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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
bezirke zählte man nur 102 Grundeigenthümer mit mehr als 300 Morgen
Besitz, im Aachener nur 80, im Düsseldorfer nur einen einzigen. Von
den alten landtagsfähigen Geschlechtern waren in Berg noch 24, in Cleve
gar nur fünf, darunter blos zwei begüterte, übrig. Ein scharfer Unter-
schied von Stadt und Land, von Grundherren, Bürgern und Bauern be-
stand nicht mehr, und diese radikale Zerstörung der alten ständischen Glie-
derung war eine unwiderrufliche Thatsache, denn hier an Deutschlands
belebtester Handelsstraße war städtisches Wesen schon im Mittelalter auf
das flache Land hinausgedrungen, die Revolution vollendete hier nur mit
einem Gewaltstreiche, was durch die intensive Wirthschaft der dichten
Bevölkerung längst vorbereitet war. Die wenigen Ritterbürtigen, welche
den Untergang der rheinischen Adelsmacht überlebt hatten, die Wylich,
Mirbach, Spee, Nesselrode konnten sich in den Umschwung der Dinge nicht
finden; sie erwarteten von den Befreiern die Wiederkehr der guten alten
Zeit und verlangten sofort im Namen deutschen Rechtes und deutscher
Ehre die Herstellung der Zehnten, der Jagdrechte, der Fideicommisse. Die
Beamten aber, die eingebornen wie die altländischen, warnten den Staats-
kanzler; denn sie wußten, daß der Gedanke der socialen Gleichheit den
Rheinländern der theuerste aller politischen Grundsätze war; und wäh-
rend Vincke auf Grund seiner westphälischen Erfahrungen die gebundene
Erbfolge vertheidigte, erklärten die rheinischen Präsidenten und Landräthe
wie aus einem Munde: auf der freien Theilbarkeit des Bodens beruhe
die wirthschaftliche Blüthe des Rheinlandes.*) Daher wurden die Ritter-
bürtigen höflich abgewiesen, und seit dieser Enttäuschung begannen sie dem
preußischen Staate zu grollen; nur die von Altersher durch Bildung und
freien Sinn ausgezeichneten Fürstenhäuser von Wied und Solms traten
zu der Krone in ein würdiges Verhältniß. Das Volk aber ließ sich's nicht
ausreden, daß der Preuße mit dem Adel unter einer Decke liege. Vier
Jahre nach der Huldigung schilderte Solms-Laubach die Gesinnungen der
Provinz also: So lange nicht das Unmögliche geschieht kann eine voll-
kommen gute Stimmung nicht bewirkt werden: wenn nicht der Adel seine
Zehnten zurückerhält, der Bauer aber nicht mehr zehntet.**)

Trotz alledem verwuchs dies bunte, aus altgeistlichem und neufran-
zösischem Wesen so eigenthümlich gemischte landschaftliche Sonderleben un-
merklich und sicher mit dem neuen Staate. Von den beiden Oberpräsi-
denten hatte der eine, Minister v. Ingersleben in Coblenz, während des
Krieges an der Spitze der pommerschen Verwaltung gestanden und die
Rüstung der Landwehr mit Umsicht geleitet; den Rheinländern gefiel der
alte Herr durch Wohlwollen und gastfreundliche Heiterkeit. Der Andere,

*) Freiherr v. Wylich an Hardenberg 16. Febr., an Schuckmann 15. Mai 1816.
Berichte vom Reg.-Präsidenten v. Schmitz-Grollenburg, Coblenz 9. Okt., Reg.-Präsidenten
v. Erdmannsdorff, Cleve 31. Okt. 1817, Landrath Bitter, Hartung u. A.
**) Solms-Laubach, Bericht an Prinz Wilhelm 18. August 1819.

