Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 4. Die Eröffnung des Deutschen Bundestages. entwarf nun ein bezauberndes Bild von der großen Zukunft des DeutschenBundes, das freilich in der verstimmten Nation nur noch wenige Gläu- bige fand. Soeben erst war ein Menschenalter voll Blut und Gräueln über die Welt dahin gegangen, weil Deutschland in seiner Zersplitterung sich nicht vertheidigen konnte. Und Angesichts solcher Erfahrungen erklärte Heeren wieder, fast mit den nämlichen Worten wie einst Johannes Müller zur Zeit des Fürstenbundes: die Freiheit Europas beruhe auf der lockeren Ordnung Deutschlands, denn welche fremde Macht könnte sich ihres Be- sitzes ruhig freuen, wenn Deutschland zu einer großen Monarchie ver- einigt wäre? Auch die Buntheit unserer inneren Zustände fand er sehr heilsam; wenn der Deutsche auch "Proben" einer anderen Staatsordnung stets vor Augen habe, so bleibe er vor einseitiger Beschränktheit bewahrt. Diese reichhaltige, für die Professoren des Staatsrechts allerdings unschätz- bare, politische Naturaliensammlung mußte aber -- dies schien dem Göt- tinger gar keines Beweises zu bedürfen -- von allen großen Mächten als die gebietende Centralmacht des Welttheils, als "der Friedensstaat von Europa" anerkannt werden; noch eine kurze Frist, und Frankfurt ward, wie einst der Haag, "der Mittelpunkt des Staatensystems", der Bundes- tag erweiterte sich zu einem europäischen Senate! In der That hatte sich schon jetzt an den großen Höfen eine be- Um so üppiger blühte die Mythenbildung, und sie richtete unaus- II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages. entwarf nun ein bezauberndes Bild von der großen Zukunft des DeutſchenBundes, das freilich in der verſtimmten Nation nur noch wenige Gläu- bige fand. Soeben erſt war ein Menſchenalter voll Blut und Gräueln über die Welt dahin gegangen, weil Deutſchland in ſeiner Zerſplitterung ſich nicht vertheidigen konnte. Und Angeſichts ſolcher Erfahrungen erklärte Heeren wieder, faſt mit den nämlichen Worten wie einſt Johannes Müller zur Zeit des Fürſtenbundes: die Freiheit Europas beruhe auf der lockeren Ordnung Deutſchlands, denn welche fremde Macht könnte ſich ihres Be- ſitzes ruhig freuen, wenn Deutſchland zu einer großen Monarchie ver- einigt wäre? Auch die Buntheit unſerer inneren Zuſtände fand er ſehr heilſam; wenn der Deutſche auch „Proben“ einer anderen Staatsordnung ſtets vor Augen habe, ſo bleibe er vor einſeitiger Beſchränktheit bewahrt. Dieſe reichhaltige, für die Profeſſoren des Staatsrechts allerdings unſchätz- bare, politiſche Naturalienſammlung mußte aber — dies ſchien dem Göt- tinger gar keines Beweiſes zu bedürfen — von allen großen Mächten als die gebietende Centralmacht des Welttheils, als „der Friedensſtaat von Europa“ anerkannt werden; noch eine kurze Friſt, und Frankfurt ward, wie einſt der Haag, „der Mittelpunkt des Staatenſyſtems“, der Bundes- tag erweiterte ſich zu einem europäiſchen Senate! In der That hatte ſich ſchon jetzt an den großen Höfen eine be- Um ſo üppiger blühte die Mythenbildung, und ſie richtete unaus- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0156" n="142"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.</fw><lb/> entwarf nun ein bezauberndes Bild von der großen Zukunft des Deutſchen<lb/> Bundes, das freilich in der verſtimmten Nation nur noch wenige Gläu-<lb/> bige fand. 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Von den Geheimniſſen der großen Höfe er-<lb/> fuhren die Kleinen freilich ſo wenig, daß ihnen ſelbſt der wirkliche Sach-<lb/> verhalt der unglücklichen Unternehmung Hänleins immer verborgen blieb.</p><lb/> <p>Um ſo üppiger blühte die Mythenbildung, und ſie richtete unaus-<lb/> bleiblich ihre Spitze gegen den Staat, der mit ſeinem Volksheere und ſeinem<lb/> leuchtenden kriegeriſchen Ruhme Allen als der geborene Todfeind der neu<lb/> hergeſtellten Regensburger Herrlichkeit erſchien. Zudem verſtand Humboldt<lb/> unter allen den Geſandten der vier Mächte am Wenigſten, die Eitelkeit<lb/> der kleinen Diplomaten zu ſchonen; nur zu oft ließ er ſie ſeine Ueber-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [142/0156]
