Dritter Abschnitt. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Nicht jede Zeit erkennt ihr eigenes Wesen. Namentlich in jenen müden Epochen, welche den Entscheidungsstunden des Völkerlebens zu folgen pfle- gen, täuschen sich die Muthigen und Hochherzigen oft vollständig über die treibenden Kräfte des Zeitalters. Vor dem Kriege hatte Niemand geahnt, wie viel Tapferkeit und Bürgersinn, wie viel Opfermuth und edle Leiden- schaft in dem Volke des deutschen Nordens schlummerte; jetzt, da alle diese verborgenen Tugenden sich so herrlich bewährt hatten, wollten die erregten Wortführer der Patrioten schlechterdings nicht glauben, daß die hohe Begeisterung der Befreiungskriege, nachdem ihr Ziel erreicht war, wieder verrauchen könnte. Die Bundesakte und der Friedensschluß -- wer hätte das bestritten? -- waren ja doch nur darum mißrathen, weil das Volk an den Verhandlungen der Diplomaten nicht theilnehmen durfte; um so gewisser mußte die Nation, sobald sie nur die verheißenen land- ständischen Verfassungen erhalten hatte, sich mit Eifer und Verständniß ihrer Angelegenheiten selbst bemächtigen und die irrenden Cabinette in die Bahnen nationaler Staatskunst zurückführen. In solchem Sinne schrieb Arndt beim Anbruch des ersten Friedensjahres: "noch in diesem Jahre 1816 soll zwischen den Herrschern und den Völkern das Band der Liebe und des Gehorsams unauflöslich gebunden werden." Er sah die Thore eines neuen Zeitalters weit geöffnet: wenn erst die schöne Neugeborene dieses Jahres, die verfassungsmäßige Freiheit, in alle deutschen Staaten einzieht, "dann jauchzen die Gefallenen, dann weinen die einsamen Bräute und Wittwen süßere Thränen!"
Der Hoffnungsvolle sollte nur zu bald erfahren, wie gründlich er Charakter und Gesinnung seines Volkes verkannt hatte. Die Nation stand erst auf der Schwelle einer langen, an Irrthum und Enttäuschung reichen politischen Lehrzeit; die öffentliche Meinung, welche Arndt als "die ge- waltigste Königin des Lebens" pries, zeigte für die Fragen des Verfassungs- wesens nur geringes Verständniß, kaum noch ernstliche Theilnahme. Den einsamen Wittwen und Bräuten, den heimgekehrten Kriegern, die jetzt
1*
Dritter Abſchnitt. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Nicht jede Zeit erkennt ihr eigenes Weſen. Namentlich in jenen müden Epochen, welche den Entſcheidungsſtunden des Völkerlebens zu folgen pfle- gen, täuſchen ſich die Muthigen und Hochherzigen oft vollſtändig über die treibenden Kräfte des Zeitalters. Vor dem Kriege hatte Niemand geahnt, wie viel Tapferkeit und Bürgerſinn, wie viel Opfermuth und edle Leiden- ſchaft in dem Volke des deutſchen Nordens ſchlummerte; jetzt, da alle dieſe verborgenen Tugenden ſich ſo herrlich bewährt hatten, wollten die erregten Wortführer der Patrioten ſchlechterdings nicht glauben, daß die hohe Begeiſterung der Befreiungskriege, nachdem ihr Ziel erreicht war, wieder verrauchen könnte. Die Bundesakte und der Friedensſchluß — wer hätte das beſtritten? — waren ja doch nur darum mißrathen, weil das Volk an den Verhandlungen der Diplomaten nicht theilnehmen durfte; um ſo gewiſſer mußte die Nation, ſobald ſie nur die verheißenen land- ſtändiſchen Verfaſſungen erhalten hatte, ſich mit Eifer und Verſtändniß ihrer Angelegenheiten ſelbſt bemächtigen und die irrenden Cabinette in die Bahnen nationaler Staatskunſt zurückführen. In ſolchem Sinne ſchrieb Arndt beim Anbruch des erſten Friedensjahres: „noch in dieſem Jahre 1816 ſoll zwiſchen den Herrſchern und den Völkern das Band der Liebe und des Gehorſams unauflöslich gebunden werden.“ Er ſah die Thore eines neuen Zeitalters weit geöffnet: wenn erſt die ſchöne Neugeborene dieſes Jahres, die verfaſſungsmäßige Freiheit, in alle deutſchen Staaten einzieht, „dann jauchzen die Gefallenen, dann weinen die einſamen Bräute und Wittwen ſüßere Thränen!“
Der Hoffnungsvolle ſollte nur zu bald erfahren, wie gründlich er Charakter und Geſinnung ſeines Volkes verkannt hatte. Die Nation ſtand erſt auf der Schwelle einer langen, an Irrthum und Enttäuſchung reichen politiſchen Lehrzeit; die öffentliche Meinung, welche Arndt als „die ge- waltigſte Königin des Lebens“ pries, zeigte für die Fragen des Verfaſſungs- weſens nur geringes Verſtändniß, kaum noch ernſtliche Theilnahme. Den einſamen Wittwen und Bräuten, den heimgekehrten Kriegern, die jetzt
1*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0017"n="[3]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Dritter Abſchnitt.<lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/> Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.</hi></head><lb/><p>Nicht jede Zeit erkennt ihr eigenes Weſen. Namentlich in jenen müden<lb/>
