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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.

Auch die unhaltbaren Verhältnisse an der Ostgrenze mahnten zu
rascher That. Sobald Preußen, Polen und Rußland im März 1816 zu
Warschau wegen der Ausführung des Wiener Vertrags vom 3. Mai 1815
zu verhandeln begannen, stellte sich bald heraus, daß Hardenberg in Wien
von dem Fürsten Czartoryski überlistet worden war. Die scheinbar so harm-
losen Bestimmungen des Vertrags über die freie Durchfuhr und den freien
Verkehr mit den Landeserzeugnissen aller vormals polnischen Landschaften
legten dem preußischen Staate fast nur Pflichten auf, da sein Gebiet das
Durchfuhrland bildete. Um der Abrede buchstäblich zu genügen hätte
Preußen seine polnischen Provinzen von dem übrigen Staatsgebiete durch
eine Zolllinie trennen müssen, während Rußland, dem Vertrage zuwider,
seine alte Zollgrenze, die das polnische Litthauen von Warschau abschied,
unverändert ließ und auch Oesterreich sich keineswegs geneigt zeigte, seinen
polnischen Kronlanden handelspolitische Selbständigkeit zuzugestehen. Die
polnischen Unterhändler sahen in dem Vertrage ein willkommenes Mittel,
um durch die Ansiedlung von Handelsagenten und Commissionären ihre
nationale Propaganda in Preußens polnische Gebiete hineinzutragen. Sie
erdreisteten sich der Krone Preußen geradezu die unbeschränkte Souveränität
über Danzig zu bestreiten und stellten so übermüthige Forderungen, daß
der König mit einer entschiedenen Ablehnung antwortete, als Czar Alexan-
der nach seiner Gewohnheit versuchte die Ansprüche der Polen durch einen
zärtlichen Freundesbrief zu unterstützen. Der unerquickliche Verlauf dieser
Verhandlungen zwang zu dem Entschlusse, die polnischen Landschaften den
übrigen Provinzen des Ostens völlig gleichzustellen. Auf der anderen
Seite lehrten die Frankfurter Erfahrungen, daß ein Bundeszollgesetz ganz
unmöglich war und Preußen mithin zunächst im eigenen Hause Ordnung
schaffen mußte.

Im Jahre 1816 erfolgten die ersten vorbereitenden Schritte. Das
Verbot der Geldausfuhr ward aufgehoben, das Salzregal in allen Pro-
vinzen gleichmäßig eingeführt; dann sprach die Verordnung vom 11. Juni
die Aufhebung der Wasser-, Binnen- und Provinzialzölle als Grundsatz
aus und verhieß die Einführung eines allgemeinen und einfachen Grenz-
zollsystems. Zu Anfang des folgenden Jahres war der Entwurf für das
neue Zollgesetz beendigt. Sobald aber von den reformatorischen Absichten
des Entwurfes Einiges ruchbar ward, erscholl der Nothschrei der geängsteten
Producenten weithin durch das Land. Leidenschaftliche Eingaben der Baum-
woll- und Kattunfabrikanten aus Schlesien und Berlin, die doch alle-
sammt unter der bestehenden Unordnung schwer litten, bestätigten die alte
Wahrheit, daß die Selbstsucht der Menschen der schlimmste Feind ihres
eigenen Interesses ist. Der Lärm ward so bedrohlich, daß der König für
nöthig hielt, zunächst eine Specialcommission mit der Prüfung dieser Vor-
stellungen zu beauftragen. Hier errang die alte fridericianische Schule
noch einmal die Oberhand. Der Vorsitzende, Oberpräsident v. Heydebreck,

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Auch die unhaltbaren Verhältniſſe an der Oſtgrenze mahnten zu
raſcher That. Sobald Preußen, Polen und Rußland im März 1816 zu
Warſchau wegen der Ausführung des Wiener Vertrags vom 3. Mai 1815
zu verhandeln begannen, ſtellte ſich bald heraus, daß Hardenberg in Wien
von dem Fürſten Czartoryski überliſtet worden war. Die ſcheinbar ſo harm-
loſen Beſtimmungen des Vertrags über die freie Durchfuhr und den freien
Verkehr mit den Landeserzeugniſſen aller vormals polniſchen Landſchaften
legten dem preußiſchen Staate faſt nur Pflichten auf, da ſein Gebiet das
Durchfuhrland bildete. Um der Abrede buchſtäblich zu genügen hätte
Preußen ſeine polniſchen Provinzen von dem übrigen Staatsgebiete durch
eine Zolllinie trennen müſſen, während Rußland, dem Vertrage zuwider,
ſeine alte Zollgrenze, die das polniſche Litthauen von Warſchau abſchied,
unverändert ließ und auch Oeſterreich ſich keineswegs geneigt zeigte, ſeinen
polniſchen Kronlanden handelspolitiſche Selbſtändigkeit zuzugeſtehen. Die
polniſchen Unterhändler ſahen in dem Vertrage ein willkommenes Mittel,
um durch die Anſiedlung von Handelsagenten und Commiſſionären ihre
nationale Propaganda in Preußens polniſche Gebiete hineinzutragen. Sie
erdreiſteten ſich der Krone Preußen geradezu die unbeſchränkte Souveränität
über Danzig zu beſtreiten und ſtellten ſo übermüthige Forderungen, daß
der König mit einer entſchiedenen Ablehnung antwortete, als Czar Alexan-
der nach ſeiner Gewohnheit verſuchte die Anſprüche der Polen durch einen
zärtlichen Freundesbrief zu unterſtützen. Der unerquickliche Verlauf dieſer
Verhandlungen zwang zu dem Entſchluſſe, die polniſchen Landſchaften den
übrigen Provinzen des Oſtens völlig gleichzuſtellen. Auf der anderen
Seite lehrten die Frankfurter Erfahrungen, daß ein Bundeszollgeſetz ganz
unmöglich war und Preußen mithin zunächſt im eigenen Hauſe Ordnung
ſchaffen mußte.

