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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Die alten Provinzialstände.

Das Ständewesen der alten Provinzen erschien immerhin noch wohl
geordnet neben den chaotischen Zuständen der neu erworbenen Landes-
theile. Wie war Schwedisch-Pommern stolz auf "unsere alte Verfassung";
nur schade, daß Niemand wußte, was darunter zu verstehen sei. Die alte
Landschaft "der Kreise und Städte" Vorpommerns war schon 1806 durch
König Gustav IV. Adolf aufgehoben und an ihrer Statt die schwedische
Verfassung mit ihren vier Ständen eingeführt worden -- unter dem
Jubel der Bauern, die jetzt endlich eine Vertretung fanden. Vier Jahre
darauf brachte ein abermaliger Gewaltstreich der Krone Schweden eine
neue Verfassung, die aber niemals ins Leben trat. Der vorpommersche
Patriot konnte also nach Belieben für drei verschiedene vaterländische Ver-
fassungen sich begeistern. In der That gebärdeten sich "Kreise und Städte",
als sei gar nichts vorgefallen in diesen neun Jahren, sie traten als die
rechtmäßige Vertretung des Landes auf und bestürmten den König mit
ihren Beschwerden. Die Bauern und Pächter aber -- an ihrer Spitze
die beiden unermüdlichen Ludwig Arndt und Christ. Lüders -- verwahrten
sich dawider: sie hätten die Verfassung von 1806 beschworen, könnten nur
diese als zu Recht bestehend ansehen.*)

In Posen bestand noch ein Deputirtenrath, das will sagen: ein Ge-
neralrath im napoleonischen Stile. Da diese Versammlung von der War-
schauer Regierung ernannt war und überdies nur einen Bestandtheil des
aufgehobenen Präfektursystems bildete, so wurde sie von Preußen, mit
vollem Rechte, nicht als ein ständischer Körper angesehen und am 26. Aug.
1818 aufgehoben.

Eine unglaubliche Verwilderung ständischer Anarchie stellte sich in
Sachsen heraus -- ein Zustand, wovon Hardenberg offenbar gar nichts
ahnte, als er die Verordnung vom 22. Mai entwarf. Jeder der sieben
Theile des Herzogthums Sachsen besaß seine eigene Ständeversammlung,
und da das Stillleben des Junkerthums hier niemals durch die strenge
Hand eines starken Königthums gestört wurde, so schloß sich die ständische
Oligarchie durch peinliche Ahnenproben von dem Pöbel ab; noch unlängst
hatte König Friedrich August einen Grafen von jungem Adel zurückge-
wiesen von der heiligen Schwelle der Lausitzer Stände. Man hielt in
diesen Kreisen für selbstverständlich, daß den an Preußen gekommenen
Stücken der sächsischen Erblande noch alle die Rechte zuständen, welche der
Landtag des Königreichs Sachsen besessen, und verlangte sogar ein abge-
sondertes Staatsschuldenwesen zu behalten. Als der Staatskanzler in der
Niederlausitz, die jetzt nur noch einen Bruchtheil der neuen Provinz Bran-
denburg bildete, den alten Landtag vorderhand nicht einberufen wollte,
da erwiderten die Stände der Landschaft: "Der Inhalt dieser Verord-
nung, die mit wenigen inhaltsschweren Worten uns Alles nimmt, was

*) Eingabe vom 20. Juli 1816.
Die alten Provinzialſtände.

Das Ständeweſen der alten Provinzen erſchien immerhin noch wohl
geordnet neben den chaotiſchen Zuſtänden der neu erworbenen Landes-
theile. Wie war Schwediſch-Pommern ſtolz auf „unſere alte Verfaſſung“;
nur ſchade, daß Niemand wußte, was darunter zu verſtehen ſei. Die alte
Landſchaft „der Kreiſe und Städte“ Vorpommerns war ſchon 1806 durch
König Guſtav IV. Adolf aufgehoben und an ihrer Statt die ſchwediſche
Verfaſſung mit ihren vier Ständen eingeführt worden — unter dem
Jubel der Bauern, die jetzt endlich eine Vertretung fanden. Vier Jahre
darauf brachte ein abermaliger Gewaltſtreich der Krone Schweden eine
neue Verfaſſung, die aber niemals ins Leben trat. Der vorpommerſche
Patriot konnte alſo nach Belieben für drei verſchiedene vaterländiſche Ver-
faſſungen ſich begeiſtern. In der That gebärdeten ſich „Kreiſe und Städte“,
als ſei gar nichts vorgefallen in dieſen neun Jahren, ſie traten als die
rechtmäßige Vertretung des Landes auf und beſtürmten den König mit
ihren Beſchwerden. Die Bauern und Pächter aber — an ihrer Spitze
die beiden unermüdlichen Ludwig Arndt und Chriſt. Lüders — verwahrten
ſich dawider: ſie hätten die Verfaſſung von 1806 beſchworen, könnten nur
dieſe als zu Recht beſtehend anſehen.*)

In Poſen beſtand noch ein Deputirtenrath, das will ſagen: ein Ge-
neralrath im napoleoniſchen Stile. Da dieſe Verſammlung von der War-
ſchauer Regierung ernannt war und überdies nur einen Beſtandtheil des
aufgehobenen Präfekturſyſtems bildete, ſo wurde ſie von Preußen, mit
vollem Rechte, nicht als ein ſtändiſcher Körper angeſehen und am 26. Aug.
1818 aufgehoben.

