Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates. Evangelicorum des Reichstags beiden protestantischen Kirchen gemeinsam.Sie unterdrückten das Lästern und Schelten der lutherischen Kanzelredner durch strenge Strafen und durch das Beispiel ihrer eigenen Duldsamkeit; sie suchten aus der Dogmatik der beiden Kirchen Alles zu entfernen was der Schwesterkirche Anstoß geben konnte, und wie sie die harte Lehre von der Gnadenwahl in das Bekenntniß ihrer reformirten Landeskirche niemals auf- nahmen, so setzten sie auch nach schweren Kämpfen durch, daß die Lutheraner auf die Austreibung des Teufels verzichteten. Schon Friedrich Wilhelm I. wollte einen Unterschied zwischen Lutheranern und Reformirten überhaupt nicht mehr anerkennen; das seien dumme Possen, meinte er kurzab. Das Landrecht verpflichtete beide Kirchen, ihre Genossen im Nothfall wechsel- seitig zum Sacramente zuzulassen. Bei der Neuordnung der Verwaltungs- behörden im Jahre 1808 wurden sodann die sämmtlichen lutherischen Consistorien sowie das reformirte Kirchendirectorium aufgehoben und die Kirchenangelegenheiten aller drei Confessionen einer besondern Abtheilung der Bezirksregierungen überwiesen. Rücksichten der Sparsamkeit gaben damals den Ausschlag. Indeß erkannte der König bald, daß das Kirchen- regiment selbständiger Organe nicht entbehren konnte, und stellte daher durch die Kabinetsordre vom 30. April 1815 die Provinzialconsistorien wieder her, aber als gemeinsame Behörden für beide evangelische Kirchen. Auch die am 2. Januar 1817 neu gebildeten Synoden bestanden aus Geistlichen beider Bekenntnisse. Schritt für Schritt näherte man sich also der Bil- dung einer großen evangelischen Landeskirche. Von Jugend auf, Dank seinem Lehrer Sack, hatte Friedrich Wilhelm II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. Evangelicorum des Reichstags beiden proteſtantiſchen Kirchen gemeinſam.Sie unterdrückten das Läſtern und Schelten der lutheriſchen Kanzelredner durch ſtrenge Strafen und durch das Beiſpiel ihrer eigenen Duldſamkeit; ſie ſuchten aus der Dogmatik der beiden Kirchen Alles zu entfernen was der Schweſterkirche Anſtoß geben konnte, und wie ſie die harte Lehre von der Gnadenwahl in das Bekenntniß ihrer reformirten Landeskirche niemals auf- nahmen, ſo ſetzten ſie auch nach ſchweren Kämpfen durch, daß die Lutheraner auf die Austreibung des Teufels verzichteten. Schon Friedrich Wilhelm I. wollte einen Unterſchied zwiſchen Lutheranern und Reformirten überhaupt nicht mehr anerkennen; das ſeien dumme Poſſen, meinte er kurzab. Das Landrecht verpflichtete beide Kirchen, ihre Genoſſen im Nothfall wechſel- ſeitig zum Sacramente zuzulaſſen. Bei der Neuordnung der Verwaltungs- behörden im Jahre 1808 wurden ſodann die ſämmtlichen lutheriſchen Conſiſtorien ſowie das reformirte Kirchendirectorium aufgehoben und die Kirchenangelegenheiten aller drei Confeſſionen einer beſondern Abtheilung der Bezirksregierungen überwieſen. Rückſichten der Sparſamkeit gaben damals den Ausſchlag. Indeß erkannte der König bald, daß das Kirchen- regiment ſelbſtändiger Organe nicht entbehren konnte, und ſtellte daher durch die Kabinetsordre vom 30. April 1815 die Provinzialconſiſtorien wieder her, aber als gemeinſame Behörden für beide evangeliſche Kirchen. Auch die am 2. Januar 1817 neu gebildeten Synoden beſtanden aus Geiſtlichen beider Bekenntniſſe. Schritt für Schritt näherte man ſich alſo der Bil- dung einer großen evangeliſchen Landeskirche. Von Jugend auf, Dank ſeinem Lehrer Sack, hatte Friedrich Wilhelm <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0254" n="240"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 5. 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Die evangeliſche Weiſſagung „auf daß<lb/> ſie Alle eins ſeien gleich wie Du, Vater in mir“ erſchütterte ihn bis in<lb/> die Tiefen des Herzens. „Nach meiner einfältigen Meinung, ſo ſagte er<lb/> oft im Geſpräche mit geiſtlichen Herren, iſt der Abendmahlsſtreit nur eine<lb/> unfruchtbare theologiſche Spitzfindigkeit neben dem ſchlichten Bibelglauben<lb/> des urſprünglichen Chriſtenthums.“ Er betrachtete die Union als die Rück-<lb/> kehr zu dem Geiſte des Evangeliums und erfuhr mit Freude, daß ſein<lb/> geliebter Biſchof Borowsky, der fromme, glaubensſtarke Lutheraner, dieſer<lb/> Anſicht ebenſo günſtig war wie ſein reformirter Lehrer Sack. 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II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Evangelicorum des Reichstags beiden proteſtantiſchen Kirchen gemeinſam.