II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
entwarf nun ein bezauberndes Bild von der großen Zukunft des Deutſchen
Bundes, das freilich in der verſtimmten Nation nur noch wenige Gläu-
bige fand. Soeben erſt war ein Menſchenalter voll Blut und Gräueln
über die Welt dahin gegangen, weil Deutſchland in ſeiner Zerſplitterung
ſich nicht vertheidigen konnte. Und Angeſichts ſolcher Erfahrungen erklärte
Heeren wieder, faſt mit den nämlichen Worten wie einſt Johannes Müller
zur Zeit des Fürſtenbundes: die Freiheit Europas beruhe auf der lockeren
Ordnung Deutſchlands, denn welche fremde Macht könnte ſich ihres Be-
ſitzes ruhig freuen, wenn Deutſchland zu einer großen Monarchie ver-
einigt wäre? Auch die Buntheit unſerer inneren Zuſtände fand er ſehr
heilſam; wenn der Deutſche auch „Proben“ einer anderen Staatsordnung
ſtets vor Augen habe, ſo bleibe er vor einſeitiger Beſchränktheit bewahrt.
Dieſe reichhaltige, für die Profeſſoren des Staatsrechts allerdings unſchätz-
bare, politiſche Naturalienſammlung mußte aber — dies ſchien dem Göt-
tinger gar keines Beweiſes zu bedürfen — von allen großen Mächten als
die gebietende Centralmacht des Welttheils, als „der Friedensſtaat von
Europa“ anerkannt werden; noch eine kurze Friſt, und Frankfurt ward,
wie einſt der Haag, „der Mittelpunkt des Staatenſyſtems“, der Bundes-
tag erweiterte ſich zu einem europäiſchen Senate!
In der That hatte ſich ſchon jetzt an den großen Höfen eine be-
ſtimmte Meinung über die Frankfurter Verſammlung ausgebildet; nur
lautete ſie minder ſchmeichelhaft als Heeren wähnte. Der Bundestag galt
bereits, wie ſeitdem immer bis zu ſeiner Auflöſung, als die große Börſe für
den ſubalternen diplomatiſchen Klatſch Europas. Seit vielen Monaten trieb
ſich dieſer Schwarm von kleinen Diplomaten beſchäftigungslos in Frankfurt
umher. Was blieb den Armen zu thun als kleine Kabalen zu ſchmieden,
Geſchichten umherzutragen und die Bevollmächtigten des Vierbundes, die
in der großen Territorialcommiſſion beſchäftigt waren, Weſſenberg, Hum-
boldt, Clancarty und Anſtett, wetteifernd auszuhorchen? Wer in dieſem ge-
ſchäftigen Müßiggange obenauf bleiben wollte, mußte ſich durch pikante
Neuigkeiten oder durch ausgeſuchte Tafelgenüſſe unentbehrlich machen; wie
oft hat der Bremer Senat dem getreuen Smidt eine Spende aus ſeinem
weltberühmten Rathskeller geſendet, damit Graf Buol die Schildkröten,
die Neunaugen und die anderen Herrlichkeiten des hanſeatiſchen Tiſches
um ſo ſchmackhafter fände. Von den Geheimniſſen der großen Höfe er-
fuhren die Kleinen freilich ſo wenig, daß ihnen ſelbſt der wirkliche Sach-
verhalt der unglücklichen Unternehmung Hänleins immer verborgen blieb.
Um ſo üppiger blühte die Mythenbildung, und ſie richtete unaus-
bleiblich ihre Spitze gegen den Staat, der mit ſeinem Volksheere und ſeinem
leuchtenden kriegeriſchen Ruhme Allen als der geborene Todfeind der neu
hergeſtellten Regensburger Herrlichkeit erſchien. Zudem verſtand Humboldt
unter allen den Geſandten der vier Mächte am Wenigſten, die Eitelkeit
der kleinen Diplomaten zu ſchonen; nur zu oft ließ er ſie ſeine Ueber-
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