II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
Unterschied zwischen den derben Niederdeutschen und den feiner gesitteten Familien der französischen Colonie.
Im Hochsommer strömte Alt und Jung hinaus um sich beim Stra- lauer Fischzuge an den Nationalgerichten, Aal, Gurken und Weißbier zu erlaben. Das Königsschießen der Schützengilde stand noch in hohen Ehren, und das neue Reglement von 1813 hielt für nöthig ausdrücklich zu be- merken: auf Steuerfreiheit würden der Schützenkönig und seine beiden Ritter als gutgesinnte Bürger wohl selber keinen Anspruch erheben. Die Kaufleute zerfielen in die zwei scharf getrennten Gilden der Material- und der Tuch- und Seidenhändler. Zweimal wöchentlich veröffentlichten die Makler einen Kurszettel, der nur wenige fremde Papiere aufzählte; der kleine Bürger aber rechnete nur nach Dreiern. Alle Massengüter langten zu Wasser an, da selbst mit Hamburg noch keine ununterbrochene Chaussee- verbindung bestand; im Winter stockte das Geschäft, im Frühjahr und Herbst drängten sich die Kähne auf der Spree, doch genügte selbst dann der eine Krahn im königlichen Packhofe um die Waaren der sämmtlichen Fuhrleute und Schiffer abzuladen. Inmitten dieser beschränkten Verhält- nisse verriethen sich doch schon die Anfänge eines reicheren Verkehrs. Die Gastwirthe der großen Höfe, wo die Fuhrleute einkehrten und auf Ladung warteten, begannen selber die Vermittlung des Frachtverkehrs zu über- nehmen; aus diesen Fuhrmannsherbergen entstanden seit 1816 die großen Speditionsgeschäfte, welche, begünstigt durch die glückliche Lage der Stadt, nach kurzer Zeit den besten Theil des nordostdeutschen Handels an sich zogen. Welch ein Aufsehen, als Cockerill im Jahre des Friedensschlusses auf der Neuen Friedrichsstraße eine Fabrik erbaute, die der Woll- manufactur alle Werkzeuge und Maschinen liefern sollte; dort arbeitete eine Dampfmaschine von beinahe dreißig Pferdekräften, und nicht lange, so erleuchtete man die Werkräume gar mit Kohlengas. Ein Jahr später ward der erste Jacquard'sche Webstuhl in die Berliner Seidenwirkerei ein- geführt. Zwar die Wollindustrie, die im Jahre 1803 schon 1465 Stühle beschäftigt hatte, war jetzt auf 420 Stühle herabgekommen; auch die Garn- spinner konnten nach der Aufhebung der Continentalsperre kaum noch be- stehen, da die Engländer das Geheimniß ihrer Spinnmaschine wohl be- wahrten. Aber die Baumwoll-Weber und -Drucker, die Tuchwalker und viele andere Gewerbe schritten rüstig vorwärts. So ward durch die harte Arbeit eines genügsamen, sorgenvollen Geschlechts langsam der Grund ge- legt für die Macht der ersten deutschen Fabrikstadt. --
In allen diesen Provinzen waren nur kleine Stücke neuerworbenen Landes einem festen Kerne altpreußischen Gebiets anzuschließen; hingegen das wunderliche Gewirr von zweiunddreißig großen und ungezählten kleinen Herrschaften, das man jetzt die Provinz Sachsen nannte, bedurfte eines vollständigen Neubaus. Mittel- und niederdeutsches, altgermanisches und wendisches Land stießen hier auf einander; die alte Grenze zwischen dem
II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Unterſchied zwiſchen den derben Niederdeutſchen und den feiner geſitteten Familien der franzöſiſchen Colonie.
Im Hochſommer ſtrömte Alt und Jung hinaus um ſich beim Stra- lauer Fiſchzuge an den Nationalgerichten, Aal, Gurken und Weißbier zu erlaben. Das Königsſchießen der Schützengilde ſtand noch in hohen Ehren, und das neue Reglement von 1813 hielt für nöthig ausdrücklich zu be- merken: auf Steuerfreiheit würden der Schützenkönig und ſeine beiden Ritter als gutgeſinnte Bürger wohl ſelber keinen Anſpruch erheben. Die Kaufleute zerfielen in die zwei ſcharf getrennten Gilden der Material- und der Tuch- und Seidenhändler. Zweimal wöchentlich veröffentlichten die Makler einen Kurszettel, der nur wenige fremde Papiere aufzählte; der kleine Bürger aber rechnete nur nach Dreiern. Alle Maſſengüter langten zu Waſſer an, da ſelbſt mit Hamburg noch keine ununterbrochene Chauſſee- verbindung beſtand; im Winter ſtockte das Geſchäft, im Frühjahr und Herbſt drängten ſich die Kähne auf der Spree, doch genügte ſelbſt dann der eine Krahn im königlichen Packhofe um die Waaren der ſämmtlichen Fuhrleute und Schiffer abzuladen. Inmitten dieſer beſchränkten Verhält- niſſe verriethen ſich doch ſchon die Anfänge eines reicheren Verkehrs. Die Gaſtwirthe der großen Höfe, wo die Fuhrleute einkehrten und auf Ladung warteten, begannen ſelber die Vermittlung des Frachtverkehrs zu über- nehmen; aus dieſen Fuhrmannsherbergen entſtanden ſeit 1816 die großen Speditionsgeſchäfte, welche, begünſtigt durch die glückliche Lage der Stadt, nach kurzer Zeit den beſten Theil des