Sie unterdrückten das Läſtern und Schelten der lutheriſchen Kanzelredner
durch ſtrenge Strafen und durch das Beiſpiel ihrer eigenen Duldſamkeit;
ſie ſuchten aus der Dogmatik der beiden Kirchen Alles zu entfernen was der
Schweſterkirche Anſtoß geben konnte, und wie ſie die harte Lehre von der
Gnadenwahl in das Bekenntniß ihrer reformirten Landeskirche niemals auf-
nahmen, ſo ſetzten ſie auch nach ſchweren Kämpfen durch, daß die Lutheraner
auf die Austreibung des Teufels verzichteten. Schon Friedrich Wilhelm I.
wollte einen Unterſchied zwiſchen Lutheranern und Reformirten überhaupt
nicht mehr anerkennen; das ſeien dumme Poſſen, meinte er kurzab. Das
Landrecht verpflichtete beide Kirchen, ihre Genoſſen im Nothfall wechſel-
ſeitig zum Sacramente zuzulaſſen. Bei der Neuordnung der Verwaltungs-
behörden im Jahre 1808 wurden ſodann die ſämmtlichen lutheriſchen
Conſiſtorien ſowie das reformirte Kirchendirectorium aufgehoben und die
Kirchenangelegenheiten aller drei Confeſſionen einer beſondern Abtheilung
der Bezirksregierungen überwieſen. Rückſichten der Sparſamkeit gaben
damals den Ausſchlag. Indeß erkannte der König bald, daß das Kirchen-
regiment ſelbſtändiger Organe nicht entbehren konnte, und ſtellte daher
durch die Kabinetsordre vom 30. April 1815 die Provinzialconſiſtorien wieder
her, aber als gemeinſame Behörden für beide evangeliſche Kirchen. Auch
die am 2. Januar 1817 neu gebildeten Synoden beſtanden aus Geiſtlichen
beider Bekenntniſſe. Schritt für Schritt näherte man ſich alſo der Bil-
dung einer großen evangeliſchen Landeskirche.
Von Jugend auf, Dank ſeinem Lehrer Sack, hatte Friedrich Wilhelm
den Gedanken der Union mit Liebe ergriffen. Tief gemüthlich wie er ſein
Verhältniß zu ſeinen Unterthanen auffaßte, empfand er es als ein ſchweres
Unglück, daß er trotz dem gemeinſamen evangeliſchen Glauben doch nicht
der Kirche der Mehrheit ſeines Volkes angehörte, daß die Kirche Luthers,
den er unter allen Reformatoren am höchſten ſtellte, nicht die ſeine war.
Und dies Gefühl ward nur mächtiger, ſeit er in Königsberg ſich dem
Rationalismus abgewendet hatte. Die evangeliſche Weiſſagung „auf daß
ſie Alle eins ſeien gleich wie Du, Vater in mir“ erſchütterte ihn bis in
die Tiefen des Herzens. „Nach meiner einfältigen Meinung, ſo ſagte er
oft im Geſpräche mit geiſtlichen Herren, iſt der Abendmahlsſtreit nur eine
unfruchtbare theologiſche Spitzfindigkeit neben dem ſchlichten Bibelglauben
des urſprünglichen Chriſtenthums.“ Er betrachtete die Union als die Rück-
kehr zu dem Geiſte des Evangeliums und erfuhr mit Freude, daß ſein
geliebter Biſchof Borowsky, der fromme, glaubensſtarke Lutheraner, dieſer
Anſicht ebenſo günſtig war wie ſein reformirter Lehrer Sack. Der bibel-
feſte Greis, deſſen freudiger Zuruf „dem Menſchen geſchieht wie er glaubt“
den gebeugten Fürſten ſo oft in kummervollen Stunden getröſtet hatte, war
auch Kants Freund geweſen und ſtand der modernen Wiſſenſchaft nahe genug
um zu erkennen, daß die Unterſcheidungslehren der beiden proteſtantiſchen
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