Im Jahre 1816 erfolgten die erſten vorbereitenden Schritte. Das
Verbot der Geldausfuhr ward aufgehoben, das Salzregal in allen Pro-
vinzen gleichmäßig eingeführt; dann ſprach die Verordnung vom 11. Juni
die Aufhebung der Waſſer-, Binnen- und Provinzialzölle als Grundſatz
aus und verhieß die Einführung eines allgemeinen und einfachen Grenz-
zollſyſtems. Zu Anfang des folgenden Jahres war der Entwurf für das
neue Zollgeſetz beendigt. Sobald aber von den reformatoriſchen Abſichten
des Entwurfes Einiges ruchbar ward, erſcholl der Nothſchrei der geängſteten
Producenten weithin durch das Land. Leidenſchaftliche Eingaben der Baum-
woll- und Kattunfabrikanten aus Schleſien und Berlin, die doch alle-
ſammt unter der beſtehenden Unordnung ſchwer litten, beſtätigten die alte
Wahrheit, daß die Selbſtſucht der Menſchen der ſchlimmſte Feind ihres
eigenen Intereſſes iſt. Der Lärm ward ſo bedrohlich, daß der König für
nöthig hielt, zunächſt eine Specialcommiſſion mit der Prüfung dieſer Vor-
ſtellungen zu beauftragen. Hier errang die alte fridericianiſche Schule
noch einmal die Oberhand. Der Vorſitzende, Oberpräſident v. Heydebreck,

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[212/0226] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. Auch die unhaltbaren Verhältniſſe an der Oſtgrenze mahnten zu raſcher That. Sobald Preußen, Polen und Rußland im März 1816 zu Warſchau wegen der Ausführung des Wiener Vertrags vom 3. Mai 1815 zu verhandeln begannen, ſtellte ſich bald heraus, daß Hardenberg in Wien von dem Fürſten Czartoryski überliſtet worden war. Die ſcheinbar ſo harm- loſen Beſtimmungen des Vertrags über die freie Durchfuhr und den freien Verkehr mit den Landeserzeugniſſen aller vormals polniſchen Landſchaften legten dem preußiſchen Staate faſt nur Pflichten auf, da ſein Gebiet das Durchfuhrland bildete. Um der Abrede buchſtäblich zu genügen hätte Preußen ſeine polniſchen Provinzen von dem übrigen Staatsgebiete durch eine Zolllinie trennen müſſen, während Rußland, dem Vertrage zuwider, ſeine alte Zollgrenze, die das polniſche Litthauen von Warſchau abſchied, unverändert ließ und auch Oeſterreich ſich keineswegs geneigt zeigte, ſeinen polniſchen Kronlanden handelspolitiſche Selbſtändigkeit zuzugeſtehen. Die polniſchen Unterhändler ſahen in dem Vertrage ein willkommenes Mittel, um durch die Anſiedlung von Handelsagenten und Commiſſionären ihre nationale Propaganda in Preußens polniſche Gebiete hineinzutragen. Sie erdreiſteten ſich der Krone Preußen geradezu die unbeſchränkte Souveränität über Danzig zu beſtreiten und ſtellten ſo übermüthige Forderungen, daß der König mit einer entſchiedenen Ablehnung antwortete, als Czar Alexan- der nach ſeiner Gewohnheit verſuchte die Anſprüche der Polen durch einen zärtlichen Freundesbrief zu unterſtützen. Der unerquickliche Verlauf dieſer Verhandlungen zwang zu dem Entſchluſſe, die polniſchen Landſchaften den übrigen Provinzen des Oſtens völlig gleichzuſtellen. Auf der anderen Seite lehrten die Frankfurter Erfahrungen, daß ein Bundeszollgeſetz ganz unmöglich war und Preußen mithin zunächſt im eigenen Hauſe Ordnung ſchaffen mußte. Im Jahre 1816 erfolgten die erſten vorbereitenden Schritte. Das Verbot der Geldausfuhr ward aufgehoben, das Salzregal in allen Pro- vinzen gleichmäßig eingeführt; dann ſprach die Verordnung vom 11. Juni die Aufhebung der Waſſer-, Binnen- und Provinzialzölle als Grundſatz aus und verhieß die Einführung eines allgemeinen und einfachen Grenz- zollſyſtems. Zu Anfang des folgenden Jahres war der Entwurf für das neue Zollgeſetz beendigt. Sobald aber von den reformatoriſchen Abſichten des Entwurfes Einiges ruchbar ward, erſcholl der Nothſchrei der geängſteten Producenten weithin durch das Land. Leidenſchaftliche Eingaben der Baum- woll- und Kattunfabrikanten aus Schleſien und Berlin, die doch alle- ſammt unter der beſtehenden Unordnung ſchwer litten, beſtätigten die alte Wahrheit, daß die Selbſtſucht der Menſchen der ſchlimmſte Feind ihres eigenen Intereſſes iſt. Der Lärm ward ſo bedrohlich, daß der König für nöthig hielt, zunächſt eine Specialcommiſſion mit der Prüfung dieſer Vor- ſtellungen zu beauftragen. Hier errang die alte fridericianiſche Schule noch einmal die Oberhand. Der Vorſitzende, Oberpräſident v. Heydebreck,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/226>, abgerufen am 22.11.2024.