nordoſtdeutſchen Handels an ſich zogen. Welch ein Aufſehen, als Cockerill im Jahre des Friedensſchluſſes auf der Neuen Friedrichsſtraße eine Fabrik erbaute, die der Woll- manufactur alle Werkzeuge und Maſchinen liefern ſollte; dort arbeitete eine Dampfmaſchine von beinahe dreißig Pferdekräften, und nicht lange, ſo erleuchtete man die Werkräume gar mit Kohlengas. Ein Jahr ſpäter ward der erſte Jacquard’ſche Webſtuhl in die Berliner Seidenwirkerei ein- geführt. Zwar die Wollinduſtrie, die im Jahre 1803 ſchon 1465 Stühle beſchäftigt hatte, war jetzt auf 420 Stühle herabgekommen; auch die Garn- ſpinner konnten nach der Aufhebung der Continentalſperre kaum noch be- ſtehen, da die Engländer das Geheimniß ihrer Spinnmaſchine wohl be- wahrten. Aber die Baumwoll-Weber und -Drucker, die Tuchwalker und viele andere Gewerbe ſchritten rüſtig vorwärts. So ward durch die harte Arbeit eines genügſamen, ſorgenvollen Geſchlechts langſam der Grund ge- legt für die Macht der erſten deutſchen Fabrikſtadt. —
In allen dieſen Provinzen waren nur kleine Stücke neuerworbenen Landes einem feſten Kerne altpreußiſchen Gebiets anzuſchließen; hingegen das wunderliche Gewirr von zweiunddreißig großen und ungezählten kleinen Herrſchaften, das man jetzt die Provinz Sachſen nannte, bedurfte eines vollſtändigen Neubaus. Mittel- und niederdeutſches, altgermaniſches und wendiſches Land ſtießen hier auf einander; die alte Grenze zwiſchen dem
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II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Unterſchied zwiſchen den derben Niederdeutſchen und den feiner geſitteten
Familien der franzöſiſchen Colonie.
Im Hochſommer ſtrömte Alt und Jung hinaus um ſich beim Stra-
lauer Fiſchzuge an den Nationalgerichten, Aal, Gurken und Weißbier zu
erlaben. Das Königsſchießen der Schützengilde ſtand noch in hohen Ehren,
und das neue Reglement von 1813 hielt für nöthig ausdrücklich zu be-
merken: auf Steuerfreiheit würden der Schützenkönig und ſeine beiden
Ritter als gutgeſinnte Bürger wohl ſelber keinen Anſpruch erheben. Die
Kaufleute zerfielen in die zwei ſcharf getrennten Gilden der Material-
und der Tuch- und Seidenhändler. Zweimal wöchentlich veröffentlichten
die Makler einen Kurszettel, der nur wenige fremde Papiere aufzählte;
der kleine Bürger aber rechnete nur nach Dreiern. Alle Maſſengüter langten
zu Waſſer an, da ſelbſt mit Hamburg noch keine ununterbrochene Chauſſee-
verbindung beſtand; im Winter ſtockte das Geſchäft, im Frühjahr und
Herbſt drängten ſich die Kähne auf der Spree, doch genügte ſelbſt dann
der eine Krahn im königlichen Packhofe um die Waaren der ſämmtlichen
Fuhrleute und Schiffer abzuladen. Inmitten dieſer beſchränkten Verhält-
niſſe verriethen ſich doch ſchon die Anfänge eines reicheren Verkehrs. Die
Gaſtwirthe der großen Höfe, wo die Fuhrleute einkehrten und auf Ladung
warteten, begannen ſelber die Vermittlung des Frachtverkehrs zu über-
nehmen; aus dieſen Fuhrmannsherbergen entſtanden ſeit 1816 die großen
Speditionsgeſchäfte, welche, begünſtigt durch die glückliche Lage der Stadt,
nach kurzer Zeit den beſten Theil des nordoſtdeutſchen Handels an ſich
zogen. Welch ein Aufſehen, als Cockerill im Jahre des Friedensſchluſſes
auf der Neuen Friedrichsſtraße eine Fabrik erbaute, die der Woll-
manufactur alle Werkzeuge und Maſchinen liefern ſollte; dort arbeitete
eine Dampfmaſchine von beinahe dreißig Pferdekräften, und nicht lange,
ſo erleuchtete man die Werkräume gar mit Kohlengas. Ein Jahr ſpäter
ward der erſte Jacquard’ſche Webſtuhl in die Berliner Seidenwirkerei ein-
geführt. Zwar die Wollinduſtrie, die im Jahre 1803 ſchon 1465 Stühle
beſchäftigt hatte, war jetzt auf 420 Stühle herabgekommen; auch die Garn-
ſpinner konnten nach der Aufhebung der Continentalſperre kaum noch be-
ſtehen, da die Engländer das Geheimniß ihrer Spinnmaſchine wohl be-
wahrten. Aber die Baumwoll-Weber und -Drucker, die Tuchwalker und
viele andere Gewerbe ſchritten rüſtig vorwärts. So ward durch die harte
Arbeit eines genügſamen, ſorgenvollen Geſchlechts langſam der Grund ge-
legt für die Macht der erſten deutſchen Fabrikſtadt. —
In allen dieſen Provinzen waren nur kleine Stücke neuerworbenen
Landes einem feſten Kerne altpreußiſchen Gebiets anzuſchließen; hingegen
das wunderliche Gewirr von zweiunddreißig großen und ungezählten kleinen
Herrſchaften, das man jetzt die Provinz Sachſen nannte, bedurfte eines
vollſtändigen Neubaus. Mittel- und niederdeutſches, altgermaniſches und
wendiſches Land ſtießen hier auf einander; die alte Grenze zwiſchen dem
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/272>, abgerufen am 24.11.2024.
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