Epochen, welche den Entſcheidungsſtunden des Völkerlebens zu folgen pfle-<lb/>
gen, täuſchen ſich die Muthigen und Hochherzigen oft vollſtändig über die<lb/>
treibenden Kräfte des Zeitalters. Vor dem Kriege hatte Niemand geahnt,<lb/>
wie viel Tapferkeit und Bürgerſinn, wie viel Opfermuth und edle Leiden-<lb/>ſchaft in dem Volke des deutſchen Nordens ſchlummerte; jetzt, da alle<lb/>
dieſe verborgenen Tugenden ſich ſo herrlich bewährt hatten, wollten die<lb/>
erregten Wortführer der Patrioten ſchlechterdings nicht glauben, daß die<lb/>
hohe Begeiſterung der Befreiungskriege, nachdem ihr Ziel erreicht war,<lb/>
wieder verrauchen könnte. Die Bundesakte und der Friedensſchluß — wer<lb/>
hätte das beſtritten? — waren ja doch nur darum mißrathen, weil das<lb/>
Volk an den Verhandlungen der Diplomaten nicht theilnehmen durfte;<lb/>
um ſo gewiſſer mußte die Nation, ſobald ſie nur die verheißenen land-<lb/>ſtändiſchen Verfaſſungen erhalten hatte, ſich mit Eifer und Verſtändniß<lb/>
ihrer Angelegenheiten ſelbſt bemächtigen und die irrenden Cabinette in die<lb/>
Bahnen nationaler Staatskunſt zurückführen. In ſolchem Sinne ſchrieb<lb/>
Arndt beim Anbruch des erſten Friedensjahres: „noch in dieſem Jahre<lb/>
1816 ſoll zwiſchen den Herrſchern und den Völkern das Band der Liebe<lb/>
und des Gehorſams unauflöslich gebunden werden.“ Er ſah die Thore<lb/>
eines neuen Zeitalters weit geöffnet: wenn erſt die ſchöne Neugeborene<lb/>
dieſes Jahres, die verfaſſungsmäßige Freiheit, in alle deutſchen Staaten<lb/>
einzieht, „dann jauchzen die Gefallenen, dann weinen die einſamen Bräute<lb/>
und Wittwen ſüßere Thränen!“</p><lb/><p>Der Hoffnungsvolle ſollte nur zu bald erfahren, wie gründlich er<lb/>
Charakter und Geſinnung ſeines Volkes verkannt hatte. Die Nation ſtand<lb/>
erſt auf der Schwelle einer langen, an Irrthum und Enttäuſchung reichen<lb/>
politiſchen Lehrzeit; die öffentliche Meinung, welche Arndt als „die ge-<lb/>
waltigſte Königin des Lebens“ pries, zeigte für die Fragen des Verfaſſungs-<lb/>
weſens nur geringes Verſtändniß, kaum noch ernſtliche Theilnahme. Den<lb/>
einſamen Wittwen und Bräuten, den heimgekehrten Kriegern, die jetzt<lb/><fwplace="bottom"type="sig">1*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[3]/0017]
Dritter Abſchnitt.
Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Nicht jede Zeit erkennt ihr eigenes Weſen. Namentlich in jenen müden
Epochen, welche den Entſcheidungsſtunden des Völkerlebens zu folgen pfle-
gen, täuſchen ſich die Muthigen und Hochherzigen oft vollſtändig über die
treibenden Kräfte des Zeitalters. Vor dem Kriege hatte Niemand geahnt,
wie viel Tapferkeit und Bürgerſinn, wie viel Opfermuth und edle Leiden-
ſchaft in dem Volke des deutſchen Nordens ſchlummerte; jetzt, da alle
dieſe verborgenen Tugenden ſich ſo herrlich bewährt hatten, wollten die
erregten Wortführer der Patrioten ſchlechterdings nicht glauben, daß die
hohe Begeiſterung der Befreiungskriege, nachdem ihr Ziel erreicht war,
wieder verrauchen könnte. Die Bundesakte und der Friedensſchluß — wer
hätte das beſtritten? — waren ja doch nur darum mißrathen, weil das
Volk an den Verhandlungen der Diplomaten nicht theilnehmen durfte;
um ſo gewiſſer mußte die Nation, ſobald ſie nur die verheißenen land-
ſtändiſchen Verfaſſungen erhalten hatte, ſich mit Eifer und Verſtändniß
ihrer Angelegenheiten ſelbſt bemächtigen und die irrenden Cabinette in die
Bahnen nationaler Staatskunſt zurückführen. In ſolchem Sinne ſchrieb
Arndt beim Anbruch des erſten Friedensjahres: „noch in dieſem Jahre
1816 ſoll zwiſchen den Herrſchern und den Völkern das Band der Liebe
und des Gehorſams unauflöslich gebunden werden.“ Er ſah die Thore
eines neuen Zeitalters weit geöffnet: wenn erſt die ſchöne Neugeborene
dieſes Jahres, die verfaſſungsmäßige Freiheit, in alle deutſchen Staaten
einzieht, „dann jauchzen die Gefallenen, dann weinen die einſamen Bräute
und Wittwen ſüßere Thränen!“
Der Hoffnungsvolle ſollte nur zu bald erfahren, wie gründlich er
Charakter und Geſinnung ſeines Volkes verkannt hatte. Die Nation ſtand
erſt auf der Schwelle einer langen, an Irrthum und Enttäuſchung reichen
politiſchen Lehrzeit; die öffentliche Meinung, welche Arndt als „die ge-
waltigſte Königin des Lebens“ pries, zeigte für die Fragen des Verfaſſungs-
weſens nur geringes Verſtändniß, kaum noch ernſtliche Theilnahme. Den
einſamen Wittwen und Bräuten, den heimgekehrten Kriegern, die jetzt
1*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/17>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.