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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
keinen Glauben schenken; sie suchten den Grund des Deficits allein in Bü-
lows Nachlässigkeit und stellten eine Gegenrechnung auf, welche einen Ueber-
schuß von reichlich 4 Mill. an ordentlichen und 2 Mill. an außerordentlichen
Einnahmen ergab. Bei einem Budget von etwa 50 Mill. wichen also die
Schätzungen der tüchtigsten Finanzmänner um volle 8 Mill. von einander
ab.*) Der in der Polemik immer maßlose Schön wollte sogar einen Ueber-
schuß von 21 Mill. nachweisen. Die Folge lehrte, daß Bülow, der nur
von Schuckmann unterstützt wurde, die Lage richtiger beurtheilt hatte als
seine zuversichtlichen Gegner. Aber er vermochte seine Behauptungen nicht
zu beweisen, und als nun der Referent der Commission, Staatsrath Friese,
den Staatshaushalt im Einzelnen mit eindringender Sachkenntniß prüfte,
da stellte sich in allen Zweigen der Finanzverwaltung eine arge Unordnung
heraus, die mit den Wirren der Kriegsjahre allein nicht mehr entschuldigt
werden konnte. Von Humboldt geführt nahm die gesammte Commission
wie ein Mann gegen den Finanzminister Partei und überhäufte ihn mit
Vorwürfen. Der wies die Anklagen in leidenschaftlicher Rede zurück, warf
alle Schuld auf die unerschwinglichen Kosten des neuen Heerwesens und
ließ in seinem Zorne auch einige scharfe Worte wider die verschwenderische
Sorglosigkeit seines Vetters fallen. Seltsame Verschiebung der Parteien!
Mit einem male sah sich Hardenberg von seinem Liebling Bülow ange-
griffen, von seinem Nebenbuhler Humboldt vertheidigt.

Der Kriegsminister nahm sofort den Handschuh auf. Er bemerkte
mit Besorgniß, daß jener geheime Kampf des Civilbeamtenthums gegen die
Armee, der in dem Jahrzehnt vor 1806 so viel Unheil angerichtet, jetzt da
die Waffen ruhten von Neuem zu entbrennen drohte; er wußte auch, daß
sich Bülow bereits bei dem General Lingelsheim ein Gutachten über die
Wiederherstellung der fridericianischen Heeresverfassung bestellt hatte. Um
solchen Bestrebungen einen Riegel vorzuschieben und den Staatsrath ein- für
allemal über die staatswirthschaftlichen Vorzüge des neuen Heerwesens
aufzuklären, verfaßte Boyen eine geistvolle Denkschrift "Darstellung der
Grundsätze der alten und der gegenwärtigen preußischen Kriegsverfassung"
(Mai 1817), die mit überzeugender Klarheit erwies, daß Preußen noch nie ein
so starkes und zugleich so wohlfeiles Heer besessen hatte. Der Staat war doch
allmählich ausgewachsen; mit jeder Vermehrung seines Gebiets verringerte
sich die krampfhafte Ueberspannung seiner physischen Kräfte. Das Heer
hatte unter Friedrich Wilhelm I. fünfmal, unter Friedrich dem Großen fast
dreimal mehr gekostet als die gesammte übrige Verwaltung; jetzt zum ersten
male nahm der Civildienst, allerdings mit Einschluß der kostspieligen Staats-
schuldenverwaltung, die größere Hälfte der Staatseinnahmen in Anspruch.
Boyen berechnete die Kosten des Heerwesens, etwas zu niedrig, auf 21 Mill.
und zeigte, daß der Staat jetzt 238000 Mann mehr ins Feld stellen könne

*) Schuckmanns Bericht an Hardenberg, 11. Juli 1817.