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
bezirke zählte man nur 102 Grundeigenthümer mit mehr als 300 Morgen
Beſitz, im Aachener nur 80, im Düſſeldorfer nur einen einzigen. Von
den alten landtagsfähigen Geſchlechtern waren in Berg noch 24, in Cleve
gar nur fünf, darunter blos zwei begüterte, übrig. Ein ſcharfer Unter-
ſchied von Stadt und Land, von Grundherren, Bürgern und Bauern be-
ſtand nicht mehr, und dieſe radikale Zerſtörung der alten ſtändiſchen Glie-
derung war eine unwiderrufliche Thatſache, denn hier an Deutſchlands
belebteſter Handelsſtraße war ſtädtiſches Weſen ſchon im Mittelalter auf
das flache Land hinausgedrungen, die Revolution vollendete hier nur mit
einem Gewaltſtreiche, was durch die intenſive Wirthſchaft der dichten
Bevölkerung längſt vorbereitet war. Die wenigen Ritterbürtigen, welche
den Untergang der rheiniſchen Adelsmacht überlebt hatten, die Wylich,
Mirbach, Spee, Neſſelrode konnten ſich in den Umſchwung der Dinge nicht
finden; ſie erwarteten von den Befreiern die Wiederkehr der guten alten
Zeit und verlangten ſofort im Namen deutſchen Rechtes und deutſcher
Ehre die Herſtellung der Zehnten, der Jagdrechte, der Fideicommiſſe. Die
Beamten aber, die eingebornen wie die altländiſchen, warnten den Staats-
kanzler; denn ſie wußten, daß der Gedanke der ſocialen Gleichheit den
Rheinländern der theuerſte aller politiſchen Grundſätze war; und wäh-
rend Vincke auf Grund ſeiner weſtphäliſchen Erfahrungen die gebundene
Erbfolge vertheidigte, erklärten die rheiniſchen Präſidenten und Landräthe
wie aus einem Munde: auf der freien Theilbarkeit des Bodens beruhe
die wirthſchaftliche Blüthe des Rheinlandes.*) Daher wurden die Ritter-
bürtigen höflich abgewieſen, und ſeit dieſer Enttäuſchung begannen ſie dem
preußiſchen Staate zu grollen; nur die von Altersher durch Bildung und
freien Sinn ausgezeichneten Fürſtenhäuſer von Wied und Solms traten
zu der Krone in ein würdiges Verhältniß. Das Volk aber ließ ſich’s nicht
ausreden, daß der Preuße mit dem Adel unter einer Decke liege. Vier
Jahre nach der Huldigung ſchilderte Solms-Laubach die Geſinnungen der
Provinz alſo: So lange nicht das Unmögliche geſchieht kann eine voll-
kommen gute Stimmung nicht bewirkt werden: wenn nicht der Adel ſeine
Zehnten zurückerhält, der Bauer aber nicht mehr zehntet.**)

Trotz alledem verwuchs dies bunte, aus altgeiſtlichem und neufran-
zöſiſchem Weſen ſo eigenthümlich gemiſchte landſchaftliche Sonderleben un-
merklich und ſicher mit dem neuen Staate. Von den beiden Oberpräſi-
denten hatte der eine, Miniſter v. Ingersleben in Coblenz, während des
Krieges an der Spitze der pommerſchen Verwaltung geſtanden und die
Rüſtung der Landwehr mit Umſicht geleitet; den Rheinländern gefiel der
alte Herr durch Wohlwollen und gaſtfreundliche Heiterkeit. Der Andere,

