindung, wodurch ſie Beide
ihre dünkelhaften Tadler beſchämten. Von den dramatiſchen Verſuchen
der eigentlichen Romantiker traten nur wenige vor die Lampen und ſie
beſtanden alleſammt die Probe auf den Brettern ſchlecht. Die Führer
der Schule kehrten bald der Bühne den Rücken, ſprachen mit Hohn von
der gemeinen Proſa des theatraliſchen Erfolgs. Ganz unbekümmert um
die Lebensbedingungen des modernen Theaters, das an fünf oder ſieben
Abenden der Woche eine von des Lebens Plagen ermüdete Hörerſchaft
befriedigen ſollte, baute ſich die dramaturgiſche Theorie ihre ſtolzen Wol-
kengebilde und ſtellte überſpannte Anforderungen, denen ſogar die feſtliche
Bühne der Hellenen nicht hätte genügen können.
So vertraulich wie einſt Shakeſpeare oder Moliere hatten ſelbſt die
Heroen unſerer claſſiſchen Dichtung niemals zu der Bühne geſtanden.
Jetzt aber ward der perſönliche Verkehr zwiſchen Dichtern und Schau-
ſpielern immer ſeltener. Die dramatiſche Kunſt vergaß, daß ſie vor allen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 2
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/31>, abgerufen am 16.07.2024.
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