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
keinen Glauben ſchenken; ſie ſuchten den Grund des Deficits allein in Bü-
lows Nachläſſigkeit und ſtellten eine Gegenrechnung auf, welche einen Ueber-
ſchuß von reichlich 4 Mill. an ordentlichen und 2 Mill. an außerordentlichen
Einnahmen ergab. Bei einem Budget von etwa 50 Mill. wichen alſo die
Schätzungen der tüchtigſten Finanzmänner um volle 8 Mill. von einander
ab.*) Der in der Polemik immer maßloſe Schön wollte ſogar einen Ueber-
ſchuß von 21 Mill. nachweiſen. Die Folge lehrte, daß Bülow, der nur
von Schuckmann unterſtützt wurde, die Lage richtiger beurtheilt hatte als
ſeine zuverſichtlichen Gegner. Aber er vermochte ſeine Behauptungen nicht
zu beweiſen, und als nun der Referent der Commiſſion, Staatsrath Frieſe,
den Staatshaushalt im Einzelnen mit eindringender Sachkenntniß prüfte,
da ſtellte ſich in allen Zweigen der Finanzverwaltung eine arge Unordnung
heraus, die mit den Wirren der Kriegsjahre allein nicht mehr entſchuldigt
werden konnte. Von Humboldt geführt nahm die geſammte Commiſſion
wie ein Mann gegen den Finanzminiſter Partei und überhäufte ihn mit
Vorwürfen. Der wies die Anklagen in leidenſchaftlicher Rede zurück, warf
alle Schuld auf die unerſchwinglichen Koſten des neuen Heerweſens und
ließ in ſeinem Zorne auch einige ſcharfe Worte wider die verſchwenderiſche
Sorgloſigkeit ſeines Vetters fallen. Seltſame Verſchiebung der Parteien!
Mit einem male ſah ſich Hardenberg von ſeinem Liebling Bülow ange-
griffen, von ſeinem Nebenbuhler Humboldt vertheidigt.

Der Kriegsminiſter nahm ſofort den Handſchuh auf. Er bemerkte
mit Beſorgniß, daß jener geheime Kampf des Civilbeamtenthums gegen die
Armee, der in dem Jahrzehnt vor 1806 ſo viel Unheil angerichtet, jetzt da
die Waffen ruhten von Neuem zu entbrennen drohte; er wußte auch, daß
ſich Bülow bereits bei dem General Lingelsheim ein Gutachten über die
Wiederherſtellung der fridericianiſchen Heeresverfaſſung beſtellt hatte. Um
ſolchen Beſtrebungen einen Riegel vorzuſchieben und den Staatsrath ein- für
allemal über die ſtaatswirthſchaftlichen Vorzüge des neuen Heerweſens
aufzuklären, verfaßte Boyen eine geiſtvolle Denkſchrift „Darſtellung der
Grundſätze der alten und der gegenwärtigen preußiſchen Kriegsverfaſſung“
(Mai 1817), die mit überzeugender Klarheit erwies, daß Preußen noch nie ein
ſo ſtarkes und zugleich ſo wohlfeiles Heer beſeſſen hatte. Der Staat war doch
allmählich ausgewachſen; mit jeder Vermehrung ſeines Gebiets verringerte
ſich die krampfhafte Ueberſpannung ſeiner phyſiſchen Kräfte. Das Heer
hatte unter Friedrich Wilhelm I. fünfmal, unter Friedrich dem Großen faſt
dreimal mehr gekoſtet als die geſammte übrige Verwaltung; jetzt zum erſten
male nahm der Civildienſt, allerdings mit Einſchluß der koſtſpieligen Staats-
ſchuldenverwaltung, die größere Hälfte der Staatseinnahmen in Anſpruch.
Boyen berechnete die Koſten des Heerweſens, etwas zu niedrig, auf 21 Mill.
und zeigte, daß der Staat jetzt 238000 Mann mehr ins Feld ſtellen könne

