Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.Literatur und Politik. als einen Vorkämpfer der Freiheit gegen die tenebriones, die Dunkel-männer in Staat und Kirche. Auch die rein politischen Parteien, deren schwache Anfänge sich endlich bildeten, gingen gradeswegs aus dem litera- rischen Leben hervor. Das unmittelbare Eingreifen der politischen Theorie in die Geschicke der Staaten, das die moderne Geschichte so auffällig von den naiveren Zeiten des Alterthums und des Mittelalters unterscheidet, zeigte sich nirgends stärker als hier in dem Lande der Gelehrsamkeit. Nicht aus den Klassen-Interessen eines reichen und selbstbewußten Bürgerthums entsprang der deutsche Liberalismus, sondern aus den Schulbegriffen der Gelehrten. Mit jener unbestimmten historischen Sehnsucht nach den gro- ßen Tagen des alten Kaiserthums, die zur Zeit der Fremdherrschaft zu- erst in den literarischen Kreisen entstanden war, vermischten sich allmählich die Lehren der neuen Philosophie über das natürliche Recht der freien Persönlichkeit, sodann einige Sätze aus Montesquieu und Rousseau, end- lich auch ein gutes Theil unbewußter gelehrter Standesvorurtheile. So entstand ein System von vernunftrechtlichen Begriffen, welche unser Volk durch die Freiheit zu seiner alten Macht emporführen sollten. Die Doktrin trat sogleich, in Rottecks Schriften, fertig ausgearbeitet hervor wie das Lehrgebäude eines Philosophen und erhob auch wie ein philosophisches System den Anspruch, sich in der Welt durchzusetzen durch die Macht der Gründe, der theoretischen Unwiderleglichkeit. Der Sturz des napoleoni- schen Weltreichs -- daran bestand unter den literarischen Politikern kein Zweifel -- war allein gelungen durch die Macht der Ideen, die, in den Kreisen der Wissenden geboren, dann das Volk ergriffen und endlich selbst die widerstrebenden Kronen mit fortgerissen hatten zum heiligen Kampfe. So schien auch Deutschlands innere Befreiung wohlgesichert, wenn sich nur alle Patrioten die Heilswahrheiten der neuen constitutionellen Doktrin ganz zu eigen machten und an diesem Bekenntniß mit der Ueberzeugungs- treue des Gelehrten oder des kirchlichen Märtyrers unerschütterlich fest- hielten. Daß der Staat Macht ist und der Welt des Willens angehört, blieb diesem Geschlechte wohlmeinender Gelehrter noch ganz verborgen. Erst nach Jahrzehnten voll schwerer Verirrungen und Enttäuschungen sollte das deutsche Parteileben der Wiege der Doktrin entwachsen und von der Politik des Bekenntnisses sich erheben zu der Politik der That. In den romanischen Ländern hatte die Poesie überall, wenn sie sich Literatur und Politik. als einen Vorkämpfer der Freiheit gegen die tenebriones, die Dunkel-männer in Staat und Kirche. Auch die rein politiſchen Parteien, deren ſchwache Anfänge ſich endlich bildeten, gingen gradeswegs aus dem litera- riſchen Leben hervor. Das unmittelbare Eingreifen der politiſchen Theorie in die Geſchicke der Staaten, das die moderne Geſchichte ſo auffällig von den naiveren Zeiten des Alterthums und des Mittelalters unterſcheidet, zeigte ſich nirgends ſtärker als hier in dem Lande der Gelehrſamkeit. Nicht aus den Klaſſen-Intereſſen eines reichen und ſelbſtbewußten Bürgerthums entſprang der deutſche Liberalismus, ſondern aus den Schulbegriffen der Gelehrten. Mit jener unbeſtimmten hiſtoriſchen Sehnſucht nach den gro- ßen Tagen des alten Kaiſerthums, die zur Zeit der Fremdherrſchaft zu- erſt in den literariſchen Kreiſen entſtanden war, vermiſchten ſich allmählich die Lehren der neuen Philoſophie über das natürliche Recht der freien Perſönlichkeit, ſodann einige Sätze aus Montesquieu und Rouſſeau, end- lich auch ein gutes Theil unbewußter gelehrter Standesvorurtheile. So entſtand ein Syſtem von vernunftrechtlichen Begriffen, welche unſer Volk durch die Freiheit zu ſeiner alten Macht emporführen ſollten. Die Doktrin trat ſogleich, in Rottecks Schriften, fertig ausgearbeitet hervor wie das Lehrgebäude eines Philoſophen und erhob auch wie ein philoſophiſches Syſtem den Anſpruch, ſich in der Welt durchzuſetzen durch die Macht der Gründe, der theoretiſchen Unwiderleglichkeit. Der Sturz des napoleoni- ſchen Weltreichs — daran beſtand unter den literariſchen Politikern kein Zweifel — war allein gelungen durch die Macht der Ideen, die, in den Kreiſen der Wiſſenden geboren, dann das Volk ergriffen und endlich ſelbſt die widerſtrebenden Kronen mit fortgeriſſen hatten zum heiligen Kampfe. So ſchien auch Deutſchlands innere Befreiung wohlgeſichert, wenn ſich nur alle Patrioten die Heilswahrheiten der neuen conſtitutionellen Doktrin ganz zu eigen machten und an dieſem Bekenntniß mit der Ueberzeugungs- treue des Gelehrten oder des kirchlichen Märtyrers unerſchütterlich feſt- hielten. Daß der Staat Macht iſt und der Welt des Willens angehört, blieb dieſem Geſchlechte wohlmeinender Gelehrter noch ganz verborgen. Erſt nach Jahrzehnten voll ſchwerer Verirrungen und Enttäuſchungen ſollte das deutſche Parteileben der Wiege der Doktrin entwachſen und von der Politik des Bekenntniſſes ſich erheben zu der Politik der That. 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Literatur und Politik.