Eine unglaubliche Verwilderung ſtändiſcher Anarchie ſtellte ſich in
Sachſen heraus — ein Zuſtand, wovon Hardenberg offenbar gar nichts
ahnte, als er die Verordnung vom 22. Mai entwarf. Jeder der ſieben
Theile des Herzogthums Sachſen beſaß ſeine eigene Ständeverſammlung,
und da das Stillleben des Junkerthums hier niemals durch die ſtrenge
Hand eines ſtarken Königthums geſtört wurde, ſo ſchloß ſich die ſtändiſche
Oligarchie durch peinliche Ahnenproben von dem Pöbel ab; noch unlängſt
hatte König Friedrich Auguſt einen Grafen von jungem Adel zurückge-
wieſen von der heiligen Schwelle der Lauſitzer Stände. Man hielt in
dieſen Kreiſen für ſelbſtverſtändlich, daß den an Preußen gekommenen
Stücken der ſächſiſchen Erblande noch alle die Rechte zuſtänden, welche der
Landtag des Königreichs Sachſen beſeſſen, und verlangte ſogar ein abge-
ſondertes Staatsſchuldenweſen zu behalten. Als der Staatskanzler in der
Niederlauſitz, die jetzt nur noch einen Bruchtheil der neuen Provinz Bran-
denburg bildete, den alten Landtag vorderhand nicht einberufen wollte,
da erwiderten die Stände der Landſchaft: „Der Inhalt dieſer Verord-
nung, die mit wenigen inhaltsſchweren Worten uns Alles nimmt, was

*) Eingabe vom 20. Juli 1816.
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[283/0297] Die alten Provinzialſtände. Das Ständeweſen der alten Provinzen erſchien immerhin noch wohl geordnet neben den chaotiſchen Zuſtänden der neu erworbenen Landes- theile. Wie war Schwediſch-Pommern ſtolz auf „unſere alte Verfaſſung“; nur ſchade, daß Niemand wußte, was darunter zu verſtehen ſei. Die alte Landſchaft „der Kreiſe und Städte“ Vorpommerns war ſchon 1806 durch König Guſtav IV. Adolf aufgehoben und an ihrer Statt die ſchwediſche Verfaſſung mit ihren vier Ständen eingeführt worden — unter dem Jubel der Bauern, die jetzt endlich eine Vertretung fanden. Vier Jahre darauf brachte ein abermaliger Gewaltſtreich der Krone Schweden eine neue Verfaſſung, die aber niemals ins Leben trat. Der vorpommerſche Patriot konnte alſo nach Belieben für drei verſchiedene vaterländiſche Ver- faſſungen ſich begeiſtern. In der That gebärdeten ſich „Kreiſe und Städte“, als ſei gar nichts vorgefallen in dieſen neun Jahren, ſie traten als die rechtmäßige Vertretung des Landes auf und beſtürmten den König mit ihren Beſchwerden. Die Bauern und Pächter aber — an ihrer Spitze die beiden unermüdlichen Ludwig Arndt und Chriſt. Lüders — verwahrten ſich dawider: ſie hätten die Verfaſſung von 1806 beſchworen, könnten nur dieſe als zu Recht beſtehend anſehen. *) In Poſen beſtand noch ein Deputirtenrath, das will ſagen: ein Ge- neralrath im napoleoniſchen Stile. Da dieſe Verſammlung von der War- ſchauer Regierung ernannt war und überdies nur einen Beſtandtheil des aufgehobenen Präfekturſyſtems bildete, ſo wurde ſie von Preußen, mit vollem Rechte, nicht als ein ſtändiſcher Körper angeſehen und am 26. Aug. 1818 aufgehoben. Eine unglaubliche Verwilderung ſtändiſcher Anarchie ſtellte ſich in Sachſen heraus — ein Zuſtand, wovon Hardenberg offenbar gar nichts ahnte, als er die Verordnung vom 22. Mai entwarf. Jeder der ſieben Theile des Herzogthums Sachſen beſaß ſeine eigene Ständeverſammlung, und da das Stillleben des Junkerthums hier niemals durch die ſtrenge Hand eines ſtarken Königthums geſtört wurde, ſo ſchloß ſich die ſtändiſche Oligarchie durch peinliche Ahnenproben von dem Pöbel ab; noch unlängſt hatte König Friedrich Auguſt einen Grafen von jungem Adel zurückge- wieſen von der heiligen Schwelle der Lauſitzer Stände. Man hielt in dieſen Kreiſen für ſelbſtverſtändlich, daß den an Preußen gekommenen Stücken der ſächſiſchen Erblande noch alle die Rechte zuſtänden, welche der Landtag des Königreichs Sachſen beſeſſen, und verlangte ſogar ein abge- ſondertes Staatsſchuldenweſen zu behalten. Als der Staatskanzler in der Niederlauſitz, die jetzt nur noch einen Bruchtheil der neuen Provinz Bran- denburg bildete, den alten Landtag vorderhand nicht einberufen wollte, da erwiderten die Stände der Landſchaft: „Der Inhalt dieſer Verord- nung, die mit wenigen inhaltsſchweren Worten uns Alles nimmt, was *) Eingabe vom 20. Juli 1816.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/297>, abgerufen am 23.11.2024.