*) Freiherr v. Wylich an Hardenberg 16. Febr., an Schuckmann 15. Mai 1816.
Berichte vom Reg.-Präſidenten v. Schmitz-Grollenburg, Coblenz 9. Okt., Reg.-Präſidenten
v. Erdmannsdorff, Cleve 31. Okt. 1817, Landrath Bitter, Hartung u. A.
**) Solms-Laubach, Bericht an Prinz Wilhelm 18. Auguſt 1819.
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[274/0288] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. bezirke zählte man nur 102 Grundeigenthümer mit mehr als 300 Morgen Beſitz, im Aachener nur 80, im Düſſeldorfer nur einen einzigen. Von den alten landtagsfähigen Geſchlechtern waren in Berg noch 24, in Cleve gar nur fünf, darunter blos zwei begüterte, übrig. Ein ſcharfer Unter- ſchied von Stadt und Land, von Grundherren, Bürgern und Bauern be- ſtand nicht mehr, und dieſe radikale Zerſtörung der alten ſtändiſchen Glie- derung war eine unwiderrufliche Thatſache, denn hier an Deutſchlands belebteſter Handelsſtraße war ſtädtiſches Weſen ſchon im Mittelalter auf das flache Land hinausgedrungen, die Revolution vollendete hier nur mit einem Gewaltſtreiche, was durch die intenſive Wirthſchaft der dichten Bevölkerung längſt vorbereitet war. Die wenigen Ritterbürtigen, welche den Untergang der rheiniſchen Adelsmacht überlebt hatten, die Wylich, Mirbach, Spee, Neſſelrode konnten ſich in den Umſchwung der Dinge nicht finden; ſie erwarteten von den Befreiern die Wiederkehr der guten alten Zeit und verlangten ſofort im Namen deutſchen Rechtes und deutſcher Ehre die Herſtellung der Zehnten, der Jagdrechte, der Fideicommiſſe. Die Beamten aber, die eingebornen wie die altländiſchen, warnten den Staats- kanzler; denn ſie wußten, daß der Gedanke der ſocialen Gleichheit den Rheinländern der theuerſte aller politiſchen Grundſätze war; und wäh- rend Vincke auf Grund ſeiner weſtphäliſchen Erfahrungen die gebundene Erbfolge vertheidigte, erklärten die rheiniſchen Präſidenten und Landräthe wie aus einem Munde: auf der freien Theilbarkeit des Bodens beruhe die wirthſchaftliche Blüthe des Rheinlandes. *) Daher wurden die Ritter- bürtigen höflich abgewieſen, und ſeit dieſer Enttäuſchung begannen ſie dem preußiſchen Staate zu grollen; nur die von Altersher durch Bildung und freien Sinn ausgezeichneten Fürſtenhäuſer von Wied und Solms traten zu der Krone in ein würdiges Verhältniß. Das Volk aber ließ ſich’s nicht ausreden, daß der Preuße mit dem Adel unter einer Decke liege. Vier Jahre nach der Huldigung ſchilderte Solms-Laubach die Geſinnungen der Provinz alſo: So lange nicht das Unmögliche geſchieht kann eine voll- kommen gute Stimmung nicht bewirkt werden: wenn nicht der Adel ſeine Zehnten zurückerhält, der Bauer aber nicht mehr zehntet. **) Trotz alledem verwuchs dies bunte, aus altgeiſtlichem und neufran- zöſiſchem Weſen ſo eigenthümlich gemiſchte landſchaftliche Sonderleben un- merklich und ſicher mit dem neuen Staate. Von den beiden Oberpräſi- denten hatte der eine, Miniſter v. Ingersleben in Coblenz, während des Krieges an der Spitze der pommerſchen Verwaltung geſtanden und die Rüſtung der Landwehr mit Umſicht geleitet; den Rheinländern gefiel der alte Herr durch Wohlwollen und gaſtfreundliche Heiterkeit. Der Andere, *) Freiherr v. Wylich an Hardenberg 16. Febr., an Schuckmann 15. Mai 1816. Berichte vom Reg.-Präſidenten v. Schmitz-Grollenburg, Coblenz 9. Okt., Reg.-Präſidenten v. Erdmannsdorff, Cleve 31. Okt. 1817, Landrath Bitter, Hartung u. A. **) Solms-Laubach, Bericht an Prinz Wilhelm 18. Auguſt 1819.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/288>, abgerufen am 24.11.2024.