als einen Vorkämpfer der Freiheit gegen die tenebriones, die Dunkel-
männer in Staat und Kirche. Auch die rein politiſchen Parteien, deren
ſchwache Anfänge ſich endlich bildeten, gingen gradeswegs aus dem litera-
riſchen Leben hervor. Das unmittelbare Eingreifen der politiſchen Theorie
in die Geſchicke der Staaten, das die moderne Geſchichte ſo auffällig von
den naiveren Zeiten des Alterthums und des Mittelalters unterſcheidet,
zeigte ſich nirgends ſtärker als hier in dem Lande der Gelehrſamkeit. Nicht
aus den Klaſſen-Intereſſen eines reichen und ſelbſtbewußten Bürgerthums
entſprang der deutſche Liberalismus, ſondern aus den Schulbegriffen der
Gelehrten. Mit jener unbeſtimmten hiſtoriſchen Sehnſucht nach den gro-
ßen Tagen des alten Kaiſerthums, die zur Zeit der Fremdherrſchaft zu-
erſt in den literariſchen Kreiſen entſtanden war, vermiſchten ſich allmählich
die Lehren der neuen Philoſophie über das natürliche Recht der freien
Perſönlichkeit, ſodann einige Sätze aus Montesquieu und Rouſſeau, end-
lich auch ein gutes Theil unbewußter gelehrter Standesvorurtheile. So
entſtand ein Syſtem von vernunftrechtlichen Begriffen, welche unſer Volk
durch die Freiheit zu ſeiner alten Macht emporführen ſollten. Die Doktrin
trat ſogleich, in Rottecks Schriften, fertig ausgearbeitet hervor wie das
Lehrgebäude eines Philoſophen und erhob auch wie ein philoſophiſches
Syſtem den Anſpruch, ſich in der Welt durchzuſetzen durch die Macht der
Gründe, der theoretiſchen Unwiderleglichkeit. Der Sturz des napoleoni-
ſchen Weltreichs — daran beſtand unter den literariſchen Politikern kein
Zweifel — war allein gelungen durch die Macht der Ideen, die, in den
Kreiſen der Wiſſenden geboren, dann das Volk ergriffen und endlich ſelbſt
die widerſtrebenden Kronen mit fortgeriſſen hatten zum heiligen Kampfe.
So ſchien auch Deutſchlands innere Befreiung wohlgeſichert, wenn ſich
nur alle Patrioten die Heilswahrheiten der neuen conſtitutionellen Doktrin
ganz zu eigen machten und an dieſem Bekenntniß mit der Ueberzeugungs-
treue des Gelehrten oder des kirchlichen Märtyrers unerſchütterlich feſt-
hielten. Daß der Staat Macht iſt und der Welt des Willens angehört,
blieb dieſem Geſchlechte wohlmeinender Gelehrter noch ganz verborgen.
Erſt nach Jahrzehnten voll ſchwerer Verirrungen und Enttäuſchungen ſollte
das deutſche Parteileben der Wiege der Doktrin entwachſen und von der
Politik des Bekenntniſſes ſich erheben zu der Politik der That.
In den romaniſchen Ländern hatte die Poeſie überall, wenn ſie ſich
einmal zu claſſiſcher Vollendung erhob, dem Geiſte der Nation auf lange
hinaus Form und Richtung gegeben. Der unbändige Trotz der Deut-
ſchen wollte ſich ſelbſt während der goldenen Tage von Weimar niemals
der Herrſchaft einer Regel beugen; noch als Schiller und Goethe auf der
Höhe ihres Schaffens ſtanden, begann die Romantik bereits den Sturm-
lauf gegen das claſſiſche Ideal. Während der Befreiungskriege verſtummte
der literariſche Kampf; die Sorge um das Vaterland drängte alle anderen
Gedanken zurück; die wenigen Schriften, die ſich in der wilden Zeit heraus-
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