*) Schuckmanns Bericht an Hardenberg, 11. Juli 1817.
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[204/0218] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. keinen Glauben ſchenken; ſie ſuchten den Grund des Deficits allein in Bü- lows Nachläſſigkeit und ſtellten eine Gegenrechnung auf, welche einen Ueber- ſchuß von reichlich 4 Mill. an ordentlichen und 2 Mill. an außerordentlichen Einnahmen ergab. Bei einem Budget von etwa 50 Mill. wichen alſo die Schätzungen der tüchtigſten Finanzmänner um volle 8 Mill. von einander ab. *) Der in der Polemik immer maßloſe Schön wollte ſogar einen Ueber- ſchuß von 21 Mill. nachweiſen. Die Folge lehrte, daß Bülow, der nur von Schuckmann unterſtützt wurde, die Lage richtiger beurtheilt hatte als ſeine zuverſichtlichen Gegner. Aber er vermochte ſeine Behauptungen nicht zu beweiſen, und als nun der Referent der Commiſſion, Staatsrath Frieſe, den Staatshaushalt im Einzelnen mit eindringender Sachkenntniß prüfte, da ſtellte ſich in allen Zweigen der Finanzverwaltung eine arge Unordnung heraus, die mit den Wirren der Kriegsjahre allein nicht mehr entſchuldigt werden konnte. Von Humboldt geführt nahm die geſammte Commiſſion wie ein Mann gegen den Finanzminiſter Partei und überhäufte ihn mit Vorwürfen. Der wies die Anklagen in leidenſchaftlicher Rede zurück, warf alle Schuld auf die unerſchwinglichen Koſten des neuen Heerweſens und ließ in ſeinem Zorne auch einige ſcharfe Worte wider die verſchwenderiſche Sorgloſigkeit ſeines Vetters fallen. Seltſame Verſchiebung der Parteien! Mit einem male ſah ſich Hardenberg von ſeinem Liebling Bülow ange- griffen, von ſeinem Nebenbuhler Humboldt vertheidigt. Der Kriegsminiſter nahm ſofort den Handſchuh auf. Er bemerkte mit Beſorgniß, daß jener geheime Kampf des Civilbeamtenthums gegen die Armee, der in dem Jahrzehnt vor 1806 ſo viel Unheil angerichtet, jetzt da die Waffen ruhten von Neuem zu entbrennen drohte; er wußte auch, daß ſich Bülow bereits bei dem General Lingelsheim ein Gutachten über die Wiederherſtellung der fridericianiſchen Heeresverfaſſung beſtellt hatte. Um ſolchen Beſtrebungen einen Riegel vorzuſchieben und den Staatsrath ein- für allemal über die ſtaatswirthſchaftlichen Vorzüge des neuen Heerweſens aufzuklären, verfaßte Boyen eine geiſtvolle Denkſchrift „Darſtellung der Grundſätze der alten und der gegenwärtigen preußiſchen Kriegsverfaſſung“ (Mai 1817), die mit überzeugender Klarheit erwies, daß Preußen noch nie ein ſo ſtarkes und zugleich ſo wohlfeiles Heer beſeſſen hatte. Der Staat war doch allmählich ausgewachſen; mit jeder Vermehrung ſeines Gebiets verringerte ſich die krampfhafte Ueberſpannung ſeiner phyſiſchen Kräfte. Das Heer hatte unter Friedrich Wilhelm I. fünfmal, unter Friedrich dem Großen faſt dreimal mehr gekoſtet als die geſammte übrige Verwaltung; jetzt zum erſten male nahm der Civildienſt, allerdings mit Einſchluß der koſtſpieligen Staats- ſchuldenverwaltung, die größere Hälfte der Staatseinnahmen in Anſpruch. Boyen berechnete die Koſten des Heerweſens, etwas zu niedrig, auf 21 Mill. und zeigte, daß der Staat jetzt 238000 Mann mehr ins Feld ſtellen könne *) Schuckmanns Bericht an Hardenberg, 11. Juli 1817.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/218>, abgerufen am